Gibt es einen Gegensatz zwischen historischer Wahrheit und neutestamentlichem Kerygma?

Jesus von Nazareth und das christliche Kerygma des Neuen Testaments in der Theologie Rudolf Bultmanns


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Vorwort

2 Einleitung

3 Historische Wahrheit und neutestamentliches Kerygma
3.1 Historischer Jesus und Christus-Kerygma
Kritische Auseinandersetzung
3.2 Die Frage der historischen Kontinuität
Kritische Auseinandersetzung
3.3 Über das „Daß“ hinaus – das sachliche Verhältnis von historischem Jesus und dem Christus-Kerygma
Kritische Auseinandersetzung
3.4 Verkündiger oder Verkündigter – die innere Notwendigkeit des christlichen Kerygmas
Kritische Auseinandersetzung

4 Schlussfolgerung

5 Chancen und Defizite von Bultmanns Ansatz

6 Literaturverzeichnis

1 Vorwort

Das Thema, das dieser Seminararbeit zugrunde liegt (Gibt es einen Gegensatz zwischen historischer Wahrheit und neutestamentlichem Kerygma?) behandelt ein zentrales Problem der neutestamentlichen Forschung vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich hier um die Frage des Verhältnisses von historischem Jesus und der Christusverkündigung (Kerygma) der ersten Christen (Urgemeinde). In dieser Arbeit soll die Antwort Rudolf Karl Bultmanns, die der bekannte Marburger Neutestamentler in seiner 1960 in Heidelberg erschienenen Schrift Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus auf die oben genannte Frage gegeben hat, mit kritischem Blick untersucht und auf ihr zugrunde liegende Ursachen und Einflüsse befragt werden.

Ich halte es in diesem Sinne für angemessen, nach der Wiedergabe der einzelnen Kerngedanken Rudolf Bultmanns, die sich zum Teil aus der Gliederung der oben genannten Schrift ergeben, jeweils eine kritische Reflektion anzufügen. Dies soll eine tiefgehendere Untersuchung der verschiedenen Gedanken Bultmanns ermöglichen. Am Schluss wird zu fragen sein, wie die thematisch leitende Frage in der Theologie Bultmanns beantwortet werden muss, und was dies für die heutige Zeit zu bedeuten hat. Dazu werden in einem Ausblick einige Chancen und Defizite des bultmannschen Ansatzes genannt werden.

2 Einleitung

Seit dem 18. Jahrhundert haben sich immer wieder Theologen an die Idee, eine Darstellung des Lebens Jesu zu schreiben, gemacht. Ihren Höhepunkt erreichte diese sogenannte Leben-Jesu-Forschung im weit verbreiteten Vernunftoptimismus des 19. Jahrhunderts. Diese Hochphase aufklärerischen Denkens, die bis zur Zeit der zwei großen Weltkriege anhielt, wurde in der Theologie vor allem geprägt durch eine kritisch rationale Forschungsmethodik, die historisch-kritische Exegese und einer starken Beachtung der Religionsgeschichte Israels und der umliegenden Völker und Religionen. Ein Kind dieser liberalen Theologie ist auch der1884 geborene Rudolf Karl Bultmann, der vor allem in Marburg mit der liberalen Theologie des dortigen Systematikers Wilhelm Hermann in Berührung kam. Von ihm lernte er die historisch-kritische Methodik, die er Zeit seines Lebens praktizierte, und wurde in die Gedankenwelt der religionswissenschaftlichen Schule sowie die Theologie Schleiermachers eingeführt.

Schon früh wurde er auf eine Diskrepanz zwischen historischem Jesus und dem Christus des Glaubens aufmerksam, da auch die Leben-Jesu-Forschung eine Differenzierung zwischen diesen beiden vornahm. Allerdings legten Theologen dieser liberalen Ideen den Schwerpunkt auf den historisch greifbaren Jesus (wie sie meinten). Man glaubte, dass nur historisch zutreffende und nachweisbare Fakten als Grundlage des Glaubens in Frage kommen dürften und daher die eigentliche historische Person Jesu aus den Ausschmückungen und Interpretationen der frühen Christen, wie sie uns im Johannesevangelium und bei Paulus zum Teil aber auch in den synoptischen Evangelien begegnen, herausgelöst werden müsste. Unter liberalen Theologen herrschte die Meinung, dass das Kerygma (die urchristliche Verkündigung des leidenden und gekreuzigten Christus) den eigentlichen, historischen Jesus verdecke und man diesen wieder freilegen müsse, um zu einem vernünftigen Glauben gelangen zu können.

Aber gerade diese Versuche der liberalen Theologie, ein bzw. „das“ Leben Jesu herauszuarbeiten und zu schreiben, schlugen immer wieder fehl, da sich die Leben-Jesu-Berichte, die verschiedene Theologen aus den synoptischen Evangelien herauszukristallisieren versucht hatten, doch erheblich voneinander unterschieden. Albert Schweitzer, der als der führende Vertreter der Leben-Jesu-Forschung angesehen werden kann, brachte es so auf den Punkt: „Diejenigen, welche gerne von negativer Theologie reden, haben es im Hinblick auf den Ertrag der Leben-Jesu-Forschung nicht schwer. Er ist negativ.“[1]

Obwohl die Euphorie dieser liberalen Forschung schon vor dem ersten Weltkrieg ins straucheln geriet, wurde dem ihr zugrunde liegenden Verstandesoptimismus mit der Tragik des Krieges ein entscheidender Schlag versetzt. Das alleinige Vertrauen in den menschlichen Verstand war gebrochen und der Glaube an einen Gott, der die Christen und mit ihr die gesamte Gesellschaft im Laufe der Geschichte langsam immer mehr dem göttlichen Ideal entgegenwachsen lässt, war schwer getroffen worden. Mit der Katastrophe des zweiten Weltkriegs war schließlich das gesamte Vertrauen in die menschliche Vernunft zerstört. Gott war scheinbar in weite Ferne gerückt, wenn man überhaupt noch an der Existenz Gottes festhalten wollte.

In dieser tiefen Krise der Theologie besannen sich einige Theologen wieder auf einen Gott, der gerade nicht durch die eigene Ratio sondern allein durch den Glauben erkannt werden könne. Dieser Glaube entstehe nicht durch historisch nachweisbare Fakten, sondern allein durch die Selbstoffenbarung Gottes[2]. Die sogenannte Dialektische Theologie sprach dem Menschen jegliche Möglichkeit ab, von sich aus Gott zu erkennen. Dies geschehe nur, wenn Gott sich dem Menschen offenbare. Vertreter dieser, wieder stark auf die Bibel und die kirchliche Verkündigung gegründeten Theologie waren neben anderen vor allem Friedrich Gogarten, Karl Barth und nicht zuletzt auch Rudolf Bultmann. Diese Theologen versuchten nun sich gegen die gescheiterten Ideale der liberalen Theologie abzugrenzen und ihr eine neue Theologie des Glaubens und des Wortes entgegenzustellen.

Hier knüpft nun auch die Schrift Rudolf Bultmanns an: Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus. Damit greift Bultmann die Ziele und Ideale der liberalen Leben-Jesu-Forschung auf, und stellt ihr seine eigene Interpretation des uns in der Bibel begegnenden, christologisch gezeichneten Jesus von Nazareth und der damit verbundenen urchristlichen Christusverkündigung entgegen. Hierbei wird ein theologischer Schwerpunkt in Bultmanns neutestamentlicher Forschung in der Nachkriegszeit deutlich, der vor allem in seinem Studium des Johannesevangeliums und der Paulusbriefe zu Tage tritt.[3]

3 Historische Wahrheit und neutestamentliches Kerygma

3.1 Historischer Jesus und Christus-Kerygma

Das Interesse der Leben-Jesu-Forschung war es, wie schon angedeutet wurde, „das Bild des historischen Jesus freizulegen von der Übermalung, durch die es in der urchristlichen Botschaft, im ‚Kerygma’, verdeckt worden war.“[4] Bultmann charakterisiert diese „Differenz zwischen Jesus und dem Kerygma“[5] in der neutestamentlichen Forschung der liberalen Theologie in folgenden drei Punkten:

(1) Die mythische Gestalt des Gottessohnes, sei im Kerygma an die Stelle der historischen Person Jesus getreten, „so wie die synoptischen Evangelien sie für den kritischen Blick erkennen lassen“[6].
(2) Die Botschaft, die Jesus selbst zu seiner Zeit den Menschen gepredigt hat, sei eine eschatologische Verkündigung von der hereinbrechenden Königsherrschaft Gottes gewesen. Das neutestamentliche Kerygma hingegen verkündige Jesus selbst als den, „der stellvertretend für die Sünden der Menschen am Kreuz [gestorben] und von Gott wunderbar zu unserem Heil [erweckt]“[7] wurde. Der Verkündiger wird so im Kerygma zum Verkündigten, mit anderen Worten: der Prediger der eschatologischen Botschaft wird selbst zum eschatologischen (letztgültigen) Heil für die Menschen.
(3) Die Verkündigung des historischen Jesus sei ein Aufruf zum radikalen Gehorsam vor Gott gewesen. Dieses Sich-unter-den-Willen-Gottes-Stellen gipfelte im Liebesgebot[8] von Mk 12,30f[9]. In der frühchristlichen Zeit wurde der ethische Schwerpunkt dagegen inhaltlich verschoben. Obwohl im Christus-Kerygma auf die ethische Predigt nicht verzichtet wurde, wurde sie dennoch anders begründet. Paulus führt nun das Liebesgebot nicht mehr so sehr auf den Willen Gottes zurück sondern viel stärker auf die Einheit der Gemeinde als Leib Christi[10]. Ein Anzeichen für die inhaltliche Akzentverschiebung in der Verkündigung der frühchristlichen Zeit gegenüber der Predigt Jesu sei auch, dass in den ersten christlichen Symbola eine Paränese oft gar nicht enthalten sei. „[In] den urchristlichen Lehr- und Mahnschriften nimmt die ethische Paränese die zweite Stelle ein.“[11]

Mit diesen drei charakterisierenden Punkten stellt Bultmann zunächst die Prämissen der liberalen Theologie für die Leben-Jesu-Forschung vor, um sich dann im Folgenden eben mit dieser Problematik des historischen Jesus und des Christus des Kerygmas auseinander zusetzen. Hierbei wird deutlich werden, dass Bultmann als Kind der liberalen Theologie zwar an der Differenzierung zwischen Jesus und dem Christus des Kerygmas festhält, letztendlich als nunmehr dialektisch denkender Theologe aber zu völlig anderen Ergebnissen kommt als jene. Im weiteren Verlauf versucht Bultmann die Frage zu beantworten, inwieweit der historische Jesus und das Christus-Kerygma in Kontinuität miteinander stehen und welche sachlichen Parallelen und Differenzen beide kennzeichnet.

Kritische Auseinandersetzung

Dieser erste Schritt, den Bultmann in seiner Schrift Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus geht, ist noch ganz geprägt von der Fragestellung der liberalen Theologie nach dem historischen Jesus.

In Punkt (1) stellt Bultmann in einer gewissen Polemik das Ansinnen der Leben-Jesu-Forschung heraus, den historischen Jesus von seiner mythologischen Umklammerung zu befreien. Es ist nämlich gerade dieser „[kritische] Blick“[12], der immer wieder versucht, die Person Jesus aus den Evangelien herauszulösen, daran aber stets kläglich scheitert. Dieser vermeintlich objektive Maßstab, den die historisch-kritische Forschung an biblische (in diesem Kontext vor allem synoptische) Texte anlegt, wird immer mit beeinflusst von der Subjektivität des biblischen Autors und des Exegeten. Gerade weil für Bultmann die biblischen Texte (und hier meinte er vor allem das Johannesevangelium und die Paulusbriefe, aber letztendlich auch die synoptischen Evangelien und eigentlich die gesamte Bibel) keine historischen Tatsachenberichte sondern stets zum Glauben rufende Verkündigung sein wollen, ist der historisch-kritische Umgang mit biblischen Texten seiner Meinung nach ein letztlich unzureichendes Mittel für die Exegese. Wenn man nun bedenkt, dass Bultmann selbst aber Zeit seines Lebens an der Methode der historisch-kritischen Exegese festgehalten hat, so wird hier deutlich, dass es für ihn keinen anderen Weg gab, Gottes Handeln in der Geschichte zu verstehen. Für Bultmann stellte sich dabei nie die Frage nach dem Wie? biblisch historischer Ereignisse, sondern er ist stets nur an dem Was? und an der Frage interessiert, wie das Ereignis den einzelnen Menschen in damaliger Zeit (dazu zählt zu aller erst auch der Autor des biblischen Buches) in seiner Existenz getroffen und bewegt hat, um im zweiten Schritt dem heutigen Menschen eine existenzielle Begegnung mit Christus selbst und dem Evangelium zu ermöglichen. Bultmann will also die objektivierende historisch-kritische Interpretation der Geschichte in keiner Weise aufgeben oder ersetzen, sondern er will sie ergänzen und weiterführen „durch eine Interpretation der Geschichte, die auf der geschichtlichen d.h. der existentiellen Begegnung mit der Geschichte beruht.“[13]

[...]


[1] Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 61951, 631.

[2] Diese Selbstoffenbarung Gottes verortete man hauptsächlich in die Predigt, gemäß Röm 10,17: „ Also ist der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch das Wort Christi.“ (Übersetzung: rev. Elberfelder 1993)

[3] Vgl. hierzu verschiedene Aufsätze in: Rudolf Bultmann: Glaube und Verstehen, Bd. 1-4. oder auch: R. Bultmann: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1948-53 (81980). und nicht zuletzt sein Kommentar: Das Evangelium des Johannes, Göttingen 211986.

[4] Rudolf Bultmann: Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, Heidelberg 41965, 5.

[5] Bultmann: Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft…, 5.

[6] A. a. O. 6.

[7] Ebd.

[8] Vgl. R. Bultmann: Jesus, Tübingen 1926 (1964), 106-107.

[9] „und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andre ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese“. Mk 12,30+31 Übersetzung: rev. Lutherbibel 1984)

[10] vgl. Eph 4, 12-16

[11] Bultmann: Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft…, 7.

[12] Bultmann: Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft…, 6.

[13] A. a. O. 18.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Gibt es einen Gegensatz zwischen historischer Wahrheit und neutestamentlichem Kerygma?
Untertitel
Jesus von Nazareth und das christliche Kerygma des Neuen Testaments in der Theologie Rudolf Bultmanns
Hochschule
Theologische Hochschule Friedensau  (Theologie)
Veranstaltung
Biblische Hermeneutik Neues Testament
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
23
Katalognummer
V149210
ISBN (eBook)
9783640596690
ISBN (Buch)
9783640596751
Dateigröße
492 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rudolf Bultmann, Kerygma, Wahrheit, historische Wahrheit, christliches Kerygma, Theologie, Jesus, Gegensatz
Arbeit zitieren
Matthias Scheel (Autor:in), 2005, Gibt es einen Gegensatz zwischen historischer Wahrheit und neutestamentlichem Kerygma?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149210

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