Der Mensch als Marionette der Zeit? - 'Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten'. Der Zeitbegriff bei Niklas Luhmann


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

36 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Der Aufsatztitel

2. Phänomene des Alltags – Die Ausgangssituation der Analyse
2.1. Der Alltag des Einzelnen
2.2. Die Ausgangssituation der Wissenschaft

3. Der Ursprung des Daseins – Erleben in drei getrennten Dimensionen
3.1. Grundannahmen und Grundnormen
3.2. Steigerung in den Naturwissenschaften

4. Die Zeitknappheit in der Alltagswelt
4.1. Herkunft und Merkmale der Zeitknappheit
4.2. Folgen der Zeitknappheit
4.3. Muss Zeit knapp sein? – Lösungsansätze

5. Primat der zeitliche Dimension
5.1. Zeitdruck durch Termine
5.2. Zeitdruck durch Fristen

6. Klassischer Ansatz zur Überwindung der Komplexität
6.1. Funktionale Differenzierung
6.2. Zeitdruck entspannen durch Zeiteinsparung

7. Realitätsnaher Ansatz zur Überwindung der Komplexität

8. Konsequenzen aus dem Primat der zeitlichen Dimension
8.1. Auswirkungen auf die Struktur: Regeln und Gesetze
8.2. Auswirkungen auf die Struktur: Kooperationsbedarf
8.3. Auswirkungen auf die Struktur: Variabilität von Werten
8.4. Auswirkungen auf die Struktur: Tempo verstärkt Opportunismus

9. Gegenstrategien: Zeitdruck abbauen
9.1. Statusdifferenzierung
9.2. Bürokratische Taktiken
9.3. Institutionalisierung von Hemmschwellen

10. Kritische Diagnose als Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Schauena wir einmal in der Geschichte der Wissenschaft und Technik um ein paar Jahrhunderte zurück. Als im alten China und vor etwa 600 Jahren in Europa von Johannes Gutenberg der Buchdruck erfunden wurde, dachte noch niemand daran, dass einmal jemand eine Arbeit über ein Thema schreiben könnte, dass sich mit dem Begriff Zeit auseinandersetzt. Und als die Engländer die ersten funktionierenden Dampfmaschinen bauten, aus denen sich die ersten Dampf betriebenen Eisenbahnen entwickelten, jubelte jeder über die große Arbeitserleichterung und Zeitersparnis, die die plötzliche Mobilität mit sich brachte. Auch als der erste Benzin betriebene Motor in deutschen Landen auf den Markt kam, leisteten sich zwar nur einige Reiche ein Auto, aber die Tendenz zur Zeit sparenden lukrativen Erfindung war da. So kam es, dass die Menschen auch in der Wissenschaft bis in die heutige Zeit weniger mit Gravitationsphänomenen und territorial-geographischer Forschung zu tun haben wollten, sondern sich nun mit der Psyche von Mäusen und der Gentomate beschäftigen wollen und auch müssen. Doch demnächst warten schon die nächsten Phänomene, die die Bildzeitung enthüllen konnte. Gibt es Liebende auf der Venus? Können Menschen mit Fröschen reden? Und werden Talkshows im Mittagsprogramm mal intellektuell?

Diese Themen sind nahezu überflüssig. Dagegen ist die „Zeit“ in heutigen Dimensionen ein Ernst zu nehmendes Themengebiet, weil an ihm klar wird, dass das, was früher noch als erleichternder Fortschritt bezeichnet wurde, in der konkreten Gegenwart eine besondere Belastung für das Miteinander geworden ist. Gerade auch deshalb, weil die Zeitersparnis von damals als „angenehme Abwechslung“ heute eine notwendige Selbstverständlichkeit geworden ist. Der zu beobachtende Prozess, dass immer mehr teilweise nutzlose Dinge in immer kürzerer Verfügungszeit erledigt werden oder erledigt werden müssen, ist riskant. Es besteht die Gefahr, dass der Mensch seinen freien Willen verliert und eine Art Marionette wird unter dem Zwang der Zeit im Verhältnis zur Handlungssituation und zu den Handlungsbeteiligten.

Ob der Mensch wirklich diese Marionette ist, soll die Analyse des Textes von Niklas Luhmann zeigen. Dabei möchte ich der Chronologie des Textes folgen, ihn in seine Einzelteile zerlegt bearbeiten und erklärend wiedergeben. Den Anfang macht eine Situationsbestimmung. Dann sollen die theoretischen Ansätze Luhmanns dargelegt werden. Im Anschluss setze ich mich kritisch mit dem Text auseinander, sofern mir Kritikpunkte auffallen werden.

1.1. Der Aufsatztitel

„Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten“ heißt der Aufsatz von Niklas Luhmann. Dieser Titel sollte vor der direkten Textanalyse selbst einmal ins Rampenlicht gerückt werden. Denn um was geht es in diesem Aufsatz, betrachtet man einmal nur den Titel? Es geht zum einen um die Knappheit der Zeit. Sicherlich ist diese Feststellung im ersten Moment gar nicht so auffallend und dramatisch. Doch rückt man sich den Umstand, dass ein Tag 24 Stunden hat, eine Stunde aus 60 Minuten, eine Minute aus 60 Sekunden besteht, vor Augen, so kommt sicher bald die Frage auf, was an 604.800 Sekunden in der Woche so knapp sein soll. Betrachtet man die Zeit allerdings nicht quantitativ sondern qualitativ in Verbindung mit dem, was der Einzelne jede Woche zu leisten hat bzw. leisten will, so können sieben mal 24 Stunden rasch zu Ende sein. In einer komplexen Welt mit zahlreichen Handlungsalternativen bei jedem möglichen Entscheidungsprozess geht es um mehr als nur ein rasches Verstreichen der Zeit. Dieses „mehr“ geht Luhmann in seinem Aufsatz an.

Zum anderen handelt der Aufsatz von der Vordringlichkeit des Befristeten. Diese Zusammenstellung von Begriffen lässt den Eindruck erscheinen, dass von den 604.800 Sekunden pro Woche manche mehr wert sein könnten als andere bzw., dass manche Handlungsentscheidungen in einer dieser Sekunden mehr wert sind als andere zu einem anderen Zeitpunkt. Dies hört sich kompliziert an, meint aber ganz einfach, dass es innerhalb dieser verfügbaren Zeit zu einer qualitativen Staffelung der Handlungsalternativen kommt. Diese Staffelung scheint durch zeitliche Einteilungen ausgelöst zu werden. Sie veranlasst den Handelnden ungeachtet seiner sonstigen Entscheidungspräferenzen in über die Zeit definierten Parametern zu handeln. Diese Überlegung führt Luhmann in seinem Aufsatz aus.

2. Phänomene des Alltags – Die Ausgangssituation der Analyse

Dieser Tage ist die Welt doch recht kompliziert und nicht immer verständlich. Die Nachrichtensendungen platzen aus allen Nähten durch neue und neueste Meldungen. Eine frühzeitige Aufklärung über anstehende Veränderungen bzw. zukunftsweisenden Fortschritt und andere Zusammenhänge in Wirtschaft und Politik ist beinahe nicht mehr möglich. Doch die Komplexität dieser beiden Teilsysteme des Systems des Nationalstaates oder der Gemeinschaft strahlt in dieser Welt der Massenkommunikation und Medienvielfalt in kleinste Bereiche des menschlichen Daseins aus. Der einzelne Mensch, der in dieser immer komplizierter werdenden Welt leben will, muss sich den Zwängen des Alltags beugen. Diese Zwänge hängen eng mit dem Faktor Zeit zusammen. Es ist zunehmend das Phänomen zu beobachten, dass nicht mehr der Mensch die Zeit beherrscht, indem er ungezwungen dies oder das tut, sondern dass die Zeit das Leben des Menschen beherrscht.

2.1. Der Alltag des Einzelnen

Der Mensch scheint von der Zeit beherrscht zu sein. Das ist bereits bei so banalen Dingen wie der Sekunden genauen Einteilung eines Tages zu beobachten. Über jede Minute wird bereits verfügt, ehe sie eingetroffen ist. Die Sekunden sind planbar geworden. Nur diejenigen, die dieser vorgeschriebenen Zeiteinteilung entfliehen wollen – ob es ihnen gelingt oder nicht – tragen keine Armband- oder Taschenuhr. Alle Prozesse und Regelungen unterliegen strengen Zeitplanungen und einer präzisen Zeiteinteilung. Sowohl der Privatmann als auch Berufstätige greifen immer häufiger auf das Hilfsmittel ,Terminkalender‘ zurück, um die einzelnen Vorstellungen, die verfügbare Zeit zu nutzen, umsetzen zu können. Dabei fällt mit zunehmender Vielfalt an Nutzungsmöglichkeiten auf, dass die vorhandene Zeit dieser Verfügungsfülle kaum mehr Stand halten kann. Beim täglichen Erleben werden die vorhandenen qualitativen Zeitgrenzen immer öfter überschritten. Die Zeit wird knapp, das Zeitbudget jedes Einzelnen reicht nicht aus.

Je größer der Anspruch des Einzelnen ist, die Entscheidungen des Alltags auf einmal zu fällen und möglichst viel zu erledigen, desto mehr Zeit wird benötigt. Dadurch entsteht enormer Zeitdruck, da die vorhandene verfügbare Zeit pro Tag nicht ausreicht. Aufgrund dieses Zeitdrucks entsteht der Eindruck, dass die Zeit knapp wird. Um diesem Problem entgegen zu wirken, wird die vorhandene Zeit immer öfter Material einer strengen Planung. Der Terminkalender bestimmt den Tagesrhythmus.[1] Bei dieser Planung streiten viele Faktoren um Berücksichtigung. Ganz natürlich werden in diesem „Wettbewerb um Aufmerksamkeit“[2] Wichtiges von weniger Wichtigem und kurzfristige von langfristigen Angelegenheiten unterschieden. Um das Wichtige vor Vergessenheit zu schützen, wird es oftmals besonders markiert und wird damit indirekt dringlich. So liegt dann das Wichtige im Aktenstapel oben oder in einem roten Ordner oder wird im Terminkalender dreimal unterstrichen.[3] Meistens wird einem dieser Faktoren durch den herrschenden Zeitdruck die Dringlichkeit verliehen. Bei der Zeitplanung spielen somit Termine und Fristen entscheidende Rollen, um Wichtiges von weniger Wichtigem abzugrenzen. Dabei kann es dazu kommen, dass die herkömmliche Art der Wertordnung durch die unter Zeitdruck dringlich gewordene Angelegenheit komplett umgeworfen wird. Diese Veränderung oder Verzerrung gültiger Wertanschauungen deutet auf eine Dominanz der Zeit über das Dasein des Menschen in seinem Alltag. Die Zeit hat somit das Orientierungsprimat[4], d.h. jegliche thematische Entscheidung ist von der Verfügbarkeit der Zeit abhängig.

2.2. Die Ausgangssituation der Wissenschaft

„Zeit“ ist für die Wissenschaft ein schwer zu verstehendes, aber zunehmend interessanter werdendes Forschungsgebiet. Die Beobachtungen, die wir oben gemacht haben, werden in evidente Problemfragen überführt. So analysiert vor allem die Verwaltungswissenschaft die Probleme, die sich um den Zeitbegriff in Bezug auf den Eindruck der Zeitknappheit ranken. Dabei werden besonders der Einfluss des Faktors Zeit auf andere Dimensionen des täglichen Erlebensradius des Menschen und die Verfügung des gleichbleibenden Zeitbudgets, also der vorhandenen Zeit des Menschen, für immer mehr Nutzungsalternativen unter die Lupe genommen.

Um den Ursachen des Eindrucks der Zeitknappheit und der Bestimmung des Menschen durch den Zeitfaktor auf den Grund zu gehen, sollten wir gemäß Luhmann zum Ursprung des menschlichen Daseins zurückkehren und von dort die „Frage, wie es zu diesem Orientierungsprimat der Zeit kommt, in welcher Art von Systemen er sich entwickelt, welche Funktionen er erfüllt und wie seinen Folgeproblemen abgeholfen werden kann“[5] untersuchen.

3. Der Ursprung des Daseins – Erleben in drei getrennten Dimensionen

3.1. Grundannahmen und Grundnormen

Das menschliche Zusammenleben hängt in seinem Ursprung von einigen wesentlichen grundsätzlichen Bedingungen ab. Diese haben sich im Verlauf der Gesellschaft zu unausgesprochenen, aber gültigen Normen entwickelt, die das Zusammenleben ermöglichen. Zu diesen unausgesprochenen Normen zählt Luhmann, dass die gesellschaftliche Welt „gemeinsam ausgelegt und verstanden wird“[6]. Gemeinsam heißt, dass es einen allgemeinen Grundkonsens über die Voraussetzungen des Zusammenlebens gibt. Hier könnten die allgemeinen Menschenrechte angeführt werden, die zwar vertraglich fixiert sind, aber dennoch für alle Menschen der Gemeinschaft eine gültige Maxime sein sollten.

Zu den Grundvoraussetzungen zählt weiter eine „erwartbare Ordnung“[7]. Nennen wir an dieser Stelle einmal eine nationalstaatliche Regelung oder zumindest eine Rangordnung innerhalb einer abgegrenzten Gruppe. Zusätzlich muss diese Lebenswelt „Anknüpfungspunkte für übereinstimmende Erfahrungen und Kommunikationen“[8] liefern. Das bietet in der BRD z. B. die geregelte Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Ist dies alles gegeben, so ist ein menschliches Zusammenleben in einer Welt laut Luhmann möglich. Eine derartige Konstellation ist in der westlichen Gesellschaft des Jahres 2000 weitestgehend vorhanden.

„Zu den notwendigen Strukturen einer [lebensgemeinschaftlichen] Welt gehört eine gewisse Trennung von zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimensionen des Erlebens“[9]. Die Sphäre des Erlebens ist bekanntlich bunt, voller Details und kaum zu durchschauen. Die Komplexität und Erlebnisvielfalt, die täglich auf das Individuum in der Gesellschaft wirkt, ist für dieses nicht zu verstehen. Damit es innerhalb der Gesellschaft dennoch die Chance bekommt, sich zurecht zu finden, werden die feststellbaren Faktoren Zeit, erfahrbarer Sinn oder Sachlichkeit und Kommunikation bzw. sozialer Kontakt voneinander getrennt, um jeden einzelnen besser verstehen zu können. Die zeitliche Dimension des Erlebens beinhaltet alle Prozesse, die Zeit benötigen, mit Terminen, Fristen und dem Zeitverlauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die sachliche Dimension bezieht sich auf die thematischen Qualitäten der Prozesse, während die Kontakte zwischen den Handelnden in die soziale Dimension fallen.

Grundsätzlich gilt für diese notwendige Trennung im Sinne des wissenschaftlichen Verständnisses, das die Komplexität der Dinge zerstückelt und dann Problem bezogen analysiert, dass die einzelnen Dimensionen bei dieser Trennung gegeneinander invariant, also unabänderlich, gegenüber Veränderungen in den anderen Dimensionen sein sollen. D.h., dass ein Fortschreiten der Zeit keinen Einfluss auf die Thematik oder die Kontakte haben darf, ein Handelnder aufgrund persönlicher Vorbehalte gegenüber seinen Partnern den Handlungsprozess nicht verfrüht abbrechen kann und die Beweisführung in einem Gerichtsprozess nichts an der Einteilung der Woche in sieben Tage ändern wird, um an dieser Stelle ein paar einfache Beispiele zu bemühen.

Allerdings muss die Möglichkeit bestehen, die Verfügung der Zeit den Situationen taktisch anzupassen, um z. B. in Verhandlungen den „günstigen Moment“ ausnutzen zu können, ohne die bestehende Ordnung umzuwerfen. Genauso müssen im Vorfeld grundsätzliche sachliche Kriterien der Erkenntnis bzw. des Verhaltens bestimmt werden, die von einer Minderheitenmeinung nicht umgestoßen werden können. Gleiches gilt für Situationen, für die Konsens herrscht. Schlüsselereignisse dürfen nur insofern Einfluss haben, dass der Konsens eine gemeinsame Reaktion auf die veränderte Situation hervorrufen kann. Diese Grundannahmen sind notwendig, um durch die Trennung der Erlebnisdimensionen Klarheit in die Lebenswelt zu bekommen.

3.2. Steigerung in den Naturwissenschaften

Die Trennung der Erlebniswelten wird in den Naturwissenschaften noch gesteigert. Das liegt daran, dass in der immer komplexer werdenden Welt von Seiten der Naturwissenschaften die Zeit kein gültiger Einflussfaktor sein kann. Ihr wird die „eigene Kausalität“[10] abgesprochen. Der Zeitfaktor hat in den Naturwissenschaften nur in Bezug auf unmittelbare Experimente oder als Berechnungsgrundlage für Geschwindigkeiten und Reaktionsfähigkeiten eine Existenzberechtigung. Als Einflussfaktor auf das Erleben des Individuums hat die Zeit aber keine Bedeutung. Aus Sicht der Naturwissenschaften kann die Zeit als „zeitlos“ bezeichnet werden, da das Verstreichen der Erlebniszeit heute keine Bedeutung mehr für die Experimente oder das Verlaufen von Handlung hat. Ob der Physiker die Gravitation an irgendeinem Punkt der Welt nun morgens, nachts, montags oder im November testet, hat für den Prozess an sich keinerlei Bedeutung.

Zusätzlich muss gesagt werden, dass die Zeiteinteilung ihre Existenzberechtigung allein aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen heraus besitzt. Eine Frage, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war, stellt sich somit bei den Naturwissenschaften in Bezug auf ihre Existenz und die der Zeiteinteilung nicht.

Um die zeitliche Dimension aus der komplexen Welt als Faktor auszulösen und die komplexe Welt zu vereinfachen, muss die strenge Trennung der Erlebniswelten vorgenommen werden. Diese Trennung kommt „dem einzelnen bei seinem täglichen Erleben und Handeln zunächst gar nicht in den Sinn“[11]. Die „strukturelle(n) Interdependenz von Zeitordnung, Sachordnung und Sozialordnung“[12] wird ihm nur indirekt bewusst. „Zusammenhänge dieser Art bleiben latent, und diese Latenz schützt den einzelnen vor Überforderung und Verunsicherung durch die hohe Komplexität seines Orientierungsfeldes.“[13]

4. Die Zeitknappheit in der Alltagswelt

Bisher konnten wir bei unserer Analyse des Luhmann-Textes noch keine Spur auffinden, die uns Hinweise auf die Herkunft der Zeitknappheit, die wir in der komplexen Gesellschaft beobachten konnten, gab, sondern nur theoretische Ansätze, um Licht in die herrschende Komplexität der Welt zu bringen. Im Folgenden beschäftigen wir uns nun mit der möglichen Herkunft der Zeitknappheit in der komplexen Erlebenswelt.

4.1. Herkunft und Merkmale der Zeitknappheit

Luhmann bietet in seinen Überlegungen verschiedene Ansätze an, die Herkunft der Zeitknappheit auszuleuchten. Einerseits nennt er die „transzendental-phänomenologische Analyse der Konstitution von Sinn in der Welt“[14]. Diese Analyse ermöglicht auf Grund der Trennung der drei Erlebnisdimensionen eine Feststellung der Sinn tragenden Momente im Erlebensprozess jeder Dimension, also auch und vor allem die der zeitlichen mit den Erwartungen einer transzendental-phänomenologischen Wirklichkeit, die an dieser Stelle nicht fruchtbar erscheint. Die „Umwelt bezogene Theorie des sozialen Systems“[15] kann dagegen weiterhelfen. Sie ist die klassische Methode der Verwaltungswissenschaft. Bei der Analyse des sozialen Systems stellt der Forscher fest, dass eine strikte Trennung der Erlebensdimensionen unmöglich ist, da die Dimensionen nur dann eine problematische Komplexität, die dann zum Eindruck der Zeitknappheit führt, herausbilden, wenn sie aneinander stoßen und zusammen genommen werden. Somit zeigt diese Analyse, dass die Trennung der Erlebensdimensionen für die Herkunft der Zeitknappheit nicht tragbar ist, die Dimensionen somit voneinander abhängig bleiben.

Die äußere Komplexität, die in Bezug auf die Zeitknappheit nun in die zentrale Position rückt, entsteht also nur durch die problematischen komplexen Zusammenhänge der Erlebensdimensionen. Jede dieser Dimensionen ist vom Handelnden nie vollständig auszuschöpfen, die Grenzen zwischen den Dimensionen sind latent vorhanden. Die Probleme entstehen zwischen den Dimensionen.

Die Sachstrukturen der komplexen Welt könnte der Mensch bis ins kleinste Detail erforschen, wenn er unendlich viel Zeit hätte. Da er aber zu wenig Zeit hat, wird es ihm nur gelingen, ein wenig an der Oberfläche zu kratzen. Ähnlich sieht es aus in Bezug auf sozialen Konsens bei der Klärung von Streitfragen. Die sachlichen Strukturen hat der Mensch noch nicht ganz ergründet und auch für die ausführliche Diskussion über die Themen der sachlichen Dimension zum ausgereiften Konsens wird es aufgrund des Zeitmangels bzw. der Knappheit der verfügbaren Zeit nicht kommen. Andererseits wird die Zeit nur aus dem Grund knapp, weil die Welt thematisch derart kompliziert ist, dass eine Konsensbildung entsprechend viel Zeit benötigt.

„In Wirklichkeit begrenzen und verknappen die Weltdimensionen sich wechselseitig. Die mehrdimensionale Schematisierung des Erlebens scheint demnach [nur] ein Versuch zu sein, die äußere Komplexität der Welt zu erfassen und in lösbare Probleme des Erlebens und Handelns zu transformieren.“[16] Man nehme also die äußere Komplexität der Welt in ihren Dimensionen und verstehe plötzlich sachliche Probleme, zeitliche Probleme und soziale Probleme isoliert voneinander und dann wieder unmittelbar miteinander. Wollen wir beispielsweise die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland (BRD) verstehen, so untersuchen wir die sachliche Funktion der Demokratie als solche, erfassen die zeitlichen Aspekte dieser Herrschaftsform und betrachten die Handlungsweisen der verantwortlichen Handlungsbefugten, und indem wir die Dimensionen zusammenfügen, ergeben sich zwischen den Einzelerkenntnissen Probleme, mit denen man dann die wissenschaftliche Forschung speisen kann, um am Ende das komplexe System verstehen zu können.

Das funktioniert wunderbar, solange man sich auf der theoretischen Ebene befindet und das Phänomen der Zeitknappheit nur beobachtet. Beziehen wir unsere Feststellungen allerdings auf die praktische Umsetzung, so lässt sich rasch zeigen, dass diese einfache Form des Verstehens der komplexen Welt durch die Spaltung in die drei Erlebenswelten und auch in den latenten Berührungen der Dimensionen nicht vollständig aufgeht. Denn jede Dimension hat ihren eigenen problematischen Schattenbereich, solange ihr von den beiden anderen Dimensionen durch die Erwartungshaltung der Handelnden Grenzen gesetzt werden wie sie oben kurz erläutert wurden.

[...]


a Diese Hausarbeit ist nach neuer Rechtschreibung verfasst. Zitierte Stellen aus dem Aufsatz wurden an die neuen Rechtschreibungsregeln angepasst. (Ich bitte, dies beim Lesen zu berücksichtigen.)

[1] Vgl. Niklas Luhmann: Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten, in: Niklas Luhmann: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen 1971, S. 143, Zeile 7-9.

[2] Luhmann: 143, 7.

[3] Vgl. Luhmann: 143, 4-7.

[4] Luhmann: 143, 21.

[5] Luhmann: 143, 20-24.

[6] Luhmann: 144, 1-2.

[7] Luhmann: 144, 2.

[8] Luhmann: 144, 2-3.

[9] Luhmann: 144, 4-5.

[10] Luhmann: 144, 27-28.

[11] Luhmann: 144, 32-33.

[12] Luhmann: 144, 33-34.

[13] Luhmann: 144, 34-36.

[14] Luhmann: 144, 40-41.

[15] Luhmann: 144, 41.

[16] Luhmann: 145, 21-24.

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
Der Mensch als Marionette der Zeit? - 'Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten'. Der Zeitbegriff bei Niklas Luhmann
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Zwischen Timing und Vision. Zeit und Zeitlichkeit als Bedingungen politischen Handelns
Note
2,7
Autor
Jahr
2000
Seiten
36
Katalognummer
V14926
ISBN (eBook)
9783638202008
ISBN (Buch)
9783656568803
Dateigröße
572 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ohne Sekundärliteratur.
Schlagworte
Mensch, Marionette, Zeit, Knappheit, Zeit, Vordringlichkeit, Befristeten, Zeitbegriff, Niklas, Luhmann, Zwischen, Timing, Vision, Zeit, Zeitlichkeit, Bedingungen, Handelns
Arbeit zitieren
Björn-Christian Schüßler (Autor:in), 2000, Der Mensch als Marionette der Zeit? - 'Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten'. Der Zeitbegriff bei Niklas Luhmann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14926

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