Die kulturelle Rezeption der Ophelia vom elisabethanischen Zeitalter zur visuellen Repräsentation im 20. Jahrhundert


Seminar Paper, 2006

17 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das 17. Jahrhundert: die an Liebeswahn leidende Ophelia

3. Das 18.Jahrhundert: die zensierte Ophelia

4. Die romantisierte Ophelia des 19. Jahrhunderts

5. Die viktorianische Ophelia
5.1. als Hysterikerin
5.2. in der medizinischen Literatur
5.3. auf der Bühne
5.4. als Heldin in der weiblichen Literatur

6. Ophelia in der Psychoanalyse

7. Die an Schizophrenie leidende Ophelia

8. Ophelia in der feministischen Repräsentation

9. Visuelle Repräsentationen von Ophelia im 20. Jahrhundert
9.1. in der bildenden Kunst
9.2. im Film

10. Zusammenfassung

11. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In William Shakespeares Hamlet taucht die Nebenfigur Ophelia in sechs von zwanzig Szenen auf. Ihre Geschichte weist in dem Drama also unzählige Leerstellen auf, die jeder Interpret anders füllen kann. Die folgende Arbeit soll, beginnend in der Zeit der Entstehung des Dramas, chronologisch die wichtigsten Stationen in der Rezeptionsgeschichte der Figur, der Aufnahme und Wirkungen, die diese “durch jeweils verschiedene Epochen hindurch ausgeübt hat“ (Nünning 462), im Theater, in der bildenden Kunst, der Literatur, der Literaturkritik, im Film und in der Psychiatrie erläutern. Der Stand der psychiatrischen Forschung wird dabei untrennbar mit ihrer Darstellung verbunden sein, ist sie oft doch der Prototyp der wahnsinnigen Frau, wie man mit weiblichem Wahnsinn im jeweiligen Jahr­hundert auch immer umgehen mag. Dabei wird hauptsächlich die britische Repräsentation berücksichtigt werden, doch, wenn besonders einflussreich, auch jene in anderen Ländern.

Elaine Showalter schrieb, dass es nicht eine “wahre” Ophelia gebe, „but perhaps only a Cubist Ophelia of multiple perspectives, more than the sum of all her parts.“ (Showalter 1985, 238). Die folgende Arbeit wird versuchen, die meisten Seiten des Kubus Ophelia zu beleuchten.

2. Das 17. Jahrhundert: die an Liebeswahn leidende Ophelia

Zu Shakespeares Zeit waren die Merkmale des weiblichen Wahnsinns klar definiert und in Ophelia für ein zeitgenössisches Publikum zu erkennen: Sie tritt “distracted“ (4.5.20) auf, trug auf der Bühne für gewöhnlich weiß, Zeichen ihrer Jungfräulichkeit und Kontrast zu Hamlets schwarzem Gewand, hantiert im Wahnsinn mit Blumen und ist im Sterben von ihnen bedeckt, als Zeichen des Aufblühens der weiblichen Sexualität, gleichzeitig als Zeichen der eigenen Deflorierung, wenn sie die Blumen weggibt (vgl. Showalter 1985, 224). Ein anderes Merkmal ist “her haire downe“ (Q1, 4.5.20), was auf verlorenen Anstand und Sinnlichkeit hindeutet.

[L]oose hair is an offence against decorum and therefore against the whole hierarchy of orderly correspondences. It is so improper and so overtly sensual that it may conventionally be understood to indicate a loss of reason, either temporary or permanent. (Charney & Charney 453)

Auch ihr Gesang ist auf zweierlei Weise gegen die Sitte des Hofes. In elisabethanischer Zeit sangen Edelmänner und -frauen nicht selbst in der Öffentlichkeit. Sie ließen allenfalls Diener zu ihrem Zeitvertreib singen. Dieses unkontrollierte Verhalten Ophelias und der obszöne Inhalt ihrer Lieder, die jene des gewöhnlichen Volkes sind, lassen eindeutig auf ihren Wahnsinn schließen (vgl. Sternfeld 54-66). Auch ihre Verwendung von Sprache ändert sich als sie wahnsinnig wird: “Her syntax is broken; her discourse is organized by lyrical free association. [...] The loss of rationality is expressed by a shift from verse to prose, as if blank verse were to orderly a vehicle to express Ophelia’s wild fancies” (Charney & Charney 546). Zum Schluss ertrinkt sie auch noch. Wasser ist das eindeutig weiblichste Element und ist “associated with the feminine, with female fluidity as opposed to masculine aridity“ (Showalter 1985, 225). Die Frau ist mit Flüssigkeit, mit mangelnder Standhaftigkeit verbunden, schon allein durch die mir ihr verbundenen Körpersäfte, die natürlicherweise aus ihr austreten, wie Tränen, Blut, Milch. (vgl. Showalter 1985, 224)

Um 1600 kam es zu einer Melancholie-Epidemie in England unter jungen, gebildeten Männern, die ihr Können nicht ausleben konnten oder deren Leistungen nicht anerkannt wurden. Diese verschonte aber Frauen (vgl. Skultans 81). Weibliche Melancholie oder Wahnsinn wurde nicht mit einem geistigen, metaphysischen Ursprung verbunden, sondern mit einem biologischen, emotionalen, mit dem „Ungleichgewicht der weiblichen Körper­säfte“ (Kindler 61) und die Krankheit wurde als Auswirkung von übersteigerter Emotio­nalität bei unerfüllter Liebe erkannt, als love melancholy oder erotomania (auch erotic melancholy genannt), als unterdrückte Sexualität, die mit selbstmörderischen Tendenzen verbunden ist. Dadurch konnte Ophelias Wahnsinn als Auswirkung von Hamlets Zurück­weisung verstanden werden, was durch ihr Verhalten und Aussehen, die, wie oben erklärt, mit weiblicher Sexualität verbunden sind, bekräftigt wird.

Dennoch bot Wahnsinn für weibliche Figuren auch Möglichkeiten andere Facetten zu zeigen als die der gehorsamen Tochter. “[Ophelia’s] madness opens up her role, and she is suddenly lyric, poignant, pathetic, tragic“ (Charney & Charney 457). Zudem war es eine Gelegenheit die patriarchalischen, sozialen Fesseln abzuschütteln, indem Emotionen und Gedanken geäußert werden, die eine zurechnungsfähige Frau unterdrücken würde. “In madness, a condition which men will disown for themselves, women begin to assert their difference and opposition to male power” (Salkeld 118).

Was die Bühnenpraxis im elisabethanischen England betrifft, so ist ja bekannt, dass alle weiblichen Rollen von jungen Männer gespielt wurden, aber da die Pubertät im frühen siebzehnten Jahrhundert vermutlich später einsetzte, konnten Shakespeares boy actors noch achtzehn gewesen sein und somit “able to comprehend and embody the emotional complexities” (Gay 155) der dargestellten Figuren und dennoch noch mit weiblichen Attributen gesegnet sein, wie heller Stimme und geschmeidigem, kindlichen Körper. Ab 1660, als Frauen auf die Bühne durften, bis Anfang des 18. Jahrhunderts wurde Ophelia oft von Frauen gespielt, die angeblich tatsächlich unter enttäuschter Liebe litten. Die erste weibliche Ophelia war Mary Betterton, die nach dem Tod ihres Mannes wahnsinnig ge­worden sein soll (wobei sie zu dieser Zeit als Schauspielerin schon nicht mehr aktiv war).

Auch Susanna Mountfort wurde wahnsinnig, als ihr Freund sie betrog. Sie brach aus einer Heilanstalt aus und spielte in diesem Zustand ihre Rolle.

Dem fiktiven Wahnsinn Ophelias wurde also der vermeintliche Wahnsinn der Schauspielerin als Authentizitätsbeleg zur Seite gestellt, wodurch die Vorstellung vom naturgegebenen weiblichen Liebes-Wahnsinn erhärtet und rezipiert wurde. (Kindler 95)

3. Das 18.Jahrhundert: die zensierte Ophelia

Im 18. Jahrhundert setzte zum ersten Mal die Ausgrenzung von Wahnsinnigen aus der Gesellschaft durch Internierung in Irrenanstalten ein. In London wurde Bedlam dafür berühmt. Wahnsinn wurde nicht mehr als heilbare Krankheit gesehen, sondern als Ausdruck des Animalischen, das am besten mit Ketten im Zaum zu halten ist. “Caged, chained, beaten - the madman of the Augustan Age was brutalized in fact: regarded as an animal, he was treated exactly like one” (Byrd 45). Wahrscheinlich führten diese Angst vor und Scham um Wahnsinn dazu, dass Ophelias Melancholie auf der Bühne sentimentalisiert wurde und ihr „sexuell-aggressiver Wahnsinn“ (Kindler 97) zugunsten sexueller Passivität und pathetischen Ausdrucks entschärft wurde. Ihre Zeilen wurden gekürzt und sie wurde oft von Sängerinnen dargestellt, statt von Schauspielerinnen (vgl. Showalter 1985, 226), wie Susanna Maria Cibbers, die unter der Regie David Garricks dessen „Idee idealer bürgerlicher Weiblichkeit“ (Kindler 96) darstellte. Um den Vorbildcharakter der Tragödie nicht zu zerstören, überlebten Hamlet und Ophelia bei Garrick. Passend zu Samuel John-sons „Ideal des unschuldigen Mädchens“ (Schwarzer 145) Ophelia als „the young, the beautiful, the harmless, and the pious” (zitiert nach Schwarzer 138), wurde sie in weißem Kleid, mit offenem Haar und mit Wildblumen geschmückt dargestellt. Weniger würdevoll, aber energischer trat Dorothy Jordan auf, ohne Ophelias Unschuld zu zerstören: “She particularly shone in ‘breeches’ roles - she was trim and athletic - and critics commented on her boundless energy, her ability to touch the heart with pathos (as Viola and Ophelia in particular), her fine singing, and her infectious and natural laugh” (Gay 159).

4. Die romantisierte Ophelia des 19. Jahrhunderts

Auf die Animalisierung des Wahnsinns folgte die Ästhetisierung der Melancholie und Faszination für weiblichen Wahnsinn, die in Gemälden von Crazy Kate und in der roman­tischen Literatur gefunden werden kann. Wo Augustiner Wahnsinn marginalisierten und aus ihrem Leben ausschlossen, wählten die Romantiker ihn zu einem bevorzugten Thema, da er mit Natur und erhöhter Emotionalität verbunden ist, so wie die Frau. “In der Romantik lief die Vorstellung vom Wahnsinn als einer Form des Naturzustandes analog zur Vorstellung vom Naturwesen Frau. Die beiden Zuordnungen konnten sich gegenseitig stützen und perpetuieren“ (Kindler 78).

Auf der Bühne beeinflusste vor allem Harriet Smithson die noch folgenden romanti­sierten Vorstellungen von Ophelia. Sie spielte 1827 unter Charles Kemble in Paris und überwältigte durch ihre Darstellung der Ophelia das französische Publikum. Smithson brach mit der Tradition der jungfräulich weiß gekleideten Ophelia, als sie in ihrer Wahnsinnsszene in schwarzem Schleier auftrat, mit Stroh im Haar (vgl. Raby 63). Sie gab eine realistische, pathetisch-emotionale Darstellung ab und versuchte sich gänzlich mit ihrer Figur zu identifizieren. Der Selbstmord wurde jedoch nicht problematisiert und ihr Tod beschönigt, indem die “morbiden Assoziationen des muddy death aus dem Original fehlten“ (Kindler 143). Sie war die Muse des Komponisten Hector Berlioz, der von ihr zu zwei Kompositionen zu Hamlet inspiriert wurde (vgl. Raby 190), und mehrere Maler fertigten Lithografien von ihr als Ophelia an, wie Eugene Delacroix, der die Verbindung von Sexualität, Wahnsinn und frühzeitigem Tod aufgriff, die sie auf der Bühne evozierte und als erster den Tod Ophelias, der im Drama von Gertrude ja nur berichtet wird, malte. La Mort d’Ophelie von 1843 zeigt Ophelia ertrinkend, sich mit einer Hand noch an einem Ast klammernd, mit entblößten Brüsten. Das Bild betont Ophelias Sexualität und Sinnlichkeit, festigte Ophelia als romantisches Motiv in der Malerei und brachte ihre Weiblichkeit zum ersten Mal bildlich mit dem schönen Tod, Wasser und Natur in Verbindung. „Delacroix’s works at least testify to the potency of Ophelia as an image for the Romantic period, a symbol both of wounded, self- absorbed sexuality and of the destruction of innocence by an indifferent world” (Raby182).

Die Präraphaeliten fanden in Ophelia eine perfekte Inkarnation ihrer bevorzugten The­men: das Natur-Motiv, Wahnsinn als Manifestation des menschlichen Genies, romantische Liebe und den schönen Tod. George Frederick Watts und John William Waterhouse malten sie mehrere Male in verschiedenen Posen. John Everett Millais’ Ophelia von 1851-52 zeigt Ophelia im Moment ihres Sterbens, im Fluss treibend. Ist die Themenwahl zwar ähnlich zu der von Delacroix’ Gemälde, ist Millais’ Ophelia doch passiver, klammert sich nicht verzweifelt an einen Ast, sondern ergibt sich durch ihre geöffneten, als betend er-scheinenden Hände wie eine Heilige und Märtyrerin in ihr Schicksal und fügt sich in ihre Umgebung ein. Ihr Kleid verschmilzt mit der Schwärze des Flusses und die Blätter ihrer Blumen sind vom Rock kaum zu unterscheiden. Sie wird eins mit der Natur um sie herum. Es ist ein idyllisches Gemälde, voller Andacht und Ruhe, das Ophelias Sterben in einen immerwährenden Schwellenzustand zwischen Leben und Tod bannt.

Die Übereinstimmung von Landschaft und Szene nimmt dabei jene Harmonie vorweg, die Ophelia jetzt erst - im Tode - findet. Der Augenblick aber, der in diesen Bildern festgehalten wird, jener Augenblick, als die Kleider der ins Wasser gestürzten Ophelia sich ausbreiten und sie noch eine kurze Weile dahintragen, ist einer der Hoffnung, sie wäre noch einzuholen. Solange sie den Blicken nicht entschwunden ist, kommt immer auch das noch ins Bewusstsein, worauf sie zuhält, die Utopie einer Gegenwelt. (Würfel 20f.)

Arthur Hughes’ Ophelia von 1852 hingegen ist noch nicht am Ertrinken, sondern sitzt am Ufer ins Wasser blickend. Sie ist sehr jung, zierlich, fast Elfen-gleich, mit einer Krone aus Ästen oder Dornen auf dem Kopf. Der gewölbe-förmige, goldene Rahmen “enhances the sense of holiness already suggested by the clear mysterious light that sets off Ophelia’s rush/thorn-crowned figure from the blasted landscape” (Ziegler 48). Beide Gemälde spiegeln die viktorianische Faszination für schlafende, leichenhafte Schönheiten und Meerjungfrauen, als die Ophelia ja von Getrude sogar beschrieben wird (vgl. 4.7.176). “In her mysterious hybrid nature whose humanity is only an appearance the mermaid becomes an emblem of Victorian womanhood generally, promising human repose but exercising preterhuman powers” (Auerbach 96). Dante Gabriel Rossetti greift in seinem Bild der nunnery scene von 1958 die religiösen Bezüge auf, die im viktorianischen England dem Stück und Ophelia angeheftet wurden, wobei Ophelia mit einer heiligen Jungfrau in Verbindung gebracht wurde, wodurch sie den viktorianischen Vorstellungen von tugendhafter, unbefleckter Weiblichkeit entgegen kam. Schon das Setting sieht bei Rossetti wie eine mittelalterliche Kapelle aus und in Ophelias Schoß liegt ein Buch, vermutlich eine Bibel.

5. Die viktorianische Ophelia

5.1. als Hysterikerin

Die viktorianische Ophelia hat mehrere Gesichter. Ihr Auftreten in der bildenden Kunst im 19. Jahrhundert wurde schon besprochen. Die Psychiatrie instrumentalisierte sie als Prototyp der Hysterikerin. Vor der Jahrhundertwende kam es zu einer Epidemie unter Frauen aus höheren Gesellschaftsschichten, die mit Hysterie betitelt wurde. Die Symptome waren vielseitig: “limps, paralyses, seizures, coughs, headaches, speech disturbances, depression, insomnia, exhaustion, eating disorders“ (Showalter 1997, 14). Die Krankheit wurde früher als Herumwandern der Gebärmutter im Körper oder auch durch eine „suppression of menstruation and sexual abstinence“ (Skultans 83) erklärt, bis man durch Autopsie herausfand, dass sich der Uterus im Körper nicht bewegen kann. Dennoch wurde Hysterie weiterhin mit dem weiblichen Körper und seiner Sexualität verbunden.

[W]omen were more vulnerable to insanity than men because the instability of their reproductive systems interfered with their sexual, emotional, and rational control. [...] [T]heories of female insanity were specifically and confidently linked to the biological crises of the female life-cycle - puberty, pregnancy, childbirth, menopause - during which the mind would be weakened and the symptoms of insanity might emerge. (Showalter 1987, 55)

[...]

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Details

Title
Die kulturelle Rezeption der Ophelia vom elisabethanischen Zeitalter zur visuellen Repräsentation im 20. Jahrhundert
College
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg
Course
Proseminar Hamlets and Their Women
Grade
1,0
Author
Year
2006
Pages
17
Catalog Number
V149755
ISBN (eBook)
9783640605491
ISBN (Book)
9783640605217
File size
442 KB
Language
German
Keywords
William Shakespeare, Hamlet, Ophelia, Figureninterpretation, Rezeptionsgeschichte, Rezeption, Repräsentation, Wahnsinn
Quote paper
Lena Unterlugauer (Author), 2006, Die kulturelle Rezeption der Ophelia vom elisabethanischen Zeitalter zur visuellen Repräsentation im 20. Jahrhundert, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149755

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