"Kunst und Proletariat" - Franz Mehrings Literaturtheorie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Mehring über den Charakter von Kunst und Literatur

Naturalismus

Freie Volksbühne

„Unter den Waffen schweigen die Musen.“ – Zur Proletarischen Literatur

Die deutsche Klassik

Zusammenfassung

Literatur
Schriften von Franz Mehring
Weitere Literatur

Einleitung

Franz Mehring, lange Zeit Anhänger des bürgerlichen Liberalismus und zeitweise sogar erbitterter Gegner der Sozialdemokratie, schloss sich der deutschen Arbeiterbewegung zwar erst spät an – 1891 war er 45 Jahre alt –, blieb ihr aber bis zum Ende seines Lebens treu. Dass er zum linken Parteiflügel der alten SPD gehörte und im Zuge der „Großen Spaltung“ ab 1914 zusammen mit Luxemburg, Liebknecht, Zetkin und anderen zum Mitgründer des Spartakus-Bundes und schließlich der KPD wurde, hat ihm den Status eines „Halbklassikers“ und eine eigene, 15-Bändige Werksausgabe im SED-Parteiverlag Dietz erworben.[1] Neben den Schriften zur deutschen Geschichte und zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung – zu denken ist hier etwa an seine monumentale Geschichte der deutschen Sozialdemokratie oder seine Marx-Biographie – nehmen die literaturkritischen und literaturhistorischen Texte den größten Teil seiner Publizistik ein.

Nach seinem Anschluss an die Sozialdemokratie stellte Mehring sein Schaffen ganz in den Dienst der Arbeiterbewegung und ihrer Partei; seine Texte erschienen entweder in den Zeitungen der SPD oder in Broschüren- bzw. Buchform in den Parteiverlagen. Die SPD hatte keineswegs nur politische und ökonomische Ziele, sondern ihre Arbeit bezog sich auf alle gesellschaftlichen Bereiche – auch die Kultur.[2] Mehring war dabei einer der ersten, der die Marx’sche Methode nicht nur auf politische Phänomene, sondern auch auf die historische, philosophische und kulturelle Tradition anwendete.[3]

Es ging ihm hierbei nicht in erster Linie um die Beschäftigung mit Literatur an sich, sondern darum, diese Beschäftigung für die Arbeiterbewegung nutzbar zu machen.[4] Eine der zentralen Fragen war für ihn dabei, welche Rolle Literatur im proletarischen Emanzipationskampf spielen konnte und sollte? Dazu untersuchte er sie auf ihren ideologischen Gehalt und versuchte das Verhältnis der Arbeiterbewegung zur bürgerlichen Literatur sowie Möglichkeiten und Voraussetzungen für das Entstehen einer proletarischen Literatur zu bestimmen.

Mehring über den Charakter von Kunst und Literatur

Mehrings Sicht der Kunst steht ganz im Zeichen des historischen Materialismus: „Wie die religiösen Vorstellungen, wie die juristischen und politischen Einrichtungen, so wird auch das künstlerische und literarische Schaffen der einzelnen Völker im letzten Grunde durch ihre ökonomischen Entwicklungskämpfe bestimmt.“[5] Kunst ist für ihn also ein Teil des Überbaus und hängt damit wie alle Überbau-Phänomene von der ökonomischen Basis, dem jeweils erreichten Stand der Produktivkräfte und – damit eng verbunden – der gesellschaftlichen Entwicklung ab.[6] Mehring weist zwar darauf hin, dass sich dies keineswegs in einem eindimensional-deterministischen Verhältnis von Basis und Überbau niederschlägt, sondern die künstlerische Produktion vielmehr auf sehr unterschiedliche Weise die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Entstehungszeit zum Ausdruck bringen kann.[7] Doch ist sie immer an diese Bedingungen gebunden und lässt sich auf diese zurückführen.

Der historische Materialismus geht von einem (teleologisch verstandenen) Fortschritt der menschlichen Gesellschaft aus. Dessen Ablauf hängt dabei von der Entwicklung der sozioökonomischen Bedingungen, der Basis, ab. Nach diesem Verständnis kann (und muss) sich diese Entwicklung zwar in Kunst und Literatur wie auch in den religiösen Vorstellungen, dem politischen System etc. widerspiegeln, doch kommt den Überbau-Phänomenen dabei keine eigenständige Rolle zu. Kunst kann die gesellschaftliche Entwicklung nicht vorantreiben, sondern ist im Gegenteil abhängig von ihr. So hängt der insgesamt progressive Charakter der klassischen deutschen Literatur für Mehring genauso vom Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums ab wie der Naturalismus Ausdruck der Dekadenz der Bourgeoisie ist.

In dieser Sicht ist das entscheidende Movens des geschichtlichen Fortschritts der Klassenkampf. So schreiben Marx und Engels im Kommunistischen Manifest: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“[8] Und dieser grundlegenden gesellschaftlichen Kraft können sich auch die Dichter nicht entziehen – „sie leben vielmehr in den Klassenkämpfen ihres Volkes und ihrer Zeit“.[9] Demzufolge sieht Mehring die Hauptaufgabe der Literaturkritik allgemein in der historischen Kontextualisierung von Literatur im Sinne des historischen Materialismus. Es gelte zu „untersuchen, welche Stellung [die jeweilige] literarische Richtung in den Klassenkämpfen ihrer Zeit einnimmt.“[10]

In diesem Zusammenhang weist schon Friedrich Engels in einem Brief zur Lessing-Legende darauf hin, dass nicht nur von Mehring, sondern auch von ihm und Marx selbst „das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen […] aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt“ wurde und dass man dabei „die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt [hätte]: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen.“[11] Mehring sieht durchaus, dass die Künstler durch den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, in dem sie stehen, „in der allerverschiedensten Weise angeregt und beeinflußt werden“[12], doch spielt für ihn die ästhetische Seite des künstlerischen Prozesses praktisch keine Rolle. Fritz Raddatz schreibt dazu: „Er bewegt sich in seiner ganzen Kunsttheorie zwischen dem unaufgelöstem Widerspruch der unvermittelten Herleitung literarischer Produkte aus materieller Basis einerseits – und einem unantastbaren Reservat für ‚Kunst’ andererseits.“[13] Das „unantastbare Reservat für ‚Kunst’“ zeigt sich hierbei in dem ästhetischen Anspruch, den Mehring an „wahre Kunst“ stellt.

Auch sei „die Kunst ein ursprüngliches Vermögen der Menschheit“[14], also der Impuls, Kunst zu schaffen, als solcher unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen vorhanden, und sie nehme „ihre Gesetze nur von sich selbst“, wobei auch der Versuch einer an Kant angelehnten Ästhetik[15] offen lässt, wie diese Gesetze aussehen. Gleich im Anschluss an diese Feststellung schreibt Mehring dann: „Aber in dem historischen Fluss der Dinge steht sie auch“.[16] Diese zwei unterschiedlichen Bestimmungen von Kunst muss man nicht wie Raddatz als Widerspruch sehen. Doch lässt Mehring die Frage offen, in welchem Verhältnis die Kunst als „ursprüngliches Vermögen“ zu den konkreten historischen Bedingungen steht, ob und in wiefern ein von diesen Bedingungen unabhängiges ästhetisches Ausdrucksvermögen denkbar ist.

Vielmehr konzentriert er sich in seiner publizistischen Tätigkeit nahezu ausschließlich auf die historisch-materialistische Kontextualisierung und politische Auswertung von Literatur.[17] Die Stellung der Künstler in den Klassenkämpfen ihrer Zeit, ihr Verhältnis zum gesellschaftlichen Fortschritt ist der Maßstab, an dem sie sich messen lassen müssen.[18] Für das insgesamt positive Urteil über die deutsche Klassik wie für das insgesamt negative Urteil über den Naturalismus ist dieser Maßstab der entscheidende.

Naturalismus

Mehring entwickelt seine Position zu Möglichkeiten und Grenzen einer proletarischen Literatur hauptsächlich in der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus und dem Projekt Freie Volksbühne. Im Folgenden soll daher zuerst Mehrings Einschätzung des Naturalismus untersucht werden.

Der Naturalismus, der in den 1890er Jahren zur dominierenden Strömung der modernen Literatur in Deutschland wurde, stellte einen Bruch mit den als oberflächlich empfundenen Regeln der bürgerlichen Salonkultur dar.[19] Mehring rechnet ihm daher auch positiv an, „daß er frei sein will, frei von den erstickenden Banden einer untergehenden Gesellschaft.“[20] Nicht nur in den Werken französischer Naturlisten wie Zola, mit denen sich Mehring nur am Rande beschäftigt,[21] sondern auch in den Dramen Gerhart Hauptmanns, des Hauptvertreters des deutschen Naturalismus, wird die soziale Wirklichkeit, werden besonders die sozialen Probleme der Zeit zum Gegenstand von Literatur.[22] Auch dies sieht Mehring als „Verdienst des heutigen Materialismus, daß er den Mut und die Wahrheitsliebe gehabt hat, das Vergehende zu schildern, wie es ist.“[23]

Da sich in der Kunst nach Mehrings Verständnis die gesellschaftlichen Kräfte der jeweiligen Zeit widerspiegeln, so ist es nur folgerichtig, dass er das, was er an positiven Ansätzen im Naturalismus findet, als „Widerschein […], den die immer mächtiger auflodernde Arbeiterbewegung in die Kunst wirft“, auffasst.[24] Er schließt daher in den ersten diesem Thema gewidmeten Artikeln 1892/93 auch noch nicht aus, dass der Naturalismus einen progressiven, d.h. in seinem Sinne, proletarischen Standpunkt einnehmen könne.[25]

Doch überwiegt auch in den frühen Artikeln schon die Kritik. Die Aufgabe der modernen Literatur sei es nämlich, „in der herrschenden Misere nicht nur das Elend von heute, sondern auch die Hoffnung auf morgen [zu] entdecken“.[26] Das „Schicksal des Naturalismus“ hänge also davon ab, ob er in der Lage sei, in den zeitgenössischen sozialen Problemen die Arbeiterklasse als die Kraft zu sehen, die diese Probleme lösen könne, und diese Einsicht dann auch literarisch darzustellen. Der Naturalismus wird also an politischen Maßstäben gemessen, wobei Politik auch hier als Ausdruck der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Entwicklung gesehen wird. In dem Maße, wie sich der Naturalismus den Standpunkt der Arbeiterbewegung als progressiver politischer Kraft zueigen mache, werde er selbst zu einer progressiven literarischen Bewegung.[27] Die gesellschaftliche Entwicklung führe zum Sieg des Sozialismus über das im Niedergang begriffene kapitalistische System, und so müsse sich auch die Literatur daran messen lassen, welchen Standpunkt sie in dieser Entwicklung einnimmt.

[...]


[1] Als „Halbklassiker“ (Jost, 18) musste er sich immer wieder – so etwa in den Anmerkungen zu seiner Werksausgabe – an den „eigentlichen“ Klassikern Marx, Engels, Lenin und zeitweise auch Stalin messen lassen (vgl. dafür etwa Koch 1959, 96). Seine „Abweichungen“, z.B. seine positivere Einschätzung der Rolle Lassalles in der deutschen Arbeiterbewegung, wurden ihm dabei meist als „theoretische Schwächen“ angelastet. Die Gesammelten Schriften aus dem Dietz-Verlag umfassen auch nur die nach seinem Anschluss an die Sozialdemokratie verfassten Texte.

[2] Vgl. Jost, 26. So stellt auch Clara Zetkin fest, dass es „im proletarischen Klassenkampf“ nicht nur um „Füllung des Magens“, sondern auch „um das ganze Kulturerbe der Menschheit“ geht („Kunst und Proletariat“, 494).

[3] Vgl. Jost, 17.

[4] Vgl. Jost, 20, 23; Hecht, 109; Koch 1959, 97f. Nach Koch war das Literaturwesen für Mehring ein „Teilgebiet des politisch-ideologischen Kampfes der Arbeiterklasse und ihrer Partei“ (97).

[5] „Etwas über Naturalismus“, 127; vgl. Deutsche Geschichte, 104. (Wenn nicht anders vermerkt, ist auch im Folgenden Franz Mehring der Autor der angeführten Texte.)

[6] Vgl. Schleifstein, 125; Raddatz, 84f, Koch 1961, 8*f; Fülberth 1972, 41.

[7] Vgl. Deutsche Geschichte,104.

[8] Marx/Engels, 416.

[9] Deutsche Geschichte,104.

[10] „Etwas über Naturalismus“, 130.

[11] Engels, „Brief an Franz Mehring“, 596 (Hervorhebung im Original); vgl. Raddatz, „Mehring-Legende“, 83f; Kiefer, 94-96; Fülberth 1972, 42.

[12] Deutsche Geschichte, 104.

[13] Raddatz, „Mehring-Legende“, 84.

[14] „Emile Zola“, 36; vgl. Zetkin, „Kunst und Proletariat“, 492.

[15] Vgl. Ästhetische Streifzüge, in: GS 11, 142-150; vgl. auch Schleifstein, 119.

[16] „Emile Zola“, 36.

[17] Vgl. Fülberth (1969, 59), der nicht zu Unrecht feststellt, dass Mehring „im Grunde bei der Inhalts- (insbesondere Handlungs-) Interpretation von Dichtungen und der Analyse von Schriftstellerbiographien stehen bleibt und vor der Form kapituliert“.

[18] Vgl. Jost, 20.

[19] Vgl. Mommsen, 43.

[20] „Der heutige Naturalismus“, 131.

[21] Vgl. „Emile Zola“, 12, 35-39.

[22] Vgl. Mommsen, 43.

[23] „Der heutige Naturalismus“, 133; vgl. „Kapital und Presse“, 60f.

[24] „Der heutige Naturalismus“, 131; vgl. Lessing-Legende, 360.

[25] Vgl. Koch 1959, 140.

[26] „Der heutige Naturalismus“, 132.

[27] Vgl. Schleifstein, 130; Koch 1961, 24*.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
"Kunst und Proletariat" - Franz Mehrings Literaturtheorie
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Geschichte)
Veranstaltung
Kultur und Politik in Deutschland 1900-1936
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
22
Katalognummer
V149977
ISBN (eBook)
9783640611560
ISBN (Buch)
9783640611263
Dateigröße
542 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Marxismus, Sozialismus, Literaturtheorie, Arbeiterbewegung, Proletarische Kultur, Kulturtheorie
Arbeit zitieren
Jan Dreßler (Autor:in), 2007, "Kunst und Proletariat" - Franz Mehrings Literaturtheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149977

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