Die Blechtrommel von Günter Grass

Stilanalyse mit dem Mittel der Parodie


Seminar Paper, 2004

12 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Herr Matzerath lag dort vom August fünfundvierzig bis zum Mai sechsundvierzig. Seit über einer Stunde erzählt er mir von mehreren Krankenschwestern Gleichzeitig. Die heißen: Schwester Monika, Schwester Helmtrud, Schwester Walburga, Schwester Ilse und Schwester Gertrud. Er erinnert sich an den ausgedehntesten Krankenhausklatsch, misst dem Drum und Dran des Krankenschwesterlebens, der Berufskleidung eine übertriebene Bedeutung bei. Kein Wort fällt von der, wie ich mich erinnere, in jener Zeit miserablen Krankenhauskost, von schlecht geheizten Krankenzimmern. Nur Krankenschwestern, Krankenschwesterngeschichten und langweiligstes Krankenschwesternmilieu. Da wurde geflüstert und vertraulich berichtet, da hieß es, daß Schwester Ilse zur Oberschwester gesagt haben soll, da hatte es die Oberschwester gewagt, die Unterkünfte der Lehrschwestern kurz nach der Mittagspause zu kontrollieren, da wurde auch etwas gestohlen und eine Schwester aus Dortmund - ich glaube, er sagte Gertrud - zu Unrecht verdächtigt. Auch Geschichten mit jungen Ärzten, die von den Schwestern nur Zigarettenmarken haben wollen, erzählt er umständlich. Die Untersuchung einer Abtreibung wegen, die eine Laborantin, nicht eine Krankenschwester, an sich selbst oder mit Hilfe eines Assistenzarztes vorgenommen hatte, findet er erzählenswert. Ich verstehe meinen Patienten nicht, der seinen Geist an diese Banalitäten verschwendet.

Auf meine Zwischenfragen reagierte er zunächst ungehalten. Aber dann konnte ich ihn doch noch von den Krankenschwestern ablenken. Herr Matzerath erzählte immer so begeistert von seiner glaszersingenden Stimme, die Glas ja nicht nur zerspringen ließ, sondern mit solcher Präzision zerschnitt, daß ich die Geschichten zuerst nicht glauben wollte, hätten nicht all seine Besucher, die ihn bereits aus Danzig kannten, die Wahrheit seiner Berichte bestätigt. Doch niemals hat mein Patient mehr über den Verlust dieser Fähigkeit erzählt, als daß er stattgefunden hat.

Er schenkt seinem Stimmbruch sogar weniger Aufmerksamkeit, als ich meinem, obwohl mir - in meiner ganz und gar normalen Entwicklung - nicht eine so große Fähigkeit verloren gegangen ist. Mein Patient sagt dazu stets er habe ja seine dreijährige Existenz beenden wollen, als er seine Trommel beerdigen ließ.

Doch ich glaube nicht, daß er diesen Verlust nie bereut hat. Zu seiner Trommel hat er ja auch zurückgefunden.

An dieser Stelle möchte Herr Matzerath wieder selbst die Feder führen. Weil aber seine Finger noch immer zu sehr schmerzen, habe ich versprochen sein Diktat festzuhalten, ohne ein Wort zu verändern:

Brunos Fragen haben einen Punkt erreicht, an dem ich mich nicht mehr einer Beantwortung entziehen kann. Es scheint, als würde mein Pfleger den Oskar besser kennen, als er dachte. Es war tatsächlich nicht bedacht, daß ich mit der Aufgabe meines dreijährigen Daseins auch meine Stimme verlieren könnte. Ob dies an meinen Schmerzensschreien im Zug meiner auf Stroh gebetteten, nicht mehr kindlichen, noch nicht erwachsenen Gestalt schon hörbar wurde weiß ich nicht mehr. Es gab in dem Güterwagen kein Glas, das ich hätte zersingen können, auch war es nie meine Absicht gewesen, meinen Schmerzen mit springendem Glas Ausdruck zu verleihen. Ein trommelloser Oskar, der ohne ausdrücklichen Willen, ohne Protest, ohne künstlerische Absicht, ohne Neugier oder Herausforderung Glas zum Bersten bringt wäre auch nicht der Oskar gewesen, der vom dreijährigen trommelnden Glaszersinger in Richtung Westen entlassen worden wäre. Vielleicht war es gut, daß mich auf der Reise kein Glas begleitete, hätte ich doch vielleicht versucht einen Rückzieher zu machen und meine Stimme zusammen mit der Trommel zurückgefordert, hätte wohl nach meiner Kindlichkeit, die ja schon verloren war, mein wenn auch verkrüppeltes Erwachsenendasein nie erreicht.

Ob ich meinen Entschluß bereue, fragt Bruno. Reue. Das ist eine merkwürdige Erfindung. Man tut etwas, bereut es, wünscht man hätte nicht getan, dann bräuchte man nicht bereuen und könnte tun. Was tun? Nicht tun. Ohne Reue tun. Doch tun. Wem tun? Dem, das, hier, jetzt, morgen, gestern nie tun. Still stehen. Weiterfließen. Untergehen. Nein. Oskar bereut nicht. Tut immer weiter. Stets neues. Nie altes. Kein zurück. Wenn Oskar entscheidet, dann entscheidet er. Und nimmt es auch nicht zurück, wenn er in schmerzensgeschüttelten Momenten vergisst, daß er die vergangenen siebzehn Jahre seine Dreijährigkeit bloß vorgespielt hat, und er in kindischer Manier das Gliederzerren wegschreien möchte.

Zu der Trommel könnte ich zurückkehren, was ich aber nicht vorhatte, wogegen aber meine glaszersingende Stimme nie zur Frag]e gestanden hatte. War es gut - war es schlecht - es war. Und als ich in den Krankenlagern langsam wieder zu Kräften kam, wurde mir im Gespräch mit den Krankenschwestern - die in ihren weißen Kitteln mit der Rotkreuzbrosche noch genauso aussahen, wie die geliebten Krankenschwestern in Danzig, aber auf eine andere Weise mit mir sprachen als jene, mich anders ansahen als jene, mich anders übersahen als jene - deutlich, daß ich nicht nur meine Trommel und meine Dreijährigkeit auf Saspe zurückgelassen hatte. Dort zwischen meinen Vätern - dem mutmaßlichen Vater, der auch Onkel gewesen sein könnte, der aber wenigstens einen Moment lang auch richtiger Vater war und dem, der nie einen Zweifel hatte richtiger Vater zu sein, es aber lieber nicht gewesen wäre, der aber, wenn er es nicht war, gar nichts war - dort lag mit einer rotweißgelackten Blechtrommel vergraben, das unschuldige Aussehen des dreijährigen Kindes, das dem Oskar recht viele Hintertüren offen gehalten hatte und die bereits erwähnte Glas zum springen bringende Kinderstimme.

Vermissen kann man es nennen, in manchen Augenblicken auch zurückwünschen. Nicht die Dreijährigkeit - der Teil meines Lebens war ebenso abgeschlossen, wie das Leben in Danzig, das es gar nicht mehr gibt, weil es G’Dansk heißt, als Kind von lebenden Eltern, derer es einmal drei waren, und die ich einer nach dem anderen umbrachte - nur die Potenz meiner Stimme, die fernwirkende Potenz, glaszersingende Potenz, verführende Potenz, erschreckende, erstaunende, erfreuende Potenz meiner kindlichen, kindischen Kinderstimme. Aber zuerst war es ein Erstaunen über den neuen Klang, dem ich ebensolche Aufmerksamkeit widmete, wie meiner gewonnenen Größe und der Form meines Buckels. Oskar begann seinen Körper neu zu entdecken, betrachtete Spiegelbilder mit der selben Neugier und auch Gleichgültigkeit - weil neues eben normal ist - wie der neugeborene, hellhörige Säugling den Wegfall seiner Nabelschnur verfolgte.

[...]

Excerpt out of 12 pages

Details

Title
Die Blechtrommel von Günter Grass
Subtitle
Stilanalyse mit dem Mittel der Parodie
College
University of Koblenz-Landau  (Germanistik)
Course
Parodieren statt studieren
Grade
2,0
Author
Year
2004
Pages
12
Catalog Number
V150256
ISBN (eBook)
9783640614721
ISBN (Book)
9783640614479
File size
429 KB
Language
German
Keywords
Günter Grass, Blechtrommel, Parodie, Parodieren statt studieren, Stilanalyse
Quote paper
M.A. Claudia Thur (Author), 2004, Die Blechtrommel von Günter Grass, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150256

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