Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Zur Quellenlage
3. Zur Wahl der Form
3.1 Besonderheiten der Form
4. Zur Konstruktion des Inhalts und der Perspektive mit Begriffsklärungen
5. Zur Besonderheit der Perspektive, Wahrnehmungsweise und Ausdrucksform
6. Bildklärung und Signifikanz der Wortwahl
7. Zu Harjos persönlicher Suche nach einer erfüllenden Weltsicht
8. Schluss
Bibliographie
1. Einleitung
Flöge man über ein Land und sähe auf die beschäftigten Menschen, so fände man schlafende, trinkende und essende Menschen, solche die Dinge tragen, solche, die etwas putzen, die Informationen austauschen, die sich von Punkt zu Punkt bewegen und so fort. Ein Puzzle funktioneller Verhaltensweisen setzen ein Leben zusammen. Wenn jemand wie Joy Harjo sich in unsrer Welt mit dem, was man Vision nennt, beschäftigt, dann sticht das heraus. Es ist nichts, was unsrer Gewohnheit nach alltäglich ist und zu unserem praktischen Leben gehört. Man kann drastisch fragen, wer hat in diesem Moment auf dieser Welt eine Vision? Wer hat in seinem Leben überhaupt schon einmal eine Vision gehabt?
Visionen existieren temporär und werden dem Anschein nach nicht jedem zuteil.
Dennoch versteht jeder etwas unter diesem Begriff und er wird oft benutzt. In unserem Kulturkreis schreibt man Visionen innovativen Denkern zu, die Ideen und Ausblicke entwickeln, die sich über das Jetzt und den Status quo hinwegsetzen. Beschränktheit des Denkens und Wahrnehmens werden gebrochen, um zu anderen Konzepten zu gelangen, die allgemein als höher und besser betrachtet werden. Damit verbindet sich auch der Fortschrittsgedanke im technischen und kulturellen Bereich. Zum Beispiel die Maschinisierung der Produktion oder die Veränderung des Zusammenlebens durch die Vision „Kommunismus“. Auffällig ist, dass die Vision als etwas Seltenes und wenigen Zuteilkommendes empfunden wird. Kennzeichnend ist vorallem, dass die Vision mit dem Wunsch der Verbesserung des Seins und der Befriedigung der Bedürfnisse verbunden ist.
Joy Harjos Gedicht „Vision“ ist entstanden im Kontext der modernen Welt.
Gleichzeitig ist sie Mitglied der Creek-Indianer, denn ihr Vater war creek und ihre Mutter teilweise cherokee, französisch und irisch[1]. Harjo ist also Teil einer extremen multikulturellen Verschmelzung und im Speziellen geprägt durch ihre indianischen sozio-anthropologischen Wurzeln, die ein autark entwickeltes Lebenskonzept enthalten.
Diese verbinden sich mit den Eindrücken des als Weltbürger Geborenen mit Zugang zu allen beliebigen Kulturen der Kontinente und der zugänglichen Überlieferung und lebendigen Äußerungen anderer autochton-amerikanischer Kulturen.
Mit letzteren hat sie sich gezielt im Studium am Institute of American Indian Arts in Santa Fe beschäftigt. Aktiv beteiligt sie sich an pan-indianischen Aktionen[2].
Außerdem ist sie der Säkularisierung der „westlichen Welt“ und ihrer Aufdringlichkeit wie jeder amerikanische Bürger ausgesetzt. Einer Umgebung, in der der Antrieb vorallem auf den Erwerb materieller Güter zielt und das Leben bestimmt wird durch die freie Marktwirtschaft. Trotz des damit erreichten Wohlstands und der außergewöhnlich guten Versorgung des Körpers und zusätzlich einem beachtlichen Freiraum für Verhalten, sind Depression und Unzufriedenheit verbreitet.
Die Depressionsanfälligkeit in der modernen Gesellschaft weist auf Mängel in der Versorgung bestimmter menschlicher Primärbedürfnisse hin. Das motiviert viele Menschen nach einer Lösung zu suchen, die die psychischen Mangelerscheinungen aufhebt.
Joy Harjo beschäftigt sich in „Vision“ mit dem Verlust und der Wiederentdeckung eines Gutes, das ihrer indianischen Kultur vertraut war und vielen verloren ging.
Sie findet einen Ausdruck für eine spirituelle Verbundenheit und hat die Fähigkeit, Visionen zu empfinden, die den Menschen fremd geworden sind, obwohl sie nach Harjo‘s Verständnis zu unserer Natur gehören und Seelenheil spenden.
Die Form, in der sie dies illustriert, ist von wenigen, kräftigen Bildern geprägt und folgt der Tradition oraler Überlieferung.
Um “Vision” zu verstehen, ist es notwendig, die Kulturausprägungen, die auf Harjo gewirkt haben, in ihrer Einzigartigkeit auf den Text zu beziehen. Vorallem ihre Teilhabe an indianischer Religiosität und Weltanschauung macht sie den Worten ihres Gedichts weitergehendere Bedeutungen verleihen als bloß solche westlicher Lexikalität.
Die folgende Interpretation von „Vison“ setzt deshalb einen kultur-philosophischen Schwerpunkt. Form und Inhalt werden durchgehend primär auf den weltanschaulichen Aspekt bezogen sein.
2. Zur Quellenlage
Bei meinen Recherchen zeigte sich, dass sich ein unerwartet reichhaltiger moderner Quellenfundus zu den indianischen Kulturen eröffnet – das Internet beherbergt Seiten über Seiten von Informationen, Datenbanken voller Geschichten und Mythen verschiedener Stämme. Die Aussagen, die veröffentlicht werden, stammen teils aus Fremddarstellungen, aber gerade auch aus Eigendarstellungen. Es läßt sich fasziniert entdecken, dass dieses Medium von Indianern genutzt wird, sich Stimme und Ausdruck zu verschaffen und gleichzeitig ihre Kultur zu dokumentieren.[3]
Die einfache Veröffentlichung und die weltweite Verfügbarkeit haben eine andere Wirkung als Bücher und erlauben eine lebendige Rezeption und gegenseitigen Austausch. Joy Harjo ist sich diesem Mittel sehr bewußt und veröffentlicht ihre Gedichte und Lieder im Internet. Sie erkennt es derart als Mitteilungsmedium an, dass sie regelmäßig auf ihrer Hompage Tagebuch führt und so ihre Gedanken den Besuchern mitteilt.[4]
3. Zur Wahl der Form
Man muss sich daran erinnern, dass ein Gedicht uns selbstverständlich ist, aber den indianischen Kulturen unbekannt.
Joy Harjo hat sich beim Niederschreiben von Gedichten für die Adaption einer westlichen Ausdrucksform entschieden. Auf diese Weise wählt sie ein breites Publikum.
Es ist ihr ein Anliegen „to keep traditional voices and songs alive by reconciling them with the world which now surrounds, and threatens to overwhelm, the oldest cultures in the United States.”[5]
Auch ist unser Verständnis davon, Sprache der schönen Form an sich wegen zu verwenden, zu wenig für das indianische Anwendungsbedürfnis. Äußerungen erzählen und gehören zur religiösen Praxis, wie alles tägliche Verhalten spirituell integriert ist[6].
„For [] all American Indians, every action or any occasion potentially generates a story.“[7]
3.1 Besonderheiten der Form
An keiner Stelle bleibt die Satzbewegung intakt, stattdessen wird durchgehend die Versgrenze bis zu dem Grad überschritten, dass sich sogar bis zu sechs Brechungen eines Satzes finden (V.5-11). Auf diese Weise wird der Rythmus modeliert und ähnlich dem Zwischenatmen eines Sprechenden. Tatsächlich läßt sich die Aufteilung auch auf die Eigenart musikalischer Gliederung beziehen, die eine melodiöse Unterteilung der Zeilen verlangt.[8] Diese Beobachtung findet sich auch in der Sekundärliteratur zu Harjo, die den Hinweis gibt, dass „a cadence marks her work that is reminiscent of the repetitions of the Indian ceremonial drum.” Ein Hinweis auf diese Beziehung zeigt sich in „Vision“ durch die explizite Erwähnung von Gesang in Vers 19 („hit air and sang“).
[...]
[1] http://www.wwnorton.com/naal/vol_E/explorations/harjo.htm
The Norton Antology of American Literature 2003,Volume E : American literature since
[2] http://college.hmco.com/english/lauter/heath/4e/students/author_pages/contemporary/harjocreek_jo.html, The Heath Anthology of American Literature, Fourth Edition, General Editor Paul Lauter
Copyright Houghton Mifflin Company
[3] Besipielsweise Apalachicola Creeks:“Their visible culture is simple but not antiquated. Nowadays, they make use of the modern materials readily available.“ http://www.freenet.tlh.fl.us/Museum/culture/PATTintro.htm
[4] http://www.joyharjo.com
[5] The Norton Antology of American Literature
[6] “These spokespeople insist, their whole culture and social structure was and still is infused with a spirituality that cannot be separated from the rest of the community's life at any point”
[7] http://www.freenet.tlh.fl.us/Museum/culture/PATTintro.htm
[8] Zur Illustration der verbreiteten Satzbrechung entlang
der Melodieeinheiten im Atemrythmus eines beliebigen Liedes:
“Abendstille überall,
nur am Bache die Nachtigall
singt ihre Weise klagend und leise
durch das Tal.”
Sichtbar wird daran auch, dass die Aufteilung erst vollen Sinn macht, wenn die Tonbelegung bekannt ist.