Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK)
3. Rahmenbedingungen des § 8a SGB VIII
3.1 Anlass und Zielsetzung
3.2 Bedeutung und Kritik
3.3 Komplexität des Schutzauftrags
4. Kerninhalte des § 8a SGB VIII
4.1 Standardisierung des Verfahrens zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos
4.1.1 Informationsgewinnung
4.1.2 Einschätzung zur Kindeswohlgefährdung im Fachteam
4.1.3 Mitwirkung und Beteiligung
4.1.4 Hilfeangebot
4.2 Vereinbarungen mit Trägern der freien Jugendhilfe
4.2.1 Inhalte und Auswirkungen vertraglicher Regelungen
4.2.2 Herausforderungen und Chancen erfolgreicher Kooperationen
4.2.3 Datenschutz
5. Umsetzungsanalyse am Beispiel Leipzigs
5.1 Analysefragen
5.2 Beispiel Leipzig: Umsetzung, Vergleich und Bewertung
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Sie heißen Kevin, Dennis oder Lea-Sophie, kommen aus verschiedenen Regionen Deutschlands und wurden von den eigenen Eltern schwer misshandelt; oft sind sie bereits tot, ehe ihr Schicksal bekannt wird. Immer wieder werden neue grauenhafte Fälle von Kindesvernachlässigung und -misshandlung durch die Medien kolportiert, so dass - trotz eigentlich stagnierender Zahlen - schnell der Eindruck entstehen kann, dass deren Häufigkeit in den letzten 15 Jahren massiv zugenommen haben muss. Gleichzeitig konfrontiert man die vielfach personell überforderten Jugendhilfebehörden mit Vorwürfen, ihr Wissen über gefährdete Familien nicht adäquat in geeignete Schutzmaßnahmen umgesetzt zu haben und somit eine - auch strafrechtlich zu verfolgende - Mitschuld an den furchtbaren Folgen elterlichen Versagens zu tragen. Ein Grund für diese Entwicklungen ist sicherlich in einer gestiegenen Sensibilität der Öffentlichkeit zu sehen, ein Druck, der letztendlich den Gesetzgeber dazu veranlasste, im Bereich des Kinderschutzes Nachbesserungen vorzunehmen. Ein solches Maßnahmenpaket beinhaltete das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK) aus dem Oktober 2005: Hier wurde u. a. der § 8a ins Sozialgesetzbuch (SGB) VIII eingeführt, der einen staatlichen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung postulierte.
Doch was war genau damit gemeint und worauf zielen die einzelnen Regelungen ab? Welche Aufgaben wurden mit Inkrafttreten des Gesetzes den öffentlichen Jugendhilfeträgern übertragen? Die Antworten darauf sollen die nachfolgenden Ausführungen geben und gleichzeitig am Beispiel der Stadt Leipzig die Umsetzung vier Jahre nach Verabschiedung der Norm betrachten. Dazu wird in den folgenden Kapiteln zunächst in das KICK kurz eingeführt und die Rahmenbedingungen des § 8a SGB VIII beleuchtet, ehe die Kerninhalte - die Standardisierung des Vorgehens bei Kindeswohlgefährdung und der Einbezug der freien Jugendhilfe in den Schutzauftrag - detailliert im Fokus stehen. Anschließend erfolgt aufbauend auf die gesetzlichen Forderungen eine Analyse der Umsetzungsmaßnahmen zum Stand des Jahres 2009 in der Stadt Leipzig auf Grundlage derer verabschiedeten Dienstanweisungen, Kooperations- und Rahmenvereinbarungen, welche schriftlich zur Auswertung angefordert wurden.
Abschließend noch folgender Hinweis: Da die benötigten Dokumentationen zur Umsetzung nicht wie der Autor vermutete frei öffentlich zugänglich waren, sondern explizit angefordert werden mussten, soll an dieser Stelle den Mitarbeitern des Jugendamts Leipzig für ihre schnelle und unbürokratische Hilfe gedankt werden, ohne die diese Arbeit nicht hätte rechtzeitig fertig werden können.
2. Das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz (KICK)
Mit dem am 01.10.2005 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz wurden durch die Bundesregierung zahlreiche Neuerungen im Bereich des Sozialgesetzbuchs VIII beschlossen, die Auswirkungen in Bezug auf die Tagesbetreuung, den Schutz vor Kindeswohlgefährung sowie die Steuerung der Jugendhilfe hatten. Im Folgenden soll in die Gesetzesbegründung sowie die Inhalte des Gesetzes kurz eingeführt werden:
Wie die entsprechende Bundestagsdrucksache (BT)[1] verlauten lässt, sei nach mehr als 10-jähriger Erfahrung im Umgang mit dem SGB VIII ein Bedarf nach besserer Steuerung, Verwaltungsvereinfachung und mehr Wirtschaftlichkeit der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe entstanden, der eine gesetzliche Novellierung notwendig mache. Der Wandel von Lebenslagen und Lebensplänen junger Menschen und neue Bedingungen der Arbeitswelt machten eine realitätsbezogene Anpassung auch der Rechtslage mit gezielten Änderungen und Konkretisierungen unumgänglich. So seien insbesondere in den Bereichen der Tagesbetreuung und Frühförderung sowie des Kinderschutzes und der wirtschaftlichen Steuerung Nachbesserungen vorzunehmen, um die Kinder- und Jugendhilfe zukunftsorientiert und bedarfsgerecht aufzustellen. Im Hinblick auf die Fragestellung nach der Umsetzung des § 8a SGB VIII sollen aber nur die konkreten Reformen im Bereich des Kindeswohls detailliert benannt werden. Hier hat der Gesetzgeber unter dem Stichwort „Besserer Schutz für Kinder vor Gefahren für ihr Wohl“ an fünf Stellen Korrekturen durchgeführt:[2]
- Konkretisierung des Schutzauftrags des Jugendamts (§ 8a)
- Neuordnung der vorläufigen Schutzmaßnahmen (Inobhutnahme nach § 42)
- bessere Kontrolle von Einrichtungen fundamentalistischer Träger (§ 45)
- stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls beim Sozialdatenschutz (§ 65)
- verschärfte Prüfung von Personen mit bestimmten Vorstrafen (§ 72a)
Die Implementierung des § 8a mit der Überschrift „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ ins SGB VIII und die daraus folgenden Anforderungen an die öffentliche und freie Jugendhilfe sollen nachfolgend betrachtet werden. Die Ausführungen fokussieren dabei auf den konkreten Inhalt des § 8a, seine Auswirkungen und seine Umsetzung in einer ausgewählten Kommune. Da die Absätze 3 und 4 der gewählten Rechtsnorm nur eine Neuformulierung bisher schon an anderer Stelle im SGB VIII genannter Vorschriften darstellen, werden diese ausgeblendet und nur die Absätze 1 und 2 betrachtet.
3. Rahmenbedingungen des § 8a SGB VIII
Ehe die konkreten Regelungen ausführlich erläutert werden sollen, ist es zuvor erforderlich, einige grundlegende Aspekte näher zu betrachten, welche für ein Verständnis der nachfolgenden Ausführungen unumgänglich sind. So stehen in diesem Kapitel Fragen nach dem Anlass und den Zielen des § 8a SGB VIII und seiner Bedeutung genauso im Zentrum wie eine Komplexitätsanalyse, welche die Bezugspunkte der Rechtsnorm zu anderen Gesetzen und Regelungen deutlich macht, u. a. eine Einordnung in die Problematik des staatlichen Wächteramts.
3.1 Anlass und Zielsetzung
Vor dem Hintergrund spektakulärer und tragischer Fälle von Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung sah sich der Gesetzgeber3 veranlasst, eine Regelung zu generieren, welche den aus Artikel 6 Abs. 2 Grundgesetz (GG) abgeleiteten und in § 1 Abs. 3 Nr. 3 statuierten Schutzauftrag des Jugendamts in einem neuen § 8a konkretisiert. Damit sollten zukünftig Unsicherheiten vermieden werden, ab wann ein Eingreifen in Fällen von Kindeswohlgefährdung geboten ist und wie insbesondere mit Informationen Dritter über mögliche Verdachtsfälle umgegangen werden soll. Zudem häuften sich, wie Wiesner4 ausführt, Verfahren gegen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe, die damit konfrontiert worden sind, ihre Garantenstellung verletzt zu haben, was letztendlich sowohl eine gewisse Ungewissheit und Angst bei Angestellten des Jugendamts zur Folge hatte, aber auch zu zahlreichen kommunalen Empfehlungsschreiben hinsichtlich des bestehenden Reformbedarfs führte.
Ein Grund für diese Fehlentwicklungen ist sicherlich in der Einordnung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ins SGB zu sehen: Damit sei es zu einer strukturellen Ambivalenz der Jugendhilfe gekommen, die einerseits ihren ursprünglichen kontrollierenden Schutzauftrag aus dem Grundgesetz nicht aufgegeben darf, sich andererseits aber dem Dienstleistungsgedanken des Sozialgesetzbuchs notwendigerweise öffnen muss. 5 Insgesamt sei eine rechtssystematische Neuorientierung zu konstatieren gewesen, welche verstärkt auf Leistungsgewährung auf Antrag bzw. auf Anfrage fokussiere sowie die gemeinsame partnerschaftliche Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe und Leistungsberechtigten betone.6 Mit der Einführung des § 8a SGB VIII wird der Schutz- und Kontrollcharakter nun wieder verstärkt in den Mittelpunkt gestellt.[3]
Ein weiterer Reformbedarf bestand hinsichtlich des Klärungsprozesses, welcher etwaigen Schutzmaßnahmen vorausgeht,[4] denn die bisherigen Formulierungen zum staatlichen Wächteramt im GG und SGB VIII enthielten keine Regelungen[5] über die diesen vorausgehende Phase, welche von der Beschaffung und Bewertung von Informationen über die Einschätzung[6] der Gefährdungssituation bis hin zur Abwägung und Auswahl verschiedener Handlungsoptionen reiche.[7] Hier soll der § 8a SGB VIII eine konkrete Vereinheitlichung ermöglichen, welche sozialarbeiterisches Handeln rechtlich normiert und somit Sicherheit für die Fachkräfte schafft.[8]
3.2 Bedeutung und Kritik
Geht es darum, den § 8a zu bewerten, kommt die überwiegende Anzahl der Autoren zu einem positiven Fazit: So sei die neue Regelung in ihrer Ausgestaltung ein „Qualitätssprung“[9] oder ein „Fahrplan für das Jugendamt“,[10] welcher erstmals gesetzlich das Vorgehen der Jugendhilfebehörden fest normiere.[11] Die Auswirkungen werden dagegen unterschiedlich eingeschätzt: Einerseits beschreibe die neue Rechtsvorschrift den Schutzauftrag deutlicher und aus verschiedenen Blickrichtungen,[12] sie enthalte zudem sowohl Verfahrensregelungen als auch Vorgaben hinsichtlich der Aufgaben des Ju- gendamts[13] und begründe ein Informationsbeschaffungsrecht.[14] Andererseits wird kritisiert, dass die Norm nur gesetzlich das klarstelle, was auch ohne ausdrückliche Formulierung unter Berücksichtigung fachlicher Standards im Umgang mit Kindeswohlgefährdung niemand bisher bezweifelt habe bzw. in der Praxis längst umgesetzt würde, so dass man weitergehende Eingriffsbefugnisse des Jugendamts in die Rechte der Betroffenen im Vergleich zu den alten Regelungen vergeblich suche.[15] Auch die Wirkung auf den Charakter der Leistungen wird z. T. negativ beurteilt: So sehen Kappeler u. a.[16] die Gefahr, dass sich die breite gesetzliche Verankerung des Kinderschutzauftrags zu einem Argument für eine repressive Aufrüstung der Jugendhilfe entwickle und damit sozialstaatliche Überwachungs- und Eingriffstendenzen verstärke. Bringewat[17] sieht zudem die Position des Paragrafen als fragwürdig an: Zwar sei eine Einordnung in den allgemeinen Teil als sinnvoll einzuschätzen, doch hätte die Schaffung eines §1a dem Fundamentalcharakter des jetzigen § 8a angemessener entsprochen.
3.3 Komplexität des Schutzauftrags
Die Formulierungen des Schutzauftrags in § 8a SGB VIII haben zahlreiche Anknüpfungspunkte an andere Rechtsnormen, die in den bisherigen Ausführungen z. T. auch schon kurz anklangen. Die nachfolgenden Erläuterungen sollen diese Bezüge darstellen und somit die Komplexität der Vorschrift verdeutlichen:
1. Elternverantwortung - Wächteramt - Schutzauftrag
Wie Bringewat[18] ausführt, erschließen sich Sinn und Zweck des § 8a SGB VIII in vollem Umfang erst im Rückbezug auf das staatliche Wächteramt. Dieses findet seinen Ursprung im Art. 6 GG:[19] Hier ist zunächst in Abs. 2 Satz 1 die grundsätzliche Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Eltern bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder geregelt, d. h. die Personensorgeberechtigten[20] (PSB) können frei von staatlichem Einfluss nach eigenen Vorstellungen ihren Erziehungsauftrag ausgestalten, solange das Kindeswohl oberste Priorität hat. Werden die Eltern ihrer Verantwortung nicht gerecht, weil sie nicht bereit oder in der Lage sind, ihren Erziehungsauftrag wahrzunehmen oder gefährden sie mit ihren Verfehlungen das Wohl des Kindes auf Dauer erheblich, kommt das Wächteramt des Staats nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 zum Tragen: Es verpflichtet ihn, schützend einzugreifen und die Pflege und Erziehung sicherzustellen. Dabei bleibt nach §1666 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die Gefährdung des Kindeswohls die entscheidende Interventionsschwelle, die zur Aktivierung staatlicher Maßnahmen überschritten werden muss. Die Ausgestaltung dieser Schutzpflicht ist Aufgabe des Gesetzgebers und soll nach Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit soweit wie möglich darauf ausgerichtet sein, die Eltern zu beteiligen.[21]
2. Dimensionen des Schutzauftrags
Der aus dem staatlichen Wächteramt abgeleitete Schutzauftrag lässt sich in zwei Sachbereiche zerlegen:[22] Zum einen in die Aufgabe, durch konkrete Interventionen zu Gunsten von Kindern und Jugendlichen bei vorliegender Kindeswohlgefährdung unter Zurückdrängung des elterlichen Erziehungsvorrangs, Schaden abzuwenden und zum anderen in den Auftrag, durch unterstützende Maßnahmen eine verantwortungsgerechte Erziehung durch die PSB zu gewährleisten und so möglichen Gefährdungen i. S. von § 1666 BGB von vornherein vorzubeugen. Es lässt sich also innerhalb des Schutzauftrags ein Präventionsbereich als auch ein Interventionsbereich feststellen, wobei die Absätze 1 und 2des neuen § 8a SGB VIII der ersten, die Absätze 3 und 4 der zweiten Dimension zuzuordnen sind. Zentrale Aspekte sind dabei jeweils der Umgang mit Informationen über kritische Verhaltensweisen, die Einschätzung der Gefährdungssituation und die Wahl der geeigneten und verhältnismäßigen Mittel.[23] Die Verantwortung hierfür obliegt den jeweiligen Fachkräften der Jugendämter.
3. Schutzauftrag - Garantenpflicht
Die Regelungen des Schutzauftrags begründen aus der Perspektive des Strafrechts eine sogenannte Garantenstellung der Mitarbeiter der Jugendhilfebehörden, weshalb sie neben der zivil- und arbeitsrechtlichen Haftung unter bestimmten Voraussetzungen auch eine strafrechtliche Verantwortung treffen kann.[24] Bringewat[25] führt hierzu näher aus, dass aufgrund des Schutzauftrags jedes Kind einen individuellen Anspruch gegenüber den zuständigen Mitarbeitern des Jugendamts auf Maßnahmen zum Schutz seines Wohls hat. Die Fachkräfte nehmen hier die Rolle eines Beschützergaranten ein, d. h. sie müssen Gefährdungen von den Kindern und Jugendlichen fernhalten, insoweit die Eltern dazu nicht in der Lage sind bzw. die Ursache für die Gefahren darstellen. Lange Zeit bestand hinsichtlich dieses Auftrags große Unsicherheit unter den Angestellten der Jugendämter, weil die Formulierungen des § 1 SGB VIII hier zu allgemein und kurz gefasst waren. Durch die ständige Rechtssprechung wurde jedoch die Herleitung der Garantenstellung aus dem Grundgesetz und dem SGB VIII bestätigt. Diese Zuweisung werde nach Trenczek[26] in der Praxis jedoch nicht selten als Zumutung oder Damoklesschwert betrachtet und veranlasse Mitarbeiter dazu, gewisse Absicherungsmentalitäten zu entwickeln. Als Reaktion wurden in der Praxis zahlreiche fachliche Standards zum konkreten Vorgehen entwickelt, die jedoch den Regelungsbedarf im Gesetz nicht ersetzen konnten.[27]
4. Regelungsbedarf[28]
Mit der Einführung des § 8a SGB VIII griff der Gesetzgeber die bestehenden Ungewissheiten auf und versuchte durch die Schaffung einer neuen, den Verfahrensablauf und den Schutzauftrag konkretisierenden Norm die Arbeitsweise der Jugendhilfe i. S. der Sicherung des Kindeswohls zu verbessern. Dazu generierte man Regelungen, welche die Informationsgewinnung über mögliche Gefährdungen, die Beteiligung von Eltern und Kindern, die Risikoeinschätzung und den Datenschutz gesetzlich spezifizieren. Zudem wurden freie Träger erstmals in den Prozess einbezogen. Die genauen Bestimmungen der Norm sollen nun nachfolgend detailliert analysiert werden.
4. Kerninhalte des § 8a SGB VIII
Wie bereits erläutert, besteht der § 8a SGB VIII aus vier Absätzen. Der erste hat die Standardisierung der Risikoeinschätzung zum Inhalt, der zweite regelt den Einbezug von freien Trägern in die Wahrnehmung des Schutzauftrags, der dritte bestimmt mit der Anrufung des Familiengerichts und der Inobhutnahme mögliche Interventionen und der vierte enthält Vorgaben zur Einschaltung anderer Institutionen. Im Folgenden sollen nur die Kerninhalte der Absätze 1 und 2 dargelegt werden.
4.1 Standardisierung des Verfahrens zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos
Der erste Absatz konkretisiert den Schutzauftrag des Jugendamts, indem er den Prozess der Informationsgewinnung und das Assessment-Verfahren genauer und somit verbindlich ausformuliert. Die nachstehenden Kapitel thematisieren dabei die Gewinnung von Informationen über mögliche Gefährdungen und den Umgang damit sowie die Einschätzung zur Kindeswohlgefährdung durch die qualifizierten Fachkräfte unter Mitwirkung der Eltern und Kinder und das entsprechende Hilfeangebot.
4.1.1 Informationsgewinnung
Gemäß § 8a Abs. 1 Satz 1 setzt die Tätigkeit des Jugendamts ein, wenn ihm gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kinds oder Jugendlichen bekannt werden. Mit dieser Formulierung stellen sich drei wesentliche Fragen:
1. Was sind gewichtige Anhaltspunkte, die auf eine Kindeswohlsgefährdung deuten?
2. Wie gelangt das Jugendamt an diese Informationen?
3. In welcher Form muss die Behörde mit den Anhaltspunkten umgehen? zu 1:
Anhaltspunkte sind nach Bringewat[29] tatsächliche Umstände, die auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten. Demnach sind spekulativ geäußerte Vermutungen und intuitive oder in anderer Weise emotional motivierte Werturteile nicht als Hinweise zu deuten, sofern sie nicht durch konkludente Schilderungen realer Umstände unterlegt sind. Stattdessen muss es sich um konkrete und in der Einschätzung des Jugendamts, basierend auf dem in der Vergangenheit erworbenen Erfahrungs- und Handlungswissen,[30] um bedeutende Anzeichen oder ernst zu nehmende Annahmen handeln.[31] Krug[32] setzt für einen Eingriff des Jugendamts mindestens die Feststellung objektiver.
[...]
[1] Vgl. BT-Drucksache 15/3676, S. 1.
[2] Vgl. Wiesner, 2008, S. 15.
[3] Vgl. BT-Drucksache 15/3676, S. 30.
[4] Vgl. 2008, S. 15.
[5] Vgl. Wiesner, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 1.
[6] Vgl. Wiesner/Schindler/Schmid, 2006, S. 25; Kunkel/Bringewat, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 2.
[7] Vgl. Wiesner, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 2.
[8] Vgl. Kunkel, 2006, S. 37.
[9] Jordan, 2008, S. 25.
[10] Kunkel, 2006, S. 37.
[11] Vgl. Kunkel/Bringewat, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 5.
[12] Vgl. Trenczek, 2008, S. 155; ebenso Krug/Grüner/Dalichau, SGB VIII, § 8a, S. 6 ff.
[13] Vgl. Trenczek, 2008, S. 156; Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 2.
[14] Vgl. Krug/Grüner/Dalichau, SGB VIII, § 8a, S. 7; Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 2.
[15] Vgl. Trenczek, 2008, S. 155; Krug/Grüner/Dalichau, SGB VIII, § 8a, S. 10; Mörsberger, 2008, S. 342.
[16] Vgl. 2008, S. 4.
[17] Vgl. Kunkel/Bringewat, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 9.
[18] Vgl. Kunkel/Bringewat, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 12.
[19] Vgl. Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 3 ff.
[20] Fortwährend trotz kleinerer Differenzen als Synonym für Eltern und Erziehungsberechtigte verwendet.
[21] Vgl. Wiesner, SGB III, § 8a, Rdnr. 6.
[22] Vgl. Kunkel/Bringewat, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 12.
[23] Vgl. Wiesner, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 9.
[24] Vgl. Trenczek, 2008, S. 156.
[25] Vgl. Kunkel/Bringewat ,SGB VIII, § 8a, Rdnr. 68 ff.
[26] Vgl. Trenczek, 2008, S. 156 f.
[27] Vgl. Wiesner, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 11.
[28] Vgl. Wiesner, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 12.
[29] Vgl. Kunkel/Bringewat, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 18.
[30] Vgl. Jordan, 2008, S. 28.
[31] Vgl. Wiesner, SGB VIII, § 8a, Rdnr. 13.
[32] Vgl. Krug/Grüner/Dalichau, SGB VIII, § 8a, S. 9.