Teilhabeplanung als gemeindepsychiatrischer Kernprozess

Wege zur Partizipation im Spannungsfeld professioneller Handlungsorientierungen


Masterarbeit, 2009

201 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Aktuelle Veranderungen
2.1 Gesellschaftliche Veranderungen
2.2 Bundesweite Entwicklungen in der Psychiatrie
2.3 Begriffsbestimmung
2.3.1 Menschenrechte und Behindertenrechte
2.3.2 Teilhabe
2.3.3 Medizinische und sozialpadagogische Diagnosekonzepte und das Teilhabekonzept der ..International Classification of Functioning, Disability and Health", ICF
2.3.4 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX)
2.4 Menschenrechte, Teilhabe und Sozialrecht - angemessene Verfahren
2.5 Wandel der Administration in ein offentliches Dienstleistungsunternehmen
2.5.1 Das neue Steuerungsmodell
2.5.2 Aktuelle Verlautbarungen der Bundesarbeitsgemeinschaft uberortlicher Sozialhilfetrager (BAGuS)
2.6 Wandel der „Versorgungslandschaft" - Zusammenarbeit der Leistungserbringer
2.7 Qualitat sozialpsychiatrischer Leistungen

3 Das Handlungsforschungsprojekt als Forschungsarbeit zum „Praxistest Integrierte Teilhabeplanung (ITP) in Wiesbaden"3Z
3.1 Vorerfahrungen und Ausgangslage in Hessen
3.1.1 Organisation
3.1.2 Vorlauferprojekte
3.1.2.1 Verfahren und Instrumente
3.1.2.2 Finanzierung
3.1.2.3 Konzeptentwicklung Gesamtsteuerung
3.2 Der Praxistest
3.2.1 Projektregion
3.2.2 Zielgruppen
3.2.3 Weiterentwicklung
3.2.4 Projektvereinbarungen und Ziele, Auftrag und Auftraggeber
3.2.5 Ablauf des Praxistests
3.2.6 Stakeholder des Implementationsprojekts Hessen
3.3 Das Handlungsforschungsprojekt
3.3.1 Quantitative und qualitative Methoden des Gesamtprojekts
3.3.2 Auseinandersetzung mit dem ITP - methodische Schritte
3.3.3 Forschungsethische Entscheidungen
3.3.4 Arbeitshypothesen
3.3.5 Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen
3.3.5.1 Forschungsfragen der quantitativen Befragung
3.3.5.2 Forschungsfragen zu den Gruppendiskussionen
3.3.5.3 Forschungsfragen zur Anwendung des ITP
3.3.6 Methoden und Vorgehen
3.3.6.1 Methode und Vorgehen bei der quantitativen Befragung
3.3.6.2 Methode und Vorgehen: Qualitative Gruppendiskussion
3.3.6.3 Vorgehen bei der qualitativen Auswertung der ITP
3.3.7 Aussagen und Trends der Erhebungen
3.3.7.1 Aussagen der quantitativen Forschung
3.3.7.2 Aussagen der Gruppendiskussionen
3.3.7.3 Aussagen zur ITP-Auswertung
3.3.7.4 Zusammenfassung aller Ergebnisse in Bezug auf die Forschungsfragen
3.3.8 Ausblick und Folgeuberlegungen

4 Systemtheoretisch-Konstruktivistische Ansatze als Hintergrundfolie
4.1 Der Konstruktivismus
4.1.1 Der/die „neutrale“ BeobachterIn
4.1.2 Subjekt-Objekt
4.1.3 Ursache - Wirkung?
4.1.4 Konstruktivistisches Denken in der Postmoderne
4.2 Systemtheoretische Grundlagen
4.2.1 Beteiligte Systeme
4.2.2 Kommunikation als Organisationsprinzip
4.3 Systemmerkmale
4.3.1 Funktionale Differenzierung
4.3.2 Systemzweck
4.3.3 Autopoiesis und operative Geschlossenheit85 System-Umwelt-Differenz/Exkurs: Inklusion - Exklusion
4.3.4 Komplexitat und Kontingenz
4.3.5 Sinn - generalisierte Kommunikationsmedien - Codes
4.3.6 Zeitliche Komplexitat
4.3.6.1 Emergenz
4.3.6.2 Selbstreferentialitat
4.3.6.3 Evolutionsmodell der Veranderung
4.4 Essenz fur die Praxis

5 Forschung in systemtheoretisch-konstruktivistischer Sichtweise
5.1 Folgerungen fur qualitative Forschung
5.1.1 Zur Analyse der ITP
5.1.2 Analyse handlungsleitender Orientierungen von ITP-ErstellerInnen
5.2 Stand der Forschung im Hinblick auf Teilhabeplanung
5.3 Neue Hypothese und Forschungsfragen
5.4 Die Hypothese
5.5 Methode
5.5.1 Methodenwahl
5.5.2 Datengrundlage und Stichprobe
5.5.3 Zur Auswahl des Datenmaterials
5.6 Dokumentarische Evaluationsforschung - Formulierende Interpretation
5.6.1 Formulierende Interpretation bei der Gruppendiskussion
5.6.1.1 Thematische Gliederung der Gruppendiskussion Leistungserbringer/ITP-ErstellerInnen
5.6.1.2 Erste zusammenfassende Orientierung und Interpretation der gesamten Gruppendiskussion
5.6.2 Formulierende Interpretation des ITP
5.6.2.1 Thematische Gliederung des ITP
5.6.2.2 Professionelles Handeln - in Verben des ITP thematisiert
5.7 Dokumentarische Evaluationsforschung - Reflektierende Interpretation
5.7.1 Reflektierende Interpretation der Gruppendiskussion
5.7.1.1 Gruppendiskussion, Passage 1, 30-103: Anwendung des ITP:
5.7.1.2 Gruppendiskussion - Passage 2, 200-280: der ITP und die Sicht der NutzerInnen - auch der Sicht der Teilhabe Planenden
5.7.1.3 Gruppendiskussion - Passage 3, 308-383: Umgang mit Frustrationen bei KlientInnen
5.7.2 Reflektierende Interpretation der Integrierten Teilhabeplanung - ITP
5.7.2.1 Reflektierende Interpretation - Ziele und Ressourcen im ITP
5.7.2.2 Reflektierende Interpretation - Fallexterner Vergleich der ITP- ErstellerInnen aus allen Beispiel-ITP
5.7.2.3 Vergleichshorizonte der Beispiel- ITP fallintern
5.7.2.4 Vergleichshorizonte der Teilhabeplanenden - fallubergreifend:
5.7.2.5 Typenbildung

6 Zusammenfuhrung der Ergebnisse in der Zusammenschau von Gruppendiskussion und Teilhabeplanung und Interpretation in Bezug auf die Forschungsfragen
6.1 Zur Hypothese
6.2 Darstellung der Ergebnisse, Interpretation und mogliche Handlungsansatze im Hinblick auf die Forschungsfragen
6.2.1 Aussagen zur Einfuhrung einer neuen Systematik
6.2.2 Handlungsleitende Orientierungen der Teilhabe Planenden
6.2.3 Bilder der Teilhabe Planenden vom Nutzer, von der Nutzerin
6.2.4 Das Planungsverstandnis der Teilhabe Planenden
6.2.5 Die Praxis der Kommunikation bei der Erstellung des integrierten Teilhabeplans
6.2.6 Die Handlungskompetenzen der Teilhabe Planenden
6.2.7 Das Berufsrollenprofil der Teilhabe Planenden
6.2.8 Die Aussagen der Teilhabe Planenden zum Medium ITP
6.2.9 Bewertung des Gesamtprojekts PerSEH/Praxistest

7 Zusammenfassung und Diskussion

8 Literaturverzeichnis und Web-Dokumente

1 Einleitung

Mein Arbeitsfeld ist seit 8 Jahren die Koordination des Gemeindepsychiatri- schen Verbundes Kaufbeuren/Ostallgau, mein Anstellungstrager der Bezirk Schwaben als Leistungstrager (SGB XII) der dritten kommunalen Ebene in Bayern (Sozialverwaltung, Abteilung Kompetenzzentrum Sozialpsychiatrie). Der Gemeindepsychiatrische Verbund hat sich mit einer Kooperationsvereinbarung zur Zusammenarbeit der Leistungserbringer zur Umsetzung der Versorgungs- verantwortung verpflichtet und mit dem Sozialhilfetrager eine Vereinbarung zur gemeinsamen Durchfuhrung des Gesamtplanverfahrens nach § 58 SGB XII ge- schlossen. Die Hilfeplankonferenz wurde im Rahmen des bundesweiten Mo- dellprojekts der AKTION PSYCHISCH KRANKE (APK) ..Implementation eines Personenzentrierten Regionalen Hilfesystems“ eingerichtet; als einzige Hilfe­plankonferenz in Bayern ist sie jedoch bisher eine Insellosung geblieben. Im Rahmen meiner Koordinationstatigkeit gehort es zu den Alltagsaufgaben, mit Menschen in psychischen Krisen bzw. mit seelischer Behinderung bzw. bedroht von seelischer Behinderung nach § 53 SGB XII, Angehorigen und Mitarbeite- rInnen in unterschiedlichsten Organisationen und Kontexten Vorgesprache zu fuhren, nachfragende und leistungsberechtigte Personen zu beraten, geplante Unterstutzungsformen zu besprechen, Hilfeplanungen nach § 58 SGB XII (Ge- samtplanverfahren des Verbandes der Bayerischen Bezirke) zu begleiten, die Hilfeplane in der gemeinsamen Hilfeplankonferenz abzustimmen und dazu Stel- lung zu nehmen.

Im Rahmen des Handlungsforschungsprojekts im Masterstudiengang GP 07 setzte ich mich auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen mit der Entwicklung der personenzentrierten Teilhabeplanung in Hessen auseinander und leitete erste Bewertungen bezuglich der ITP-ErstellerInnen ab.

In beiden Zusammenhangen erlebte ich sowohl erfreutes Befurworten der ge- planten Veranderungen als auch deutliche Ablehnung, ein Verstehen der Ziele und des Verfahrens oder ein Nichtverstehen. Hilfe- und Teilhabeplanung ist von unterschiedlichsten Interessen gepragt, und Begriffe wie Personenzentrierung oder Teilhabe dienen als Hulse fur unterschiedlichstes Verstehen und divergie- rende Absichten. Die NutzerInnen, aber auch die Teilhabe planenden Personen hegen angesichts von ,integrierter Teilhabeplanung’ Befurchtungen und Hoff- nungen, sie erleben Instrumente als Planungshilfe oder als burokratisierende Teilhabehemmnisse (vgl. Bremer 4/2008:15). Diesen Widerspruchen in Bezug auf die Teilhabeplanung mochte ich in dieser Arbeit nachgehen - und dabei insbesondere den Fokus auf die Teilhabe planenden Perso]nen unterschiedli- cher Profession richten.

Zunachst wird der Stand der aktuellen Diskussionen um Rechte von Menschen mit seelischer Behinderung, um Begriffe wie Personenzentrierung, Gemeinde- psychiatrie, die Diagnostik und die Reformbestrebungen der Sozialadministrati- on (ausschlieRlich nach SGB XII) zur Vereinbarung dieser inhaltlichen Punkte mit dem gesetzlichen Auftrag der Sicherstellung, Finanzierung und der Steue- rung geschildert.

Danach stehen der Prozess und die Ergebnisse des Handlungsforschungspro- jekts, das mit den KommilitonInnen Cornelia Hecklau und Peter Hoffmann be- arbeitet wurde im Mittelpunkt; ich werde dabei besonders auf meine For- schungsergebnisse eingehen, da sie mich zu der fur diese Masterarbeit erwei- terte Fragestellung des Prozesses der Teilhabeplanung als gemeindepsychiat- rischem Kernprozess gefuhrt haben.

Zum sozialen Handeln gehort auch die Planung der Teilhabe - sie findet im komplexen Kontext statt und ist selbst komplex. Die vertiefte theoretische Aus- einandersetzung mit Konstruktivismus und Systemtheorie sowie mit qualitativer Forschung im darauf folgenden Teil entspricht dem tatsachlichen prozesshaften Vorgehen und Nach-Denken im Rahmen qualitativer Forschung und soll als Mit- tel zur Erweiterung von Komplexitat, zur „Steigerung des Auflose- und Rekom- binationsvermogens" (Luhmann 1984:659), den Blickwinkel auf die Thematik bezogen offnen. Ich wahle das Bezugssystem Soziale Arbeit, da mir der von Baecker (Aufruf vom 9.06.09) und Kleve (2003) vorgeschlagene Code Hil- fe/Nicht-Hilfe fur die Teilhabeplanung brauchbar erscheint - und versuche, nicht der „fallacy of misplaced concreteness" zu erliegen, also die aufgeworfene Komplexitat nicht zu vereinfachend in Bezug auf die gestellten Fragen zu redu- zieren (vgl. Luhmann 2008:9).

Soziales Handeln und Soziale Arbeit setze ich in dieser Arbeit gleich, da sich die Anforderungen in Bezug auf die Aufgabe der Teilhabeplanung nicht vorran- gig professionsspezifisch, sondern multiprofessionell bzw. berufsgruppenuber- greifend stellen. Der Forschungsteil dieser Arbeit mochte den professionellen Handlungs- orientierungen, wie sie sich in der Gruppendiskussion und Teilhabeplanen aus- drucken nachgehen. Dazu werden die theoretischen Voruberlegungen mit den Ergebnissen des Handlungsforschungsprojekts in eine neue Hypothese uberge- fuhrt und das veranderte qualitative Vorgehen geschildert. Mit der Methode der Rekonstruktiven Sozialforschung wird eine veranderte Auswahl getroffen und die Dokumente analysiert. Im Anschluss erfolgen die Darstellung der Ergebnis- se und die Diskussion.

Aufgrund meines konkreten Arbeitsfeldes beschranke ich mich in Beispielfallen und Grundlagen auf den Bereich psychischer Erkrankungen, werde in Anbet- racht des Behinderungsarten ubergreifenden Konzepts von PerSEH inhaltlich nur in einem groben Abriss auf Psychiatrie Bezug nehmen und keine Vertiefung bezuglich spezifischer Krankheitsfolgen von Menschen mit chronischer psychi­scher Erkrankung vornehmen. Zur Zeitbemessung, der Finanzierungssystema- tik und den weiteren Steuerungselementen nehme ich nur insoweit Bezug, als es fur die inhaltliche Fragestellung sinnvoll erscheint.

2 Aktuelle Veranderungen

Im Folgenden soll in Kurze der Kontext des Modellpro- jekts/Handlungsforschungsprojekts geschildert werden - die gesellschaftlichen Veranderungen, die Entwicklungen in der Psychiatrie, die Menschen- und Be- hindertenrechtsdiskussion, Begriffe der Selbstbestimmung und Teilhabe, Per- sonenzentrierung und Gemeindepsychiatrie sowie die Ebene der Administration und der Leistungserbringer.

2.1 Gesellschaftliche Veranderungen

Die gesamte Gesellschaft ist von Veranderungen gepragt, die Chancen und Ri- siken fur die Einzelnen mit sich bringen. Beck (1986:206) die Dimensionen von Individualisierung dreifach:

- Die Auflosung tradierter Sozial- und Kontrollbindungen - „Freisetzungsdimension“

Fur Menschen bedeutet dies das Herausfallen aus traditionellen Herrschafts- und Versorgungszusammenhangen, z.B. der Mehrgenerationenfamilie, Veran- derung der Rollenanforderung bei Frauen und Mannern; Mehrfachbelastung von Frauen, Mobilitat im Beruf und das damit zusammenhangende Dunnerwer- den des sozialen Netzes; Pluralisierung von Familienformen und Desintegrati- onsprozesse zwischen den Generationen, Unsicherheit bezuglich des eigenen Status und sozialen Milieus innerhalb der Gesellschaft, Verarmungsrisiko brei- ter Schichten. Die wohlfahrtsstaatliche Absicherung hat einerseits diesen Erosi- onsprozess abgefedert, andererseits dazu beigetragen; private Solidarleistun- gen wurden durch soziale Sicherungssysteme ersetzt.

- Die Erosion normativer Sinnhorizonte - „Entzauberungsdimension“

Dies ist gleichbedeutend mit dem Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Werte, Alltagsethik und Geschlechtsrollenmuster. Die mediale und computerisierte Welt stellt vollig neue Anforderungen an ihre NutzerInnen (vgl. Baecker, Aufruf vom 9.06.09). Werte haben situations- und kontextbezogen eingeschrankte Geltung; anstatt althergebrachter ,Normalitat’ gilt es, innerhalb pluralisierter Lebensmoglichkeiten die eigene Form des Lebens und Zusam- menlebens zu wahlen. Normative Orientierungsunsicherheit bis hin zum Orien- tierungsverlust kann zu erheblichen Identitats- und Sinnkrisen fuhren (Herriger 2006:40ff).

- Die Entstrukturierung der subjektiven Lebenslaufe - „Reintegrationsdimension“

Dies ist gleichbedeutend mit der Auflosung selbstverstandlicher, vorhersehbarer Lebensweg-Programme. Die Dynamik von Beziehungs-, Haushalts-, Arbeits- und Lebensformen nimmt zu, damit verbunden die Entkoppelung bisher selbst­verstandlicher Kopplungen, z.B. berufliche Qualifikation, Arbeit und Auskom- men. Ganze Branchen und GroRbetriebe brechen zusammen, Berufserfahrung verliert an Wert - erwartet wird die Bewaltigung von Beschleunigung, lebens- langes Lernen und permanente Veranderungsbereitschaft. Individuelle und fa- miliare Biographien werden auf diesem Hintergrund zunehmend unkalkulierbar. Erwartungen in Beziehungen werden als zunehmender Druck erlebt.

Diese Entwicklung bietet den Individuen neue Freiheiten; sie haben die Chance, zu Regisseuren der eigenen Biografie zu werden und individuell ,passgenaue‘ Identitats-, Arbeits- und Familienmodelle zu entwerfen und zu leben. Gerade die Freiheit zur Gestaltung tragt aber auch die Konsequenz in sich, dass Nichtges- taltung heiRt, eine Chance zu vergeben. Es bleibt keine Wahl: „individualisiertes Leben ist zur Freiheit verurteiltes Leben“ (Herriger 2006:41).

Jede Person ist besonders in Obergangssituationen Risiken ausgesetzt, da sie nicht mehr an uberlieferten Modellen anknupfen kann, sondern standig in Wahl- und Entscheidungssituationen um Orientierung ringen muss, um nicht in einer Sackgasse zu landen. Koharentes Leben erfordert heute ein hohes MaR an Selbststeuerung, Bewusstsein, Kommunikations- und Kooperationsfahigkeit, Flexibilitat und Toleranz - die Alternative ist radikale Verunsicherung bis hin zum „biografischen Schiffbruch“ (ebd.), hin zu Identitats- oder Sinnkrisen und Leiden, die fur viele Betroffene in psychische Erkrankungen munden.

Die beschriebenen gesellschaftlichen Veranderungen fuhren zu einer erhebli- chen Zunahme psychischer Erkrankungen mit hohen direkten und indirekten Gesundheitskosten (Pravalenz: das Lebenszeitrisiko fur eine psychische Er- krankung liegt bei uber 50%; Wittlich - Aufruf vom 3.06.09). Nach der DAK- Studie von 2004 lag der Anteil psychischer Erkrankungen mit 10,6% aller Ar- beitsunfahigkeitstage (AU-Tage) bei den Frauen an dritter Stelle und mit 7,4% aller AU-Tage bei den Mannern an vierter Stelle aller Erkrankungen. In einer Rangfolge der wichtigsten Einzeldiagnosen sind depressive Erkrankungen (F32 Depressive Episode) mit 2,8% die vierthaufigste Diagnose. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstorungen (F43) rangieren auf Platz 10 der Einzeldiagnosen. Langer andauernde Arbeitsunfahigkeit ist verbunden mit dem Risiko einer Abwartsbewegung sozialer Marginalisierung - mit Ausfallen im Arbeitsleben, Arbeitsplatzverlust, familiaren Belastungen, hoherer korperlicher Morbiditat, Verarmung und Wohnungslosigkeit. Psychische Erkrankungen lie- gen inzwischen an erster Stelle bei Erwerbsunfahigkeit und Fruhverrentung. 2002 lag der Anteil der Frauen bei 38%, der Anteil der Manner bei 27 % - mit steigender Tendenz und sinkender Anzahl von Beitragsjahren (Ziel- ke/Limbacher, Aufruf vom 3.06.09). Letztlich ist die Sterblichkeit von Menschen mit psychischer Storung/Abhangigkeitserkrankung wesentlich erhoht (vgl. Rich­ter 2003:30).

Fur Behandlung, Rehabilitation und soziale Behindertenhilfe ergeben sich neue Aspekte: wird die Orientierung an der Lebenswelt (und damit echte Entlastung und Unterstutzung) heutiger Menschen ernst genommen, stehen bewahrte Zie- le und Methoden (z. B. Einwegkommunikation von sozial Tatigen zu Hilfebe- durftigen in eigenen institutionellen Raumen, Wissensvermittlung) auf unsiche- rem Terrain. Hilfe muss sich angesichts eines vollig veranderten Lebensum- felds, gekennzeichnet durch eingegrenzte Raume, zerteilte Zeiten und zerrisse- ne Welten prozesshaft in individuell gelebtes Leben „einklinken“.

2.2 Bundesweite Entwicklungen in der Psychiatrie

In Deutschland waren Menschen mit seelischen Behinderungen bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts isoliert, verwahrt und ZwangsmaRnahmen ausge- setzt, die Behandlungsansatze schwankten zwischen der Orientierung an ge- sellschaftlichen Forderungen nach ,Ruhe und Ordnung’, an somatisch ange- lehnten Therapien, die im GroRen und Ganzen eines gemeinsam hatten: „die medizinisch legitimierte Konzeptionalisierung der psychisch Kranken als nicht voll selbstbestimmungs- und verantwortungsfahige Personen, denen deshalb bestimmte burgerliche Rechte und Freiheiten genommen oder vorenthalten werden durften“ (Bosshard et Al. 2007:27). In der Zeit des Nationalsozialismus wurden aus eugenischen, rassenhygienischen und utilitaristischen Motiven ca. 300 000 Menschen mit psychischer Erkrankung ermordet (ebd. 29).

In der Nachkriegszeit kam es zu ersten soziologischen Analysen und sozialwis- senschaftlicher Kritik an der psychiatrischen Anstalt als ,totaler Institution’ (Goffman 1973), der mit der Isolierung verbundenen Hospitalisierung, Stigmati- sierung und Etikettierung (Labeling-Theorie, ebd. 31).

Die Psychiatrieenquete (1975) legte mit einer Bestandsaufnahme den Grund fur die langst uberfalligen und in anderen Landern bereits vollzogenen Reformen. Die Abkehr vom „medizinischen und egozentripedalen Modell“ (Deissler 1979, Aufruf vom 28.05.09) ermoglichte die Hinwendung zu sozialpsychiatrischen und kontextbezogenen Ansatzen. Die Abkehr vom „Patienten“ bedeutete die Hin­wendung zum ganzen Menschen als Rollentrager innerhalb ihrer sozialen Be- zuge. Chronisch Kranke wurden in den Mittelpunkt der Bemuhungen gestellt. Als Gegenpol zur Anstaltspsychiatrie wurde Sozialpsychiatrie immer als Ge- meindepsychiatrie gedacht, d. h. Behandlung und Begleitung soll in der Le- benswelt (Familie, Nachbarschaft, Arbeitsplatz, Kommune) der erkrankten Per­son stattfinden. Konsequenterweise wurde die Verantwortung der psychiatri­schen Versorgung vor Ort, in den Kommunen oder Sektoren (als klar umrisse- nes Zustandigkeitsgebiet fur Vollversorgung) gesehen. Ergebnis war die Off- nung der ,Anstalten’, die Enthospitalisierung und die Entstehung komplementa- rer Einrichtungen.

Die Expertenkommission wandte sich 1988 dem ,Burger mit besonderen Le- bensschwierigkeiten’ zu - vom Patienten zum ganzen Menschen, zum Burger mit dem Grundrecht auf Behandlung, auf die eigene Wohnung, auf sinnvolle Betatigung und menschliche Kontakte. Die entsprechenden „normalisierenden“ Angebote in den Funktionsbereichen wurden vor Ort, also auRerhalb der GroR- kliniken aufgebaut (Normalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang nicht eine Anpassung an ,das Obliche’, also das ,Normalmachen’ der Betroffenen, sondern die eigenen Bedurfnisse eines gesunden Menschen zum MaRstab fur Gleichbehandlung zu machen, also moglichst ,normale’ Lebensbedingungen herzustellen. Vgl. Thimm et Al. 2005:91).

Die Abkehr von einer institutionsbezogenen Sichtweise ermoglichte den Blick auf spezifische Hilfebereiche - Funktionen -, die auf individuelle Bedurfnisse der Burger antworten sollten. Der Dachverband Psychosozialer Hilfsvereinigun- gen e.V. markierte in seiner Stellungnahme von 1999 regionale Verantwortung fur "die Teilhabe am burgerschaftlichen Leben in der kommunalen Gemeinde" eine Zustandigkeit kommunaler Parlamente und Versorgungsverpflichtung im Bereich ambulant-komplementarer Versorgung (vgl. www.ibrp-online.de, Aufruf vom 5.05.09). Die sozialen Lebensbezuge sollten erhalten und Lebensraume professionell gestaltet werden, der individuelle Bedarf im Kontext von Alltag und Lebenswelt berucksichtigt und der Grundsatz ambulant vor stationar umgesetzt werden. Psychiatrieerfahrene und Angehorige wurden als Experten in eigener Sache ernstgenommen (Wienberg in iprp-online); Selbsthilfe, Behandlungsver- einbarungen und trialogische Psychiatrie (als Diskurs, Perspektivwechsel und Lernfeld fur Psychiatrieerfahrene, Angehorige, Professionelle) sind die Stich- worte fur die subjektorientierte Psychiatrie.

Infolge dieser Anstrengungen konnten einige Erfolge erzielt werden:

- erheblicher Abbau stationarer Behandlung und Umbau stationarer Betreuung
- Aufbau ambulanter und teilstationarer Hilfen
- regionale Verzahnung der einzelnen Dienste und Einrichtungen untereinander
- Erkennen der gemeinschaftlichen Verantwortung der Leistungserbringer fur die individuell gewunschte und geeignete Lebensform
- Akzentsetzung auf die Behandlung chronisch Kranker
- Verbesserung der Beziehungen zwischen den Professionellen

Die „Kommunale Psychiatrie" als primar humanitare und fachliche Bewegung schlug sich sozialpolitisch nur bedingt nieder: der systemimmanenten Konflikt der Versaulung des „einen Sozialgesetzbuchs“ (VdK 2008:87) lieR es nicht zu, Menschen mit komplexen Bedarfen ambulante Komplexleistungen, wie aus ei- ner Hand’ anzubieten, auf schwankende Bedarfe konnte nicht flexibel bzw. nicht ohne den Abbruch von Beziehungen reagiert werden.

Der Verband der Psychiatrieerfahrenen beklagte als weiteres Problem die an- haltende diskriminierende Haltung von Gesellschaft und professionell Tatigen gegenuber psychisch Kranken und ihren Angehorigen (vgl. BPE, Kempker 2004). Unwissen und Unsicherheit bei Behandelnden sind Ursprung von ,Krankheitskarrieren’, sodass durchschnittlich 7 Jahre vergehen, bis eine quali- fizierte Behandlung einsetzt (BKK Gesundheitsreport 2005, Aufruf vom 16.05.9) . Es gibt nach wie vor eine sehr groRe Anzahl chronisch Kranker, die unzureichend versorgt oder unversorgt zu Hause leben. Nur in wenigen Regio- nen und Ballungsgebieten entsprechen die Angebote dem tatsachlichen Bedarf. Spezialisierung birgt die Gefahr der ,Nicht-Zustandigkeit’ fur ,nicht passende’, ,difficult-to-place’ Betroffene (vgl. Beine in Adler et Al. 2007:14). Eikelmanns Gesetz der „inversen Sorgenintensitat“ (in Salzer 2008:27) greift die beunruhi- gende Tatsache auf, dass gerade die Menschen mit der dringendsten Behand- lungs- und Betreuungsnotwendigkeit die geringste Unterstutzung erfahren.

Wienberg (2008:2ff) fasst die gegenwartigen Unzulanglichkeiten zusammen:

- Stationare Akutplatze sind auf 54000 gesunken; aber: die Platzzahl in den Kliniken fur Psychotherapie, Psychosomatik und Abhangigkeitserkrankungen ist von ca. 18.000 auf 30.000 um 64% gestiegen.
- Der Umfang des MaRregelvollzugs zwischen 1986 und 2005 stieg um 300%, moglicherweise auch, weil die seelischen Storungen vorher nicht erkannt bzw. nicht zureichend behandelt wurden.
- Zwar sind Dauerhospitalisierungen in der Klinik seltener geworden - die Wohnheime jedoch bieten eine Platzzahl von 48.000; ca. 1 Funftel der Platze werden gemeindefern belegt, 50% der Ressourcen werden fur stationare Leistungen zum Wohnen aufgewendet. Nur 38 000 Personen werden ambu­lant betreut (nach BAGuS & consens 2004).
- Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden vorrangig institutionalisiert ange- boten: in WfbM, Tagesstatten, Beruflichen Forderzentren, Berufsbildungswer- ken und Berufsforderungswerken.
- Die ursprunglich gewollte Kommunalisierung wurde umgelenkt: von der Ge- meindepsychiatrie in die Psychiatriegemeinde als dauerhafte Inklusion in die Subkultur der Wohn-, Arbeits- und Freizeitangebote; Wienberg beklagt eine „Parallelwelt“ anstatt eines Lebens mit Teilhabe an Familie, Bildung, Kultur und Arbeit
- HelferInnen, die als „ErsatzspielerInnen“ fungieren sollten, werden zum dau- erhaften Familien- und Freundesersatz
- Ausgrenzung der „Schwierigen“ in Institutionen auRerhalb der psychiatrischen Versorgung, z.B. Wohnungslosenhilfe (mit einer Pravalenz von 71 - 88% bil- det sie „die Schlangengrube“ der Psychiatrie), Justizvollzugsanstalten (gestor- te Mehrheit von 82% der Manner und 86 % der Frauen); Kinder- und Jugend- hilfe/Kinder- und Jugendpsychiatrie: Anstieg der Betten um ca. 21 % trotz Abnahme der Zahl der Kinder unter 18; Altenhilfe; Pflegeheime;
- Eine erhebliche Zunahme der Unterbringungen seit den 90er Jahren muss re- alisiert werden;
- Das fragmentierte Sozialsystem fuhrt zu Zustandigkeitsstreit und wechselsei- tigem Zuschieben der Kostenverantwortung sowie zu rationierenden Kosten- begrenzungen;
- Der hohere Bedarf, z.B. durch psychiatrische Alterserkrankungen, fuhrt bei gleich bleibenden Ressourcen zur Kostenfalle: Produktivitatsdruck, Personal- abbau, Arbeitsverdichtung, Dequalifizierung, geringere Bezahlung und Stress fur die Professionellen.

Mit dem Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums an die „Aktion psychisch Kranke e.V.“ (APK) 1992 bis 1996 verbanden sich fachliche und okonomische Veranderungsziele: es sollte - entsprechend der Psychiatriepersonalverord- nung fur die Krankenhausbehandlung (PsychPV) in Kliniken - ein System der Personalbemessung im ambulant-komplementaren Bereich entwickelt werden.

Verbunden damit war ein Paradigmenwechsel vom einrichtungs- zum perso- nenzentrierten Ansatz bzw. von der Angebots- zur Bedarfsorientierung. Kom- plexe Hilfen sollten nicht mehr vom Einrichtungstyp her gedacht werden, die vom/von der KlientIn gewunschte Wohnform sowie die „Normalisierung der Hil- fen“, z.B. durch Inanspruchnahme nichtpsychiatrischer Hilfeformen, sollte im Mittelpunkt der Hilfeplanung mittels des neu entwickelten ,Integrierten Behand- lungs- und Rehabilitationsplans’ (IBRP) stehen.

Strukturmerkmale eines personenzentrierten, bedarfsorientierten psychiatri- schen Hilfesystems fur schwer und chronisch Kranke wurden auf vier Ebenen beschrieben(www.ibrp-online.de, Aufruf vom 5.05.09):

1. „Auf der Arbeitsebene: Leistungserbringung in Form personenzentrierter integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsprogramme (Komplexleis- tungsprogramme)
2. auf der Ebene der funktionalen Organisation der Dienste und Einrichtun- gen in der Kommune: Aufbau des Gemeindepsychiatrischen Verbunds
3. auf der Ebene der Anwendung des aktuellen Sozialrechts: Moglichkeiten der Ausgestaltung und Novellierungserfordernisse.
4. auf der Ebene der kommunalen und uberregionalen Steuerung von Leis- tungen und Ressourcen: Bedarfsorientierte Steuerung von Informations-, Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen.

Nur in einem solchen Kontext kann ein personenzentriertes System der Per- sonalbemessung sinnvoll entwickelt und zugleich wichtiges Instrument der Steuerung von Leistungen und Ressourcen werden" (ibrp-online, Aufruf vom 5.05.09)

Mit dem ,Bundesmodellprojekt Integrierte Personenzentrierte Regionale Hilfen’ wurden die Funktionsbereiche in ,Lebensbereiche’ ubersetzt: Tagesgestaltung und Kontaktfindung, Arbeit und Ausbildung sowie Selbstversorgung. Der Termi­nus ,Selbstversorgung’ ruckte an die Stelle von ,Wohnen’ und betonte die eige- ne Wohnung als Fixpunkt aller integrierten Leistungen zur Behandlung, Rehabi­litation und Teilhabe - bei bleibender Beziehungskontinuitat.

Die ,personenzentrierte Hilfeplanung’ wurde als gemeindepsychiatrischer Kern- prozess in den Mittelpunkt geruckt: der IBRP war das Instrument fur Planung, Organisation, Durchfuhrung und Ergebniskontrolle der Hilfen. Dieser "dritte Re- formschritt" wurde umgesetzt:

- „mit den methodischen Hilfen des IBRP, wie die Bedurfnisse, Wunsche und Ziele der Betroffenen zum Ausgangspunkt aller Planungen werden konnen,
- mit den konkreten "Anweisungen" des IBRP, wie Hilfen so um die Patien- ten bzw. Klienten herum gestaltet werden konnen, daR sie dort leben (bleiben) konnen, wo es ihnen so normal und alltaglich wie nur eben moglich ist,
- mit der Einfuhrung der Rolle einer uber alle Hilfeleistungen konstanten "therapeutischen Bezugsperson" kommt die Psychiatrie-Reform und damit die Gemeindepsychiatrie - zumindest unter gegenwartiger Problemwahrnehmung - da an, wo sie von Anfang an hin wollte bei der Gestaltung der Versorgung im Interesse der unmittelbar Betroffenen, gemaR ihrer eigenen Lebensziele in ei- nem von ihnen selbst gewahlten Lebensumfeld“ (vgl. ibrp-online, Aufruf vom 5.05.9) .

Bundesweit existieren derzeit vielfaltige Verfahren der Hilfeplanung, unter- schiedliche Instrumente sowie unterschiedliche Formen regionaler Abstimmung in Hilfeplan- oder Teilhabekonferenzen (vgl. Bosshard 2007:433) und unter- schiedlichste Verbundstrukturen, z.B. Gemeindepsychiatrische Verbunde mit Versorgungsverpflichtung der Leistungserbringer und Psychosoziale Arbeits- gemeinschaften. Ebenso ist die Psychiatrieplanung in den Bundeslandern un- terschiedlich geregelt, sie geschieht auf ortlicher oder uberortlicher Ebene und bringt entsprechend unterschiedliche Entwicklungen hervor.

Insgesamt kann festgestellt werden, dass die Psychiatriereform mit Hilfe der Psychiatrieerfahrenen und Angehorigen Psychiatrieerfahrener eine groRe Dy- namik entfaltet hat und viele Verbesserungen fur und mit psychisch kranken und behinderten Menschen entwickelt hat. Die Behindertenselbsthilfebewegung und die Angehorigenselbsthilfe haben ahnliche Entwicklungen im Bereich kor- perlicher und geistiger Behinderung angestoRen (z.B. forsea, Lebenshilfe e.V.)

- der Prozess hin zu einem regionalen, personenzentrierten, flexiblen und in- tegrierten Hilfesystem erfordert jedoch auch in Zukunft und gerade in Zeiten der Finanzknappheit viele engagierte Schritte.

2.3 Begriffsbestimmung

Die Begriffe Menschenrechte/Behindertenrechte, Selbstbestimmung und Teil- habe werden haufig verwendet und dienen als ethische Arbeitsgrundlage, ihre Implikationen treffen jedoch nicht immer die eigentliche Bedeutung, weshalb sie hier definiert werden.

2.3.1 Menschenrechte und Behindertenrechte

Handeln in der Behindertenhilfe beruhrt immer wieder die Personlichkeitsrechte von Menschen - als Eingriff oder Schutz - bis hin zur provokanten Feststellung von Klaus Dorner (DIE ZEIT, 6.03.03): „Massenhaltung (in Heimen, d. Verf.) ist mit der Menschenwurde nicht vereinbar“. Deshalb ist es von vorrangiger Bedeu- tung, die Menschenrechtsdiskussion zu verfolgen sowie die gesetzlichen Schutz- und Eingriffsrechte zu kennen.

Bereits das Grundgesetz garantiert die Unantastbarkeit der menschlichen Wur- de (Art. 1 GG) - Menschenwurde wird hier als normativer Begriff verstanden, der dem Menschen als Menschen, unabhangig von allen andere Eigenschaften zugeschrieben wird (Enquete-Kommission „Recht und Ethik in der modernen Medizin, Aufruf vom 14.05.2002) und ist damit ein Schutzrecht (Noller 1/09:27ff).

Im Hinblick auf die grundlegenden Rechte auf Leben, Freiheit und korperliche Unversehrtheit konkretisiert GG Art. 2 die Abwehrrechte als Recht auf freie Selbstbestimmung, auch im Hinblick auf eine unabhangige Lebensfuhrung.

Art. 3 GG formuliert das Recht auf Gleichbehandlung und damit ein Benachtei- ligungsverbot, z.B. als gleichberechtigten Zugang zu Lebensbereichen wie Ar­beit, Wohnen und Kultur. Auch in der Krankheit kann der/die BurgerIn alle Per- sonlichkeitsrechte in Anspruch nehmen, wie z.B. das Recht auf freie Arztwahl (§76 SGB V) oder die Wahl der behandelnden Klinik. Jede/r hat - auRerhalb von Notfallen - das Recht auf Aufklarung und Zustimmung zu (pharmakologi- scher) Behandlung, unter Abwagung der zu erwartenden Nebenwirkungen. Eingriffe in die Personlichkeitsrechte sind nur in engen Grenzen erlaubt - wenn sie ausdrucklich im Betreuungsgesetz (zivilrechtliche Unterbringung), im jeweiligen Landesgesetz uber Hilfen und SchutzmaRnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG), als offentlich-rechtliche Unterbringungen oder als Un­terbringung im Rahmen des MaRregelvollzugs nach §§ 63, 64 StGB festgelegt sind; beim Entfallen der Grunde fur die Unterbringung wird sie von Amts wegen aufgehoben (§ 70i FGG). Die Landesgesetze legen unterschiedliche Schwellen fur ZwangsmaRnahmen innerhalb der Klinik wie medikamentose Behandlung, Fixierung oder Beschrankung des Aufenthalts.

Allerdings werden die Gesetze nicht immer zugunsten der individuellen Rechte ausgelegt oder gehandhabt - dies wirkt sich z. T. unrechtmaRig und unverhalt- nismaRig auf die Betroffenen aus; auch die rechtlichen Beschwerdemoglichkei- ten (§70 FGG) verhelfen nicht immer zur Durchsetzung der Personlichkeitsrech­te (Beispiel in Bosshard 2007:159).

Der Aufbau von unabhangigen Beschwerdestellen, die in die Gemeindepsy- chiatrie integriert sind, liegt in diesen Missstanden begrundet (vgl. DGSP- Do- kumentation 22./23.02.08 und Abschlussbericht; Uebele, 2008:9).

Das Konzept der Personenzentrierung impliziert die Ausrichtung an der ethi- schen Perspektive von individueller Autonomie und Selbstbestimmung (Ab- wehrrechte und Benachteiligungsverbot) - Tugenden der Fursorge „geraten un- ter den Verdacht der paternalistischen Bevormundung von Patient/innen“ (Nol- ler, 1/2006:27). Gleichzeitig sollen „die Letzten“ (Dorner 3/04:37ff) nicht aus den Augen verloren werden (,inverse Sorgenintensitat’, s. o.). Nach Noller ist die In­terpretation der Personwurde „unvollstandig und in der Praxis wenig tragfahig, wenn sie diese beiden Antipoden von Autonomie und Schutzwurdigkeit nicht integriert“. In der Praxis, folgert Noller, mussen deshalb Konzepte entwickelt werden, welche beide Pole in einen ausgewogenen Ausgleich bringen. „Dazu ist nicht nur ethische Reflexion notwendig, sondern auch die Evaluation der je- weiligen Praxis" (ebd. 30).

Die Reflexion des Menschenbildes erfordert ein waches Wahrnehmen der ver- wendeten Begriffe fur die AdressatInnen der Unterstutzungsleistungen - schlieRlich ist Sprache aufgeladen mit Bedeutungen, trifft eine ethische Aussa- ge und nimmt Einfluss auf den wechselseitigen Umgang: sollen Personen mit Unterstutzungsbedarf nun HilfeempfangerInnen, NutzerInnen, PatientInnen, KlientInnen, KundInnen, BurgerInnen, Akteurinnen, „unsere Frauen und Man­ner" oder Subjekte genannt werden - und wer ist Kunde?

Traditionell sieht sich die Soziale Arbeit Hilfebedurftigen gegenuber; mit dem Erhalt der Hilfe werden sie zu „HilfeempfangerInnen“ - dieser Begriff kann einmal aus der Tatsache abgeleitet werden, dass jemand einer Hilfe von auRen bedarf. Allerdings muss kritisch bedacht werden, dass dieser Begriff Hilflosigkeit im Sinne von Unselbstandigkeit und Unwissenheit impliziert; der Schluss liegt nahe, einem/einer HilfeempfangerIn nicht zu viel Verantwortung uberlassen zu konnen. Aussagen von „unseren“ Bewohnern, Beschaftigten, Besuchern etc., drucken mindestens eine Flucht ins Unkonkrete, wenn nicht ein Besitz- und Ob- jektivierungsverhaltnis aus und sind nur mannlich bezeichnet. Gegen Bewohne- rInnen, Beschaftigte etc. im jeweiligen Kontext ohne „Besitzanzeige“ ist jedoch nichts einzuwenden (Wendt 2008:44ff).

Aus der Erwerbswirtschaft kommend bezeichnet der Kundenbegriff Menschen in einem Ausschnitt ihres Verhaltens, namlich in Bezug auf ihr Kaufverhalten. Soziale, psychische und kulturelle Forschungen der Unternehmen im Hinblick auf ihre (potentiellen) KundInnen beziehen sich ausschlieRlich auf das Ziel des Unternehmens, durch hohe Verkaufszahlen viel Gewinn zu erwirtschaften. Die Bedarfsorientierung, die Ganzheit der Menschen und die Forderung ihrer Ent- wicklung ist - im Gegensatz zur Sozialen Arbeit - kein Kriterium der Unterneh­men fur ihre KundInnen. Dienstleistungen in der Psychiatrie werden nicht immer freiwillig in Anspruch genommen. Kleve (1999) deutet KundInnen dem Wort- stamm nach als Personen, welche kundig sind, welche kennen, was sie brau- chen. Der/die KundIn kann auswahlen, kritisieren, zuruckweisen, ihre Rechte juristisch durchsetzen. In dieser Version betont der Begriff die Selbstandigkeit, des/der KundIn, welche/r die benotigten Dienstleistungen abruft. Das SGB XII teilt diese Vorstellung vom/von der mundigen BurgerIn, wenn es von der nach- fragenden Person bzw. von den Leistungsberechtigten spricht sowie in SGB IX § 9 das Wunsch- und Wahlrecht betont.

Nach Eigenberz und Polachowski (2002:27) verweist der Wortstamm „user“ /NutzerIn oder consumer, also VerbraucherIn/KonsumentIn ebenfalls eher auf den Bereich der okonomischen und vertraglichen Beziehungen zwischen den Beteiligten. Die Person, welche als KonsumentIn Dienstleistungen nutzt, wird heute als aktive MitarbeiterIn im Hilfeprozess, als KoproduzentIn der sozialen Leistung angesehen (Wendt 2008:44f).

Kleve (ebd.) lasst auRer acht, dass MitarbeiterInnen, ManagerInnen, Konkur- rentInnen auf dem „Markt“ und die AdressatInnen sozialen Handelns immer wieder von gegensatzlichen Interessen geleitet sind, und er gibt keine Wertbin- dung vor, wie mit diesen Unterschieden umzugehen ist. In seinen neueren Schriften bemisst er den von der Gesellschaft beauftragten Leistungstragern die Rolle des einkaufenden Kunden zu und kommt fur die AdressatInnen Sozialer Arbeit auf ,KlientIn’ zuruck - den Begriff, der anwaltschaftliches Handeln im Rahmen einer professionellen Beziehung, jedoch auch ein Subordinationsver- haltnis und Abhangigkeit von der Fachkraft beinhaltet (Eigenberz, Polachowski 2002:27).

Wendt (2008:44) reflektiert in diesem Zusammenhang citizen als partizipieren- de BurgerInnen mit Rechten und Pflichten - auch in der Teilhabe an sozialen und gesundheitlichen Leistungen.

Da es nicht moglich ist, einen immer gultigen und einheitlichen Begriff zu finden, scheint mir wichtig, mich bei meiner Begriffswahl von der Subjektstellung der Personen leiten zu lassen. Ich werde von AkteurInnen, BurgerInnen, Nutze- rlnnen und Beteiligten sprechen, um den Geschlechtern Rechnung zu tragen. Personen auf allen Systemebenen konnen in diese Begrifflichkeit eingebunden werden. KundInnen sind in meinem Sprachgebrauch alle, welche als Auftrag- und Geldgeber agieren (als Leistungstrager, Leistungsberechtigte im Rahmen des Personlichen Budgets oder zahlende NutzerInnen).

Die Vereinten Nationen haben mit der Behindertenrechtskonvention am 20.10.08 ein umfassendes und internationales Obereinkommen zur Forderung und zum Schutz der Rechte und der Wurde von Menschen mit Behinderungen (BRK) ratifiziert; ein Ausschuss fur die Rechte von Menschen mit Behinderun­gen soll bei Missstanden in den Vertragsstaaten Abhilfe schaffen konnen. „The- resia Degener, Juraprofessorin, Expertin fur Behindertenrecht und selbst con- tergangeschadigt, betrachtet die Konvention als einen ,Meilenstein’ fur Men­schen mit Behinderung. Das Gesetz werde eine Welle lostreten. ,Erstmalig wird es einen internationalen Rechtsausschuss mit zwolf unabhangigen Experten geben, ein Oberwachungsgremium, das jeder, der sich diskriminiert fuhlt, anru- fen kann’. Das Gremium konne zwar kein Urteil sprechen, raumt die Juristin ein. Degener baut aber auf die AuRenwirkung des Gesetzes, denn die Experten werden offentlichkeitswirksam mit dem Finger auf die verantwortliche Regierung zeigen. "Mobilisation of Shame" nennt die Menschenrechtsexpertin das. Die Vereinten Nationen hatten international schon gute Erfahrungen mit dieser Form der Sanktionierung gemacht. Die Bundesregierung wird sich wohl be- schamt in die Ecke stellen mussen“ (Spiegel 2/09, Aufruf vom 10.07.09). Grundsatzlich ist die BRK fur die Betroffenen ein Schritt nach vorn; problema- tisch ist jedoch die mangelnde Beteiligung der Behindertenorganisationen an der zwischen Deutschland, Osterreich, Liechtenstein und der Schweiz abge- stimmten Obersetzung und die daraus resultierenden verwendeten Begrifflich- keiten aus einem uberkommenen Denken. Die Behindertenorganisationen be- klagen, dass sie mit dem Bemuhen, „wenigstens die grobsten Fehler zu korri- gieren“ gescheitert sind. In einer „Schattenubersetzung“ des NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. (2009), zeigen sie ihre nicht berucksichtigten Veranderungs- wunsche auf. Sie ersetzen z.B. die Begriffe „leicht zuganglich/Zuganglichkeit“ durch „barrierefrei/Barrierefreiheit“ (ebd. 14, 28), die „Gehorlosen“ durch „gehor- lose Menschen“ (ebd. 23), „mitwirken/teilnehmen“ durch „teilhaben/Teilhabe“ (ebd. 28), „Hilfe“ durch „Assistenz/Unterstutzung“ (ebd. 11), „unabhangige Le- bensfuhrung“ durch „selbstbestimmtes Leben“ (ebd. 14) oder „integratives Bil- dungssystem“ durch „inklusives Bildungssystem“ (ebd. 22).

2.3.2 Teilhabe

Das Normalisierungsprinzip nimmt zu wenig Rucksicht auf die subjektiven Le- bensentwurfe der Menschen mit Behinderung (Wansing 2005:135). Der Begriff Selbstbestimmung wird untrennbar mit dem Teilhabebegriff verwoben - der Prozess der Entfaltung dieser Teilhabe ruckt in den Fokus: nachdem mit dem Prozess der individuellen Lebensgestaltung auch Anspruche an das Individuum verknupft sind, beinhaltet er Chancen und Risiken (ebd. 135). Teilhabe bezieht sich nicht nur auf die Handlungs- sondern auch auf die Entscheidungs- ebene - Einschrankungen (auf der Handlungsebene) aufgrund einer Behinde­rung bedeuten nicht, dass keine Entscheidungen getroffen werden konnten (Wansing 2005:136). Selbstbestimmung als Begriff konzentriert sich auf einen Bereich der Lebensqualitat: den personlichen und okonomischen Entschei- dungsprozess. Es geht nicht um „die Quantitat der Tatigkeiten, die Behinderte ohne Assistenz ausuben konnen, sondern um die Qualitat des Lebens, das Be­hinderte mit personlicher Assistenz zu fuhren in der Lage sind“ (Raichle in Jerg et Al. 2005:126).

Assistenz bedeutet in diesem Zusammenhang die Moglichkeit zur Umsetzung eines selbst bestimmten Lebens. Mithilfe von Assistenz konnen Menschen mit jeglicher Behinderung selbst bestimmen, wer ihnen wann, was, wo, wie und wie lange hilft, um am Gesellschaftsleben teilhaben zu konnen. Assistenz gilt prin- zipiell fur alle alltaglichen Lebensverrichtungen, die lebenspraktische Beglei- tung, die Haushaltsfuhrung, die Pflege, die berufliche Tatigkeit, die Bildung, die Freizeit und selbstverstandlich fur alle Aktivitaten im Bereich der Kommunikati- on und des Informations- und Erfahrungsaustausches. Erste Erfolge auf der le- gislativen Ebene sind bereits sichtbar: der Bundesrat beschloss am 10.07.09 das Assistenzpflegebedarfsgesetz (APBG) (kobinet, Aufruf vom 11.07.09). Teilhabe bedeutet also mehr als Mit-Leben und Dabei-Sein. Nach Wansing (2005:138) geht es bei Teilhabe vielmehr um die Ermoglichung eines indivi- duell inszenierten Lebens, die Ausbildung von (...) Individualitaten und um die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in die ,normalen Alltags- und Le- bensvollzuge einer Gesellschaft - eingeschlossen die Pflicht, eigene Fahigkei- ten und Ressourcen einzubringen.“

Teilhabe fuhrt zur Herausbildung individueller Lebenslagen, die wiederum mit individualisierten Unterstutzungsangeboten beantwortet werden mussen (ebd. 168). So genannte Arbeitgebermodelle entsprechen explizit dem Ansatz der individuellen Teilhabe; Menschen mit Behinderung stellen AssistentInnen zur Hilfeleistung an (vgl. Raichle in Jerg et Al. 2005:126). Das Schwerbehinder- tengesetz (§ 31, Absatz 3a) vom Jahr 2000 setzt dies fur den Bereich Arbeit um: „Schwerbehinderte haben im Rahmen der Zustandigkeit der Hauptfursor- gestelle fur die begleitende Hilfe im Arbeits- und Berufsleben aus den ihr aus der Ausgleichsabgabe zur Verfugung stehenden Mitteln Anspruch auf Ober- nahme der Kosten einer notwendigen Arbeitsassistenz“.

Konsequenterweise fordert das „Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e.V.“ ein Teilhabesicherungsgesetz uber den Bereich Arbeit hinaus - zur Schaffung eines umfassenden Anspruchs auf soziale Teilhabe (forsea, Aufruf vom 11.07.09), der die gegenwartig in den Buchern des SGB verstreuten Anspruche zusammenfuhrt.

Auf dem Hintergrund dieses Teilhabebegriffs wird deutlich, dass bisherige Vor- stellungen von Hilfe bruchig werden. So verweist z. B. der haufig benutzter Beg- riff ,Compliance’ auf die Bereitschaft des/der NutzerIn (oder des Objekts des Behandelnden?), das zu tun, was der professionelle Helfer fur richtig halt. Nach dem Teilhabekonzept kann dies kein MaRstab fur Krankheit oder Gesundheit, fur Prognosen etc. sein: „Der Patient kooperiert nicht, d.h., er muR besonders krank sein. Diese einseitige Sichtweise ignoriert grundlegende Merkmale der Kommunikation: Wenn die Kooperation zwischen zwei Partnern nicht funktio- niert, sind beide verantwortlich. Wir ... mussen ... uns um Kooperation bemu- hen“. Thomas Bock (Eigensinn, 16.05.03, Aufruf v. 17.02.09) weist den Ge- sprachsbeteiligten den Partnerstatus zu; damit ist die Kooperation zwischen den Beiden ein Prozess, der von beiden Seiten erzeugt und verantwortet wird; Eigensinn ist dabei als Herausforderung fur das Verstehen durch den/die pro- fessionelle/n HelferIn zu begreifen. So kann Bock am Ende seines Vortrags die provokante These aufwerfen: „Wir Profis sind es, die.. kooperativer werden mussenWenn also in Zukunft ein Patient (NutzerIn, d. Verf.) uns nicht in je- dem Fall folgt, wenn er/sie die Standardmedikation nicht begeistert annimmt, sondern Vorbehalte auRert und wenn es uns gelingt, um Kooperation zu ringen, dann durfen wir auf eine gute Prognose schlieRen. Wenn ein Patient (NutzerIn, d. Verf.) aber allzu brav alles annimmt, was wir verschreiben oder vorschreiben, dann sollten wir skeptisch sein und uns fragen, was schief lauft und was wir falsch gemacht haben“ (ebd. 5).

2.3.3 Medizinische und sozialpadagogische Diagnosekonzepte und das Teilhabekonzept der „International Classification of Functioning, Disability and Health“, ICF

„Eine Diagnose verheiRt Durchblick. Das griechische Wort „diagnosis“ bedeutet „unterscheiden“, „durch und durch erkennen“, und die Verwendung durch Arzte und Therapeuten legt die Vermutung nahe, dass Diagnostiker Wissende sind, Experten, die uber einen Durchblick verfugen, der dem Laien fehlt.“ (Heiner 2005:253). Unterschiedliche Diagnose- und Klassifikationskonzepte weisen un- terschiedliche Vorstellungen bezuglich Krankheit und Behinderung auf.

Die biomedizinische Klassifikation der ICD sieht Behinderung als Problem einer Person, das auch einer Krankheit oder Funktionsstorung resultiert, sie ist orientiert an Defiziten und wird durch ExpertInnen ohne Zutun des/der NutzerIn definiert. Behandlung bedeutet kurz gefasst Heilung, Anpassung oder Verhal- tensanderung.

Sozialpadagogische Diagnosen sind seit den Anfangen professioneller Sozi- alarbeit Gegenstand der Reflexion - als Diagnose, Dialog oder Fallverstehen. Timm Kunstreich ist ein aktueller Vertreter der Diagnosekritik: aus seiner Sicht verfuhrt der Begriff der Diagnose, die Situation des/der KlientIn ohne seine/ihre Partizipation „objektiv“ zu definieren, Diagnosen bringen auRerdem Stigmata mit sich, zudem lieRen sich diagnostizierende Sozialarbeiterinnen dazu verlei- ten, ein Gefalle zwischen sich und der/dem NutzerIn herzustellen, ihr Wissen als hoherwertig zu betrachten - und sich so nicht mehr mit den eigentlichen Problemen der KlientInnen befassen zu mussen. Kurz zusammengefasst ist seine Empfehlung Dialog statt Diagnose - das heiRt auch, der Ausgang des Dialogs bleibt offen (vgl. Kunstreich et al. 2004, 36-38)! Die VertreterInnen der Personenzentrierung haben Kunstreichs Philosophie unter dem Slogan „ver- handeln statt be-handeln“ adaptiert.

Ende der 1990er Jahre entwickelte Viola Harnach die Psychosoziale Diagno­se als der „durch Fachkrafte der Sozialen Arbeit gestaltete und verantwortete Prozess der regelgeleiteten Ermittlung der fur eine Entscheidung erforderlichen Sozialdaten“(vgl. Harnach 2007, 20). Sie betont sowohl die Personlichkeit eines Menschen als auch seine soziale Umwelt. Funf Aspekte sind wichtig (ebd.):

„ 1. ihre Fundierung im gesetzlichen Auftrag,
2. ihre Aufgabenstellung, eine vorgefunden soziale und personliche Situati­ on unter Gesetzeskategorien zu subsumieren.
3. die Bestimmung, unter den verfugbaren Hilfen diejenige herauszufinden, die sowohl geeignet als auch notwendig ist,
4. die spezifische Beachtung der Datenschutzregeln und
5. teilweise - allerdings eben nur teilweise - die Datenerhebungsmethoden“

Die Einschrankung bei der Datenerhebung nimmt Harnach vor, da das System wahrend des Diagnoseprozesses nicht statisch stehen bleibt, sondern sich wei- terentwickelt (ebd. 22). Hilfeplanverfahren im Rahmen der Sozialgesetzge- bung mussen zwingend innerhalb des gesetzlichen Auftrags agieren, weshalb sie sich teilweise an Harnachs Aspekte Psychosozialer Diagnose anlehnen.

Sozialpadagogische Diagnosen sollen grundsatzlich die Voraussetzung dafur schaffen, BurgerInnen alltagsnah bei ihrer Lebensbewaltigung mittels Schaffung geeigneter „Milieus“ zu unterstutzen. Das ruckt sie in die Nahe des ICF-Modells.

Die ICF, das Beschreibungsmodell der WHO von 2001, folgt den Vorganger- modellen ICIDH-1 und 2: bereits hier wurde unterschieden zwischen Impair­ment (Schadigung, biologische Funktionsstorung), Disability (daraus resultie- render Fahigkeitsbeeintrachtigung) und Handicap (Benachteiligung, Behinde- rung). Die ICIDH-2 hebt besonders den Zusammenhang mit sozialen Beein- trachtigungen und den relevanten Umweltfaktoren hervor. Sie verlasst die ein- seitig medizinische Ebene und betont participation’, also Teilhabe (DIMDI 2005:4). Partizipation als „pars“ -Teil weist darauf hin, dass Menschen mit Be- hinderung bereits Teil des Ganzen, also der Gesellschaft sind - es fehlt nur an der umfassenden Umsetzung von Teilhaberechten.

Die ICF entwickelt den bio-psycho-sozialen Gesundheitsbegriff der WHO wei- ter; sie vertieft den personlichen und allgemeinen Kontext (Forderfaktoren und Barrieren). Der entscheidende Perspektivenwechsel liegt in einem relationalen Behinderungsbegriff: eine Person ist nicht mehr behindert oder hat eine Be- hinderung, sondern lebt in einer behindernden oder fordernden Situation, wel- che die Teilhabe erschwert oder erleichtert und in Wechselwirkung wiederum auf die Funktionsstorung oder Aktivitaten zuruckwirkt.

Die ICF arbeitet das Teilhabekonzept - moglicherweise aus Grunden haufiger Gberschneidung - nicht aus. Aktivitaten und Teilhaben sind eine Klassifikati- onskategorie in neun Lebensbereichen. Nach Schuntermann (2007:58ff) erge- ben sich aus der fehlenden Operationalisierung der Teilhabe Interpretations- spielraume - er gliedert die ICF in zwei Teilaspekte:

- den der Menschenrechte (durch die Anlehnung an die von den Vereinten Na- tionen 1993 verabschiedeten „Standard Rules on the Equalization of Oppor­tunities for Persons with Disabilities" bekraftigt und starkt sie die nationale und internationale Gesetzgebung in Bezug auf die Menschenrechte)
- und den der subjektiven Erfahrung (ebd. 59ff); dieser Aspekt knupft an der individuelle empfundenen Lebensqualitat, Zufriedenheit und Wertschatzung an (das individuelle Gefuhl einer Person, ob sie integriert ist oder nicht).

Teilhabe unter ICF-Gesichtspunkten fokussiert im Rehabilitationsprozess die Selbstbestimmung des/der NutzerIn. Die subjektive Erfahrung als Grundla- ge eines individuellen Lebensentwurfs hat Vorrang, ebenso wie die indivi­duelle Wertigkeit und Ausgestaltung der Ziele (ebd. 63 ff).

Fachleute kritisieren die komplizierte und teilweise mehrdeutige Kodierung und die nach wie vor vorhandene Defizitorientierung (klassifiziert werden Schadi- gungen). Der relationale Behinderungsbegriff kann nicht durchgehalten werden, da das Richtmaß fur die Klassifikation im Detail storungsfreie Normalitat ist (ei- gene Mitschrift der Fortbildung am 18.03.09 im BKH Kaufbeuren).

Inzwischen gibt es erste Assessment-Verfahren - aufgrund der Rehabilitations- richtlinien von 2004 vor allem im Bereich der medizinisch-beruflichen Rehabili­tation. Diese sind nicht einheitlich, z.B. in den unterschiedlichen Core-Sets (Sammlung von Items fur einen bestimmten Personenkreis).

Die ICF kann also nicht einfach umgesetzt werden, es muss klar sein, wozu dieses Beschreibungsmodell eingesetzt wird. Als Einschatzungsinstrument kann sie nur Teil einer Teilhabeplanung sein. Ihre Anwendung erfordert eine Reihe von politischen und fachlichen Entscheidungen, die nur im Kontext eines konkreten Sozial- und Hilfesystems getroffen werden konnen

2.3.4 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX)

Die oben genannten veranderten Paradigmen schlugen sich auch in der Sozial- gesetzgebung nieder; sie losen die veralteten Vorstellungen ab, dass Men- schen mit Behinderungen ihre Eingliederung durch einseitige Anpassung zu er- zielen hatten. Das SGB IX definiert Behinderung zwar noch als „Mindestdauer 6 Monate, von dem fur das Lebensalter typischen Zustand abweichend“, greift je- doch den Gedanken der Selbstbestimmung und Teilhabe konsequent auf - mit der Orientierung an der ICF:

- § 1 SGB IX - Forderung der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Ge- sellschaft greift auf die Erkenntnis zuruck, dass Teilhabe nicht allein durch ei- ne medizinische Wiederherstellung der Funktionsfahigkeit erzielt werden kann, sondern gleichberechtigten Zugang zu Teilhabemoglichkeiten verlangt. Teilhabeleistungen orientieren sich nicht an Krankheitsursachen, sondern am tatsachlichen Bedarf (Lachwitz et Al 2005:25). Die Auswirkungen und Behin- derungsfolgen spielen sich im Rahmen der Gesellschaft ab, die Teilhabe er- moglichen oder behindern kann.
- § 9 SGB IX schreibt vor, dass Leistungen der Teilhabe der Zustimmung der Leistungsberechtigten bedurfen (Lachwitz et Al. 2005:33ff).
- Durch die Zusammenfuhrung aller Teilhabebereiche und die Verpflichtung der Leistungstrager zur Koordinierung der Hilfen (§§10ff SGB IX) mochte das SGB IX die Fragmentierung des Sozialrechts ,heilen’ und einen individuellen Zugriff auf alle Angebote in samtlichen Lebensbereichen ermoglichen.
- Besonders deutlich wird das Ziel konkreter Teilhabe im Personlichen Budget (§ 17 SGB IX). Danach kann der/die NutzerIn neben dem allgemeinen Wunsch- und Wahlrecht auch zwischen Geld- und Sachleistungen wahlen.
- Das SGB IX fordert auch das Bemuhen um eine fachlich und regional erfor- derliche ausreichende Infrastruktur (§19, 1).

2.4 Menschenrechte, Teilhabe und Sozialrecht - angemessene Verfahren

Teilhabe als Konzept kann nur zur Wirkung kommen, wenn die formalen Vor- aussetzungen und Gesetze partizipative Verfahren ermoglichen. Dazu muss die Integration der Bucher bzw. die Bruche der Integration im einen Sozialgesetz- buch kurz angerissen werden (vgl. Welti in VDK 2/08:87ff). Die Vorschriften des SGB IX gelten fur alle Leistungen zur Teilhabe, „soweit sich aus den fur den je- weiligen Rehabilitationstrager geltenden Leistungsgesetzen nichts Abweichen- des ergibt“ (§7).Ich konzentriere mich hier vor allem auf das Verhaltnis von SGB IX und SGB XII - in weiten Teilen gibt es Obereinstimmung; die Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft aus dem SGB IX sind unmittelbar gel- tendes Recht der Sozialhilfe.

SGB XII verlasst jedoch die ehemalige Pramisse des Bundessozialhilfegesetz- buchs (BSHG): „ein menschliches Individuum hat unverwechselbare Bedurfnis- se“ - im SGB XII steht der Gleichheitsgedanke im Vordergrund, wenn es heißt: „Menschen sind Individuen mit unverwechselbaren Bedurfnissen“. Nach Busse (in: NDV 10/2004:345) wurde durch die „Abschwachung der Grundsatze der In- dividualisierung und Bedarfsdeckung ... die Moglichkeit eingeschrankt, maßge- schneiderte Instrumentarien auf den Hilfefall anzuwenden“. Leistungen der So- zialhilfe sind standardisiert und typisiert, wo die Eingliederungshilfe das Leis- tungsrecht z.B. der GKV bzw. Arbeitslosenversicherung ubernommen hat, aber auch, wenn Leistungstypen fur eine bestimmte Hilfebedarfsgruppe gelten (§§ 75ff SGB XII). Busse (ebd. 344) bezweifelt die Wirksamkeit von Leistungen, die ,durchschnittliche’ LeistungsempfangerInnen ansprechen. Die im SGB XII „vertypten Hilfen werden im atypischen Einzelfall“ (ebd. 344) der individuellen Bedurfnislage nur begrenzt entsprechen konnen, weshalb der Deutsche Verein eine Weiterentwicklung des Leistungserbringerrechts (§§ 75, 76 SGB XII) for- dert (Aufruf v. 11.07.09:17).

Sie begrundet dies mit der „Abwehrseite der Grundrechte“ (ebd. 346), nach der auch fehlendes Tatigwerden des Staates die Grundrechte beeintrachtigen kann. Der Rechtsstaat ist gehalten, „nicht nur den Burger (und die Burgerin, d. Verf.) mit unnotigen Eingriffen zu verschonen, sondern ... ihm die Chance auf Teilha­be, d.h. auf die Verwirklichung seiner Grundrechte einzuraumen“ (ebd. 346). An der Ausgestaltung des nachrangigen Netzes der Sozialleistungen nach SGB XII liest sie ab, wie ernst der Staat die Grundrechtsverwirklichung nimmt. Widerspruche scheinen auch auf, wenn z.B. das Wunsch- und Wahlrecht aus dem SGB IX (§ 9, Abs. 1) durch den Mehrkostenvorbehalt nach §13 SGB XII eingeschrankt wird - Menschen mit Behinderung mussen also im Zweifelsfall gegen ihren Willen mit dem wirtschaftlich gunstigeren Angebot Vorlieb nehmen (Welti in VdK 2/08:92).

Busse kommt zu folgendem Fazit: „Durch die fortschreitende Standardisierung, die rechtliche und faktische Erschwerung der Aufbrechung von Standardisie- rungen, wird es zunehmend schwieriger werden, etwas anderes durch das Fur- sorgerecht hervorzubringen als das, was es eigentlich verhindern sollte, die (dauerhafte) Abhangigkeit von Sozialleistungen, u. U. sogar von Fursorge- leistungen...“ (Busse in NDV 2004:346).

Angesichts der Trennung ambulant-stationar pladiert der Deutsche Verein in seinem Positionspapier „Verwirklichung selbstbestimmter Teilhabe behinderter Menschen“ fur eine Zusammenfuhrung der Zustandigkeit fur ambulante und stationare Hilfen und gleichzeitig fur eine Neuausrichtung der Gesetze durch eine Aufhebung der Trennung von ambulant, teilstationar und stationar, um eine flexiblere Bewegung im System zu ermoglichen (Welti in VdK 2/08:95). Die entwickelten Verfahren der Hilfe- oder Teilhabeplanung stehen also immer in Gefahr, unbeabsichtigt und ungesehen die Widerspruche der Sozialgesetz- gebung zu transportieren - indem sie z.B. typisierte Leistungen empfehlen, oh- ne den individuellen Bedarf angemessen zu berucksichtigen.

SGB XII § 58 ,Gesamtplanverfahren’ - Feststellung des Bedarfs - entspricht zwar nicht dem funktionsbezogenen Teilhabeplan nach SGB IX §10, wider- spricht sich aber auch nicht (Welti in VdK 2/08:93). Die beiden SGB sehen ge- meinsam den Leistungstrager fur die Bedarfsfeststellung in der Verantwortung. Verfahren zur Bewilligung von Eingliederungshilfe fur Menschen mit Behinde- rung (mit der groben Zielsetzung der Auflosung von ambulant und stationar richten sich nach folgendem Ablauf (Deutscher Verein, 17.06.09, Aufruf vom 11.07.09):

- 1. Feststellung der rechtlichen Voraussetzungen fur die Bewilligung von Leis­tungen der Eingliederungshilfe (§ 53 SGB XII)
- 2. Bedarfsermittlung (Bedurfnis als subjektiver Mangel, Bedarf als beschaf- fungsbezogene, objektivierte Konkretisierung von Bedurfnissen)
- 3. Hilfeplanung oder Teilhabeplanung, teilweise erganzt durch Hilfe- oder Teilhabekonferenzen
- 4. Bewilligungsbescheid

Der Deutsche Verein empfiehlt fur die Konzeption, Anwendung und Evaluation die Berucksichtigung der Kriterien Personenzentrierung, Unabhangigkeit von Leistungs- und Vergutungsformen, Zielorientierung, ICF-Orientierung, Beruck- sichtigung von Selbsthilfe und Sozialraum, Lebensweltorientierung, Lebensla- genorientierung, Transparenz (Nachvollziehbarkeit insbesondere fur die Nutze- rInnen selbst), Evaluation und Qualitatssicherung (als periodische Oberprufung und Fortschreibung, Supervision und „andere Kontrollmechanismen“, ebd. 14), Interdisziplinaritat und Multiprofessionalitat, Fachliche Fundierung und Integrier- te Verfahren (17.06.09:10). Er fordert auRerdem die Mitwirkung der NutzerInnen bei der individuellen Bedarfsermittlung und ein angepasstes Vergutungssystem und die Kooperation von Leistungstragern und Leistungserbringern.

Die Bedeutung des Bedarfsfeststellungsverfahrens wachst mit der Einfuhrung des Personlichen Budgets - auch im Hinblick auf die Schnittstellen, z.B. SGB V, SGB II und SGB III, SGB IIX, SGB XI beim tragerubergreifenden Budget - Voraussetzung fur das Gelingen ist es, aus der individuellen Bedarfslage nach- vollziehbar einen Geldbetrag zu errechnen.

Insgesamt betont Welti den koproduktiven Charakter aller Dienstleistungspro- zesse; Produktion und Konsum der Leistung fallen zusammen, beide Seiten sind jeweils konstitutiv aufeinander angewiesen, weshalb die NutzerInnen zum Zweck der Leistungserbringung in den Prozess der Hilfeplanung und - Erbringung integriert werden mussen (Badelt 1999:437). Voraussetzung fur die Erreichung der beabsichtigten Wirkung ist das Zusammenwirken des Menschen mit Behinderung mit der konkreten leistungserbringenden Person bzw. der/dem VertreterIn des Leistungstragers - SGB XII § 1 kodifiziert diese Erkenntnis.

Aufgrund des zergliederten Sozialleistungssystems konnen sozialraumliche Be- lange und umfassende individuelle Bedarfe bisher nicht oder erst anfanghaft (als tragerubergreifendes Personliches Budget) ubergreifend geplant und be- antwortet werden - Eingliederungshilfe, Hilfen zur beruflichen Rehabilitation, zur arztlichen Behandlung oder zur Erziehung etc. werden an verschiedenen Orten vorgehalten und von unterschiedlichen Behorden gewahrt.

Welti (in: VdK 2/08:93ff) leugnet die Schnittstellenproblematik innerhalb der Sozialgesetzgebung nicht; er setzt fur gelingende Teilhabeleistungen den fach- lichen und gesellschaftlichen Diskurs uber angemessene Verfahren voraus - fur eine „Kultur, in der die Leistungserbringer und die Verbande behinderter Menschen an neuen MaRstaben dafur arbeiten, was mit den Leistungen der Eingliederungshilfe erreicht werden soll und welche Mittel dafur zu nutzen sind. Entwickelt sich daraus ein fachlicher MaRstab, den alle respektieren, entwickelt er mehr Bindungskraft als detaillierte Gesetze“ (ebd. 96).

2.5 Wandel der Administration in ein offentliches Dienstleistungs- unternehmen

Infolge der gestiegenen Ausgaben bei sinkenden Steuereinnahmen, der Finan- zierungsaufgaben der deutschen Einheit und der Legitimationsschwierigkeiten der Behorden bezuglich des Umgangs mit offentlichen Geldern wurde seit den 80er Jahren zunehmend die Unwirtschaftlichkeit, Unbeweglichkeit, Verschwen- dung von Ressourcen und mangelnde Dienstleistungsorientierung, kurz dys- funktionale Burokratisierung der offentlichen Verwaltung kritisiert. Die bisher seitens der Verwaltung festgeschriebene bedarfsdeckende Finanzierungssys- tematik stellte sich als Sand im Getriebe heraus. Sie forcierte mit der planwirt- schaftlichen Finanzierung von Einrichtungen und ,Platzen’ eindeutig die Ange- botszentriertheit, verhinderte individuelle Leistungskonstellationen und forderte mit ihren Vorgaben das Verbleiben der Menschen mit Behinderung im Hilfesys- tem. Individueller Fortschritt der Klienten wurde sowohl der Einrichtung gegen- uber als auch hinsichtlich des/der NutzerIn selbst eher bestraft als belohnt.

Besonders problematisch sind die - besonders in Anbetracht der aktuellen Wirtschaftskrise und den prognostizierten hohern Fallzahlen - knapper werden- den finanziellen Mittel; „Hauptgrunde dafur sind die wachsende Zahl von Men­schen mit Behinderung und die damit verbundenen deutlich hoheren Sozialhil- feausgaben sowie die gestiegenen Personalkosten aufgrund der Tariferhohung“ (Haushaltsrede von Landesdirektor Uwe Bruckmann am 17. Dezember 2008). Zu erwarten sind Schwierigkeiten bei der kunftigen Finanzierung des herkomm- lichen Versorgungssystems; die an der Planung Beteiligten sind zu einem ver- antwortungsbewussten Umbau des Bestehenden gezwungen.

Dieser von den Umstanden und der Gesetzgebung erzwungene Umbau wird seit einigen Jahren gestaltet bzw. im Alltag „erlitten“, er bringt Unsicherheit, Ver- anderung der gewohnten Arbeitsstrukturen, der Errungenschaften mit sich, je- doch auch die Moglichkeit, dringend erforderliche Anpassungen vorzunehmen. Aus diesem Zwang, umdenken zu mussen, vollzieht sich ein Paradigmenwech- sel hin zu einem eher personenzentrierten Vorgehen. Die Angebote sollen kunf- tig zu den Klienten passen und nicht umgekehrt; aus Sicht des Kostentragers naturlich auch unter dem Blickwinkel der finanziellen Ressourcen.

Der Kritik, hier werde Okonomisierung zu Lasten der Fachlichkeit betrieben, halt Wendt (2008:32) in Bezug auf die Zusammenfuhrung von Fach- und Ressour- cenverantwortung und zielwirksame Arbeitsweisen entgegen: „Wer argumen- tiert, ,bei uns geht es um Menschen, nicht um Produkte’, verkennt den Sach- verhalt: Mit Menschen soil etwas zustande gebracht und erreicht werden, ein soziales Resultat - und das sollte sich auch darstellen und bewerten lassen.“

2.5.1 Das neue Steuerungsmodell

Das New Public Management in Europa nahm Vorstellungen aus dem anglo- amerikanischen und australischen Gesundheitswesen auf und fuhrte dessen Ideen „managerialer Steuerung“ (Wendt 2008:31) mit eigenen Reformkonzep- ten weiter. Ferie u.a. nennen die mit neuer Steuerung verknupften Hoffnungen:

(1) „Mehr Effizienz (durch Kontrolle der Finanzen, Leistungsnachweise, O- rientierung auf die Konsumenten, Obergang von Verantwortung von der fachlichen auf die betriebliche Leitung) war die erste Zielsetzung.
(2) Verschlankung und Dezentralisierung hieRen die nachsten Ziele der Reorganisation. Man will sich flexibler auf wechselnde Anforderungen einstellen. Es tritt eine Verlagerung auf freie und gewerbliche Anbieter ein (Outsourcing und Privatisierung).
(3) Leistungssteigerung (,in search for excellence’) wurde als Losung auch fur den Nonprofit-Sektor ausgegeben. Die Dienste und Einrichtungen sollen zu ,lernenden Organisationen’ werden, die immer besser in der Lage sind, ihre internen und externen Ressourcen zu erschlieRen.
(4) Gesellschaftliche Verantwortung und Rechenschaftspflichtigkeit bewegen neuerdings das Management offentlicher Dienstleistungen zu- nehmend. Sie auRert sich in einem wachsenden Qualitatsbewusstsein, der Sicherung von Standards, in mehr Offentlichkeitsarbeit und zivilem Engagement" (1996:1 Off, in Wendt 2008:31).

Die politische Steuerung ergibt sich nach Haller & Pfreundschuh (5/09:179ff) aus der Operationalisierung von Finanzverantwortung, Personalverantwortung und Organisationsverantwortung (die Autoren empfehlen individuell ganzheitli- che und nicht einrichtungsbezogene Fall- und Prozesssteuerung). Zur Perso- nalverantwortung gehort die Berechnung des Personaleinsatzes fur Beratung, Fallsteuerung als „zielgerichtete und nachdruckliche Unterstutzung der Klienten (und Klientinnen, d. Verf.) und Leistungserbringer zur Zielerreichung" (ebd. 181) sowie fur die Zusammenfuhrung fachlicher und finanzieller Verantwortung als finanzielle Fallsteuerung.

Prozesssteuerung meint „die Prozessbeschreibung, Personalentwicklung, die Festlegung der Verantwortlichkeiten, das Zeitmanagement, die Gestaltung der Amter (Organisationseinheiten) ubergreifenden Prozesse (Ablauforganisation), die Einrichtung einer prozessorientierten Aufbauorganisation, die Steuerung mit Kenn- und Zielzahlen, die Einbeziehung der externen Beteiligten (z.B. Leis- tungsberechtigte und Leistungserbringer)“ (Haller & Pfreundschuh in NDV 3/08:105ff). Im Rahmen der Fall- und Prozesssteuerung sollen die Leistungen der Leistungserbringer evaluiert werden, als Grundlage fur die fachliche Gestal­tung der sozialen Infrastruktur.

Die Motivationslucken der MitarbeiterInnen sollen im Rahmen einer Binnenre- form verbessert werden: zunachst durch Schaffung neuer Managementstruktu- ren, durch Schaffung teilautonomer Strukturen, z.B. das Verfahren der Zusam- menfuhrung von Fach- und Ressourcenverantwortung, durch Anreizsysteme.

Die neue Verwaltungsstruktur soll mit MaBnahmen wie Kontraktmanagement, Outputorientierung, Controlling (mittels Doppik in der Kameralistik, Kosten- Leistungsrechnung, Berichtswesen und Budgetierung) und Qualitatsmanage- ment eingefuhrt und per Wettbewerb und dezentraler Ressourcenverantwortung aktiviert werden.

Die Umsetzung der Idee des Contracting’ beruht auf der Idee der Trennung der staatlicher Stellen als Kaufer von Gutern und Dienstleistungen und der of- fentlichen oder privaten Organisationen, die diese zur Verfugung stellen (Tren­nung von Kaufer und Anbieter’). Staatliche Verwaltungsabteilungen kaufen Dienstleistungen von Organisationen, die nicht dem offentlichen Sektor angeho- ren und per Vertrag zu Anbietern werden. In ,Reinventing Government’ popula- risierten Osborne und Gaebler (1992) die Trennung von Kaufer und Anbieter mit der einleuchtenden, wenn auch vereinfachenden Formel ,steuern, nicht ru- dern’ (Mutzelbach 09/2000). In Deutschland wurden diese Vorstellungen in das Modell der ,Neuen Steuerung’ seit 1993 von der Kommunalen Gemeinschafts- stelle fur Verwaltungsmanagement (KGSt) aufgenommen.

Die Neue Steuerung wird von kritischen Stimmen begleitet, z.B. Mutzelbach: „Dem Kaufer/Anbieter-Modell wird von seinen Befurwortern bescheinigt, es re- duziere Kosten - in den neunziger Jahren ein primares Ziel von Regierungspoli- tik. Ob das stimmt, muss bezweifelt werden. So lautet das Ergebnis einer aus- fuhrlichen Literaturstudie, Wettbewerb und Contracting Out hatten in den Sozia- len Diensten okonomisch keine signifikante Verbesserung gebracht (vgl. Hodge 1999). Vor allem seit immer mehr Dienste, die fruher von den staatlichen Dienstleistungsorganisationen einfach nebenher mitgeleistet wurden (z.B. das Risikomanagement), zu eigenen Vertragsposten werden, ist es durchaus mog- lich, dass sich herausstellen wird, dass die Privatunternehmen sogar weniger effizient sind als gut strukturierte staatliche Organisationen. Eine Verschiebung des Fokus von Kosten und Effizienz auf Qualitat und Wirksamkeit von Maß- nahmen konnte die konstatierten Unterschiede zwischen staatlichen und priva- ten Tragern verschwimmen lassen.

Wenn immer mehr Menschen der menschlichen, sozialen und politischen Ver- luste gewahr werden, mit denen der angebliche Spareffekt der Transformation der Regierung in ein Dienstleistungssystem, in dem alles nur noch mittels contracting out funktioniert, erkauft ist, dann kann ihnen durchaus bewusst wer­den, dass dieser Preis fur die Kostendampfung viel zu hoch ist. Dieses Be- wusstsein wird es aber zumindest in den angloamerikanischen Landern nicht leicht haben gegen die konzertierten Medienkampagnen der großen politischen Parteien und der privaten Interessengruppen, die sich von der Verwandlung der Sozialen Dienste in eine expandierende Privatindustrie Gewinne versprechen.“ Diese Kritik wird innerhalb der Sozialpsychiatrie als planwirtschaftliche und marktwirtschaftliche Kostendampfungsstrategien unter den Stichworten Ratio- nierung und Rationalisierung geteilt (Bremer, 4/08:18).

,Neue Steuerung’, bzw. die damit operierende Administration, muss sich also an ihren Ergebnissen messen lassen - nicht nur in Bezug auf Effizienz, Verschlankung und Leistungssteigerung, sondern auch im Hinblick auf ihre ge- sellschaftliche Aufgabe: die Qualitatsentwicklung und individuelle Passung von Unterstutzungsleistungen fur Menschen mit Behinderung als Dienstleister.

2.5.2 Aktuelle Verlautbarungen der Bundesarbeitsgemeinschaft uberort- licher Sozialhilfetrager (BAGuS)

Die BAGuS bezieht sich auf die oben genannten Finanzierungsnote, vor allem in Verbindung mit den prognostizierten steigenden Fallzahlen. Sie bejaht in ihrem Eckpunktepapier von 2/2007 (Aufruf vom 30.03.09) die Ziele der Selbst- bestimmung und Teilhabe der Betroffenen, des Vorrangs von ambulant vor sta- tionar, die Grundsatze der Ortsnahe, der Kooperation und Vernetzung.

[...]

Ende der Leseprobe aus 201 Seiten

Details

Titel
Teilhabeplanung als gemeindepsychiatrischer Kernprozess
Untertitel
Wege zur Partizipation im Spannungsfeld professioneller Handlungsorientierungen
Hochschule
Hochschule RheinMain - Wiesbaden Rüsselsheim Geisenheim
Veranstaltung
MAPS GP07 Masterstudiengang Gemeindepsychiatrie
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
201
Katalognummer
V150848
ISBN (eBook)
9783640626519
ISBN (Buch)
9783640627103
Dateigröße
2426 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Teilhabeplanung, Inklusion, Exklusion, Landeswohlfahrtsverband Hessen, ICF, Soziale Arbeit, Professionelle Handlungsorientierungen, Selbstbestimmung, qualitative Forschung, dokumentarische Evaluatioinsforschung, Handlungskompetenzen, Berufsrollenprofil, Kommunikation, PerSEH, BAGüS, Systemtheorie, Konstruktivismus
Arbeit zitieren
M.A. Social Work Petra Ruf (Autor:in), 2009, Teilhabeplanung als gemeindepsychiatrischer Kernprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/150848

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