Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Bekenntnis zum Leben - Das Abtreibungsproblem zwischen Kirche und Gesellschaft
1. Zum moralischen Status des Ungeborenen
1.1 Vom Anfang menschlichen Lebens
1.2 Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde
1.3 Der ungeborene Mensch als Person?
1.4 Ergebnis
2. Die schwangere Frau zwischen gesellschaftlicher Hilfestellung und Abtreibung
2.1 Das Natürliche der Schwangerschaft
2.2 Das Unnatürliche der Abtreibung
2.3 Menschenwürde als positives Menschenrecht? - Zur rechtlichen Lage in der Bundesrepublik Deutschland
2.4 Fazit: Vorbeugende Maßnahmen
2.4.1 Gesetzliche Regelung
2.4.2 Staatliche und kirchliche Solidarität
3. Kirchliche Ethik und Abtreibung
3.1 Eine kirchliche Ethik
3.1.1 Eine Ethik der Geschöpflichkeit
3.1.2 Geschöpflichkeit und „Sein in Christo“
3.1.3 Geschöpfliches Leben als Befreiung zum Leben
3.2 Kirchliche Ethik als einladende und beratende Ethik
3.3 Ein neues Bekenntnis?
C. Ergebnisse
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Der Kindermord des Herodes von Isgard Peter
2. Der Kindermord des Herodes - Weihnachten - Die Flucht nach Ägypten, Triptychon von Isgard Peter
3. Der Kindermord des Herodes - Text zum Gemälde von Isgard Peter
A. Einleitung
Die Bedingungen der Fortpflanzung, der Schwangerschaft und der Geburt haben sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bedeutend geändert1, meint der französische Soziologe Luc Boltanski in „Soziologie der Abtreibung“, einem Werk, das in Frankreich eine breite Diskussion über die Grundre- geln der Gesellschaft entfacht hat. Die gewandelte Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Auffassung von Familie, die Geschlechterbeziehung, die Ausprägungen sexuellen und emotionalen Lebens einer- seits, sowie das Verhältnis zu den entstandenen technischen Möglichkeiten andererseits sind mit jenen Veränderungen eng verknüpft.2 Zur gleichen Zeit, in den 60er und 70er Jahren, wurde - beeinflusst durch diese Veränderungen - Abtreibung in der westlichen Welt frei zugänglich. Die Möglichkeit der erlaubten Abtreibung wirkte vermutlich wiederum auf die genannten gesellschaftlichen Veränderun- gen.3 Boltanski geht davon aus, dass die Legalisierung der Abtreibung den Weg für die Biotechnologien und vor allem die künstliche Befruchtung bereitete.4
Abtreibung ist nicht erst seitdem ein äußerst umstrittenes Thema. Die Debatte darüber dauert seit der industriellen Revolution und der Verarmung des Proletariats im 19. Jahrhundert an.5 Kinder konn- ten damals im städtischen Leben zur finanziellen Last werden, weshalb es viele illegale Abtreibungen gab.6 Der Streit setzte sich im 20. Jahrhundert teils in heftigen Auseinandersetzungen fort.7 Seit den 70er Jahren ist Abtreibung in Deutschland straffrei möglich. Die Frauenbewegung setzte dies durch, in- dem sie auf eine große Zahl illegaler Abtreibungen hinwies.8 Das vielzitierte Schlagwort „Mein Bauch gehört mir!“, mit dem sich Feministinnen auf das in der Menschenwürde begründete Recht auf Selbst- bestimmung beriefen, bewirkte aber nicht nur die Emanzipation von Staat, Kirche und traditioneller Moral, sondern auch die Lösung von dem Anspruch des werdenden Kindes.9 Immer wieder äußern sich deshalb Christinnen und Christen sowie Lebensschützerinnen und Lebensschützer kritisch zur be - stehenden Abtreibungsmoral und bemängeln eine Missachtung des Tötungsverbots und der Menschen - würde des Ungeborenen.
Die mittelfränkische Unternehmerin und Künstlerin Isgard Peter machte Abtreibung zum Thema ei- ner Zeichnung mit dem Titel „Der Kindermord des Herodes“.10 Die Zeichnung gehört zu einem Tri- ptychon, in der die Künstlerin die Erzählungen um die Geburt Jesu im Matthäus- und Lukasevangelium behandelt.11 Die Zeichnung ist meiner Arbeit vorangestellt. Drei Ebenen sind darin erkennbar. Im obe- ren Bildbereich ist ein übergroß dargestelltes neugeborenes Kind zu sehen. Eine Christusgestalt mit ei- ner Dornenkrone umfängt es schützend. Ihre Arme umgeben es vollständig. Der große Kopf des Säug- lings scheint beinahe einen Nimbus zu tragen, „den Halo , den Lichtkranz um die Lichtquelle, der das menschliche Leben umgibt und seine Würde reflektiert.“12 Würde und Schutz kommen menschlichem Leben von Anfang an zu.
Die Vereinigung von Christus und Neugeborenem bildet das zentrale Schwergewicht des Bildes. Je - suskind (Mt 2,11) und Christuskönig (Mt 2,2.11[!]; 27,11) sind hier miteinander verbunden. Dieses Ver- hältnis weist gleichermaßen auf den Menschen in Gottes Augen hin. Ps 8 wird der Mensch als enosch (Mensch in seiner Schwäche und Hinfälligkeit) und ben adam (Menschenkind) beschrieben, der aus Staub geformt ist und dorthin zurückgeht (V. 5).13 Aber gerade dieser kindliche und schwache Mensch wird von Gott zum König gekrönt und ihm werden die Tiere zu Füßen gesetzt (V. 6b-9).14 In Christus, dem König, findet er seine Würde.
Im unteren Drittel des Bildes sieht man drei Frauen, die in merkwürdiger Dynamik jeweils einen Säugling auf eine Mülltonne zutragen. Die erste von ihnen hält ihr Baby schon über der geöffneten Tonne, um es hineinzuwerfen. In der Tonne sind Teile des Kopfes und des Rumpfes eines bereits weg - geworfenen Säuglings zu erkennen. Die Babys befinden sich in der Embryonalstellung und erinnern damit an ungeborene Föten. Die Dynamik des hier dargestellten Vorgangs lässt auf eine widernatürliche Macht schließen, die die Frauen wiederum in einen unnatürlichen Zustand versetzt. In der biblischen Erzählung ist es Herodes, der den Kindermord befiehlt.
Schließlich ist auf der Höhe des Christuskorpus, ebenfalls in der Mitte, eine Frau mit aufgerissenen Augen und weit geöffnetem Mund mit vorgehaltenen Händen zu sehen. Furcht und Schrecken, die hier zum Ausdruck kommen, weisen auf das aufschreiende Gewissen im Angesicht des Frevels im unteren Bildteil. Obwohl sich der Christus ganz dem Neugeborenen zuwendet, steht die Frau gleicherweise un- ter seinem Schutz. Sein rechter Arm und sein Rumpf bilden eine Art Unterschlupf, in dem sie sich auf - hält. Der hell leuchtende Christus bewahrt nicht nur das Neugeborene, sondern auch das dem Sünden - fall unterworfene Gewissen.
Die drei Ebenen der Zeichnung werden durch diese Arbeit leiten. Im ersten Kapitel wird das wer - dende Kind betrachtet (vgl. oberer Bildteil). Die Leitfrage dieses Abschnittes wird sein, wie ungebore- nes menschliches Leben moralisch zu beurteilen ist. Im zweiten Kapitel wird die Rolle der Frau, des Mannes und der Gesellschaft bzw. des Staates beim Abbruch von Schwangerschaft durch Abtreibung des Kindes behandelt (vgl. unterer Bildteil). Hier wird die Frage nach der Natürlichkeit der Schwanger- schaft und der Ehe gestellt und nach den gesellschaftlichen Kräften, die diese Natürlichkeit zerbrechen oder auch bewahren können. Zum Schluss geht es um eine Ethik des Leibes Christi und das christliche Gewissen (vgl. mittlerer Bildteil). Was ist für eine kirchliche Ethik maßgeblich und wie kann die Kirche den Aufschrei des Gewissens angesichts der Abtreibungsproblematik angemessen zum Ausdruck brin- gen?
B. Bekenntnis zum Leben - Das Abtreibungsproblem zwischen Kirche und Gesellschaft
In den Volksreligionen der meisten Kulturen sowie in den ethnischen Religionen und dem Hinduis- mus existieren bezüglich der Schwangerschaft „Tabus und Riten“, die vor allem „dem Schutz des Le - bens und der Unversehrtheit des werdenden Kindes und einer leichten Geburt“ dienen sollen.15 Wohl in allen Religionen sind der Schutz des ungeborenen Lebens, Schwangerschaft oder Geburt irgendwie von Bedeutung. Reinheitsvorschriften in Bezug auf die Geburt finden sich auch in der Bibel (vgl. Lev 12,1-4; Lk 2,22). Auch ist mehrmals von der Mühsal der gebärenden Frau und ihrer schmerzvollen Ge- burt die Rede (vgl. Gen 3,16; 1Chr 4,9; Joh 16,21). Abtreibung wird nicht direkt angesprochen, aber es gibt eine Entschädigungsregelung für den Fall, dass ein ungeborenes Kind, während eines Streits durch einen Stoß abgeht bzw. die Schwangere geschädigt wird (vgl. Ex 21,22ff.). Außerdem beschreibt die Bi - bel, dass Gott den Menschen bereits vor seiner Entstehung kennt und ihn im Mutterleib formt und beruft (vgl. Jer 1,5; Ps 139,13-16)16. Entsprechend verurteilten christliche Theologen, sobald sie sich mit Abtreibung befassten, diese - genau wie Kindermord17 - scharf. So findet sich in der Zwölf-Apostel- Lehre (Didache) das wahrscheinlich erste christliche Zeugnis zu Abtreibung:
„Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht Knaben schänden, nicht huren, nicht stehlen, nicht Zauberei treiben, nicht Gift mischen, nicht abtreiben noch ein Neugeborenes töten“18.
Auch im Barnabasbrief19 und bei den frühchristlichen Apologeten und Kirchenvätern20 gibt es ähnliche Aussagen.
1. Zum moralischen Status des Ungeborenen
Während Abtreibung unter Christen prinzipiell abgelehnt wurde, übernahmen Theologen ab der Spätantike die aus der aristotelischen Philosophie stammende Unterscheidung von beseelter ( foetus animatus ) und unbeseelter ( foetus inanimatus ) Leibesfrucht.21 Danach galt der männliche Embryo ab dem 40. Tag, der weibliche ab dem 90. Tag nach der Empfängnis als beseelt . So vermutete Augustin, dass menschliches Leben erst mit der Beseelung, also nach einer gewissen Entwicklung des Embryo beginne.22 Die Theorie der Beseelung ( animatio foetus ) setzte sich schließlich bis ins römische Kirchenrecht, dem Corpus Iuris Canonici durch, das im Mittelalter allmählich entstand. Bei der Beurteilung einer Abtreibung wurde dann entsprechend unterschieden:
„Some canonists, including Gratian (1160) (C.J.C. i 1121-22) and Innocent III (1216) (C.J.C. ii 81) began to reserve the charge of homicide for later abortion - that is, abortion procured after the »infusion« of the human soul.“23
Erst im Jahre 1869 schaffte Papst Pius IX. aufgrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Werden menschlichen Lebens diese Unterscheidung endgültig ab.24 Seitdem wird vom römisch-katholi- schen Lehramt die Einstiftung der Geistseele durch Gott bei der Zeugung vertreten.25 Das ist deckungsgleich mit der Auffassung der orthodoxen Kirche, die der von den griechischen Kirchenvätern überlieferten Ganzheitlichkeit von Körper und Seele Rechnung trägt.26 Doch bis heute ist der Status des Embryos in Philosophie und Theologie umstritten. Die Frage, „ab wann“ die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens „beginnt“, wird angesichts der Möglichkeiten der modernen Biotechnik neu ge - stellt. Es wird gefragt, ob in der Entwicklung vorgeburtlichen Lebens Einschnitte festgestellt werden können, die für seinen moralischen Status relevant sind.
1.1 Vom Anfang menschlichen Lebens
Der ehemalige Ratsvorsitzende der EKD Wolfgang Huber stellt sieben Stufen in der Entwicklung menschlichen Lebens dar, die für den Beginn des Würdeträgerstatus in Erwägung gezogen werden.27 Er stellt heraus, dass es sich bei der vorgeburtlichen Entwicklung um einen kontinuierlichen Prozess han- delt. Alle Versuche, die unternommen werden, einen Zeitpunkt festzulegen, an dem menschliches Le- ben „beginnt“, sind willkürliche Setzungen.28 Deshalb plädiert Huber für einen „offenen Anfang des menschlichen Lebens“29. Es ist „von menschlichem Leben auch schon vor der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle“30 zu sprechen. Der Verschmelzungsprozess ist aber „der sicherste Hinweis darauf, dass ein menschliches Leben beginnt.“31 Der Wiener Ethiker Günther Pöltner differenziert zwischen Anfang und Beginn: „Indem etwas beginnt, hat es als ganzes schon angefangen zu sein.“32 Zur Frage nach dem Anfang stellt die Nürnberger Religionspädagogin Karin Ulrich-Eschemann fest: „Theolo- gisch gesprochen, liegt der Anfang bei Gott. Deshalb braucht er von uns nicht festgelegt zu werden, kann er nicht festgelegt werden.“33 Für Huber, Pöltner und Ulrich-Eschemann gilt der Schutz menschli- chen Lebens von Anfang an uneingeschränkt.34
1.2 Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist die Würde des Menschen Art. 1 Abs. 1 GG vor die Grundrechte gestellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Auch wenn der Begriff der „Würde des Menschen“ nicht in der Bibel auftaucht, sondern erst mit der Aufklärung in Erscheinung tritt, hat er doch seine Wurzeln in der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26f.). „Die Gottebenbildlichkeit wird […] in der geistigen Welt des Christentums zu einem Zentralbegriff in der Beschreibung der besonderen Würde des menschlichen Lebens.“35 Immanuel Kant unterscheidet zwischen Dingen, die einen Wert und damit einen Preis haben und Dingen, die Zweck an sich selbst sind, die einen inneren Wert, also Würde ha - ben:
„Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äq u iva le nt gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“36
Selten wird die Rede von der Würde des Menschen grundsätzlich abgelehnt. Umstritten ist allerdings, wie diese zu verstehen ist. Gehört vorgeburtliches menschliches Leben zur „Gemeinschaft der Menschen“37 ? Inwiefern wird ihm damit die Anerkennung der Menschenwürde geschuldet und was bedeutet das für seine Schutzwürdigkeit?
1.3 Der ungeborene Mensch als Person?
„Die neuzeitliche moderne Ethik westlicher Prägung begründet das generelle Tötungsverbot mit dem Status des Menschen als Person.“38 Eine Person ist ein freies, zur Selbstachtung fähiges, sittliches Wesen, das unbedingt zu achten ist. Nun ist es nicht ohne weiteres einsichtig, dass der Personstatus menschlichem Leben in seinen frühesten Erscheinungen gilt. Der australische, an der Princeton Univer- sity lehrende Philosoph Peter Singer definiert „Person“, ausgehend vom bewusstseinstheoretischen Per- sonbegriff von John Locke, als rationales und selbstbewusstes Wesen.39 Personsein ist damit „vom Vor- liegen bestimmter Eigenschaften bzw. Fähigkeiten abhängig“.40 Demzufolge spricht Singer nicht von Würde, sondern vom „Wert des Lebens“.41 Dem Präferenzutilitarismus42 gemäß hängt der zu gewäh- rende Schutz eines Lebewesens allein von seinen (mutmaßlichen) Präferenzen ab. Weil eine „Person“ viele bedeutende und außerdem zukunftsorientierte Präferenzen habe, sei „[f]ür Präferenz-Utilitaristen […] die Tötung einer Person in der Regel schlimmer als die Tötung eines anderen Wesens“43. Ein ernst- zunehmendes Recht auf Leben habe nur die „Person“.44
Nach Jeremy Bentham, dem Begründer des modernen Utilitarismus rechtfertigt allein die Fähigkeit zu leiden den „Anspruch auf gleiche Interessenabwägung“45. Demnach sind einerseits schmerzempfind- same, nichtmenschliche Lebewesen, hinsichtlich ihres Interesses schmerzfrei zu bleiben, genauso re- spektvoll zu behandeln wie Menschen. Andererseits können nichtbewusste Lebewesen, weil sie keine Schmerzen empfinden, überhaupt keine Interessen haben.46 Daraus ergibt sich folgende Sichtweise vom ungeborenen Leben:
„Ich schlage daher vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen als dem Leben ei - nes nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewußtseins, der Bewußtheit, der Empfindungsfähigkeit usw. Da kein Fötus eine Person ist, hat kein Fötus denselben An- spruch auf Leben wie eine Person. […] Bis diese Fähigkeit [Schmerz zu empfinden, C. V. M.] vorhanden ist, beendet ein Schwangerschaftsabbruch eine Existenz, die überhaupt keinen Wert an sich hat.“47
Somit stuft er Abtreibungen vor der 18. Woche als „moralisch neutral“48 ein. Denn erst ab der 18. Woche entwickle sich das Gehirn in den Teilen, die mit der Bewusstseinsbildung zusammenhängen. Und selbst nach diesem Zeitpunkt hätten die Interessen der Frau, die „Person“ ist, Vorrang vor den un - ausgebildeten Interessen eines Fötus, der nicht „Person“ ist. Dieses Argument überträgt Singer dann auch auf Neugeborene und kommt zu „der Ansicht, daß - aus rein moralischen Gründen - das Töten eines Neugeborenen mit dem Töten eines älteren Kindes oder eines Erwachsenen nicht vergleichbar ist.“49 Er kommt zu entsprechenden Ergebnissen für ältere Kinder und Erwachsene, „die auf der geistigen Reifestufe eines Säuglings stehengeblieben sind“50.
Der Status „Person“ gilt in dieser Logik nicht für alle Menschen. Doch von theologischer51 und phi- losophischer52 Seite wird immer wieder betont, dass die Personwürde menschlichem Leben schon im Anfangsstadium zukommt. Ein wichtiges Argument ist, dass es, damit sich Säuglinge zu Personen ent- wickeln können, notwendig ist, sie so zu behandeln, als wären sie es schon.53 Das Respektieren der Per- sonwürde, obwohl ein Mensch nicht von seiner Personalität Gebrauch machen kann, wie es im Falle von Behinderung, Krankheit und Alter der Fall sein kann, muss analog auch für ungeborenes Leben gelten.54 Im Menschen mehr zu sehen, als er in seinen Fähigkeiten aufweisen kann, entspricht außerdem der Grundeinsicht der Reformation, dass niemand identisch ist mit seinen Leistungen oder Fehlleistun- gen: „Gott schaut dich und mich als Personen an - unabhängig davon, ob wir uns vor Gott als Perso- nen erweisen, also selbst rechtfertigen können.“55
Der Berner Theologe Marco Hofheinz beschreibt ausgehend von der Lehre von der Schöpfungs- mittlerschaft Jesu Christi, wie Embryonen von ihrem Ursprung her als Personen wahrgenommen wer - den können.56 Mit dem „vor aller Zeit“ des Nicaeno-Constantinopolitanum bezüglich der Geburt Jesu Christi „aus dem Vater“, wird zwar der Ursprung des Sohnes, nicht aber sein Anfang benannt.57 Der Sohn Gottes wird zwar Mensch „in der Zeit“, aber er war „vor der Zeit“.58 In Jesus Christus sind auch die Menschen, „ehe der Welt Grund gelegt war“ (vgl. Eph 1,4), erwählt worden.59 Analog zu der Unmög- lichkeit, einen „Beginn“ für die zweite trinitarische Person festzulegen, spricht sich Hofheinz gegen „die Fixierung eines zeitlichen Beginns der Person“60 aus. Hofheinz formuliert, wie Embryonen hinsichtlich ihres Ursprungs wahrzunehmen sind:
„[N]ämlich in Analogie zur zweiten »Person« der Trinität als Personen, die - so wie Christus von Anfang an Sohn Gottes und Schöpfungsmittler ist - von Anfang an Personen sind.“61
Auch wenn der Beginn der Person nicht festgestellt werden kann, plädiert Hofheinz dafür, „die Zeugung im Sinne eines frühestmöglichen Zeitpunktes (also unter Einschluss des sog. Pronucleusstadiums) als Anfang wahrzunehmen, weil jeder spätere Termin dem ursprünglichen Personensein widersprechen würde.“62
Hofheinz und Huber wollen Embryonen also als Personen wahrnehmen bzw. so behandeln, als ob sie Personen wären. Aber sind sie dann auch Personen? Dies ist theologisch zu bejahen, denn diese Wahrnehmung von Menschen ist in der Wahrnehmung Gottes aufgehoben.63 Deshalb heißt es in der gemeinsamen Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz der katholischen Kirche von 1989 „Gott ist ein Freund des Lebens“: „Das ungeborene menschliche Leben wird immer besser wahrnehmbar als das, was es ist. “64 Auch Karin Ulrich-Eschemann zeigt, dass der ungeborene Mensch Person ist. Denn menschliches Leben ist als menschliches Werden zu verstehen, das nicht das Werden „einer fertigen oder unfertigen Person ist, sondern das einer werdenden Person“65 :
„Es gibt nicht nur das Werden des Kindes, es gibt ein bleibendes Werden im menschlichen Leben, und es gibt ein gemeinsames Werden: Auch die Frau wird (fieri) eine Mutter, so wie wir von einer »wer - denden Mutter« sprechen.“66
Eine Person ist „jemand“ und nicht „etwas“.67 Spricht man davon, dass menschliches Leben irgendwann in seiner Entwicklung noch nicht Person ist, dann muss man davon ausgehen, dass „etwas“ mit der Zeit zu „jemand“ wird. Aber „[e]s gibt keinen gleitenden Übergang von »etwas« zu »jemandem«“68, „es kann sich nicht ein Etwas zur Person entwickeln.“69
1.4 Ergebnis
Ich ziehe folgende Schlussfolgerungen für den moralischen Status vorgeburtlichen menschlichen Le- bens: 1. Moralisch relevante Zäsuren im Wachstum pränatalen Lebens können nicht ohne Willkür fest- gelegt werden. 2. Der moralische Status vorgeburtlichen menschlichen Lebens ist der einer Person. Denn hinsichtlich ihres (Person-)Werdens und ihres Ursprungs in Gott sind Menschen, geboren oder ungeboren, gleich. Damit gehört vorgeburtliches menschliches Leben zur Gemeinschaft der Menschen, für die die Menschenwürde gilt. 3. Als Person, die Personwürde hat, ist vorgeburtliches menschliches Leben zu schützen, wie eine Person zu schützen ist. Daher ist Abtreibung nicht möglich, ohne die Per - sonwürde des ungeborenen Kindes zu verletzen. Auch wenn man in der wissenschaftlichen Nomenkla - tur eine Alternative zum Personbegriff fände, änderte sich an diesem Sachverhalt nichts.
2. Die schwangere Frau zwischen gesellschaftlicher Hilfestellung und Abtrei- bung
Auch in der gemeinsame Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens“ sprechen sich die Kirchen klar für die Personalität ungeborenen Lebens und gegen Abtreibungen aus.70 Doch wird hier zudem betont, dass das Recht des Ungeborenen nicht gegen die schwangere Frau durchgesetzt werden darf. Das Un - geborene ist abhängig von der Schwangeren und die Beziehung zu ihr darf nicht vernachlässigt werden. „Darum müssen alle Anstrengungen zum Schutz des ungeborenen Lebens im Mutterleib darauf gerich- tet sein, es mit der Frau und nicht gegen sie zu schützen.“71 Im folgenden Kapitel wird deshalb erörtert, was getan werden kann, damit Abtreibungen zum Schutz des ungeborenen Kindes und zum Schutz der schwangeren Frau, möglichst verhindert werden. Im Blick sind vor allem die äußeren gesellschaftlichen Bedingungen wie Ansichten und Einstellungen („Übereinkünfte“), geltendes Recht und Solidarität.
[...]
1 Vgl. Boltanski, Soziologie,13.
2 Vgl. Boltanski, Soziologie, 13.
3 Vgl. Boltanski, Soziologie, 14.
4 Vgl. Boltanski, Soziologie, 14.
5 Vgl. Mayer, Schwangerschaftskonfliktberatung, 13.
6 Vgl. Mayer, Schwangerschaftskonfliktberatung, 13.
7 Vgl. Boltanski, Soziologie, 15.131.
8 Vgl. Spieker, Probleme, 25f.
9 Vgl. Ulrich-Eschemann, Geborenwerden, 86.
10 Siehe Anhang 1.
11 Siehe Anhang 2.
12 Wannenwetsch, Mensch, 36.
13 Vgl. Wannenwetsch, Mensch, 33.
14 Vgl. Wannenwetsch, Mensch, 34.
15 Heller, Schwangerschaft, 1045.
16 Vgl. Hiob 10,8-12; Ps 22,10-11.
17 Zu Kindermord in der Bibel vgl. z. B. Ex 1,15-22, Lev 18,21; 20,2-5; Dtn 18,10; Ps 106,37f.; Jer 7,31; 19,5; 32,35; Mt 2,16-18.
18 Did 2,2.
19 Vgl. Barn 19,5; 20,1f.
20 „In Chrysostom's words, it was »worse than murder«“. Burtchaell, Abortion, 3.
21 Vgl. Demel, Schwangerschaftsabbruch, 630.
22 Vgl. Burtchaell, Abortion, 3.
23 Burtchaell, Abortion, 3.
24 Vgl. Burtchaell, Abortion, 4.
25 Vgl. Burtchaell, Abortion, 4; vgl. die Enzyklika Evangelium vitae von Johannes Paul II., Nr. 43 und Nr. 60.
26 Nach Breck, Stages, 83, gilt für die orthodoxe Lehre deshalb, „that the person is an ensouled being, and is such from fer- tilization onward.“
27 Vgl. Huber, Mensch, 38ff.
28 Vgl. Huber, Mensch, 45; Hofheinz, In-vitro-Fertilisation, 260f.; Pöltner, Grundkurs, 195.
29 Huber, Mensch, 45.
30 Huber, Mensch, 46. Hervorhebung: C. V. M.
31 Huber, Mensch, 45.
32 Pöltner, Grundkurs, 219.
33 Ulrich-Eschemann, Geborenwerden, 78.
34 Vgl. Huber, Mensch, 46; Pöltner, Grundkurs, 219; Ulrich-Eschemann, Geborenwerden, 90.
35 EKD, Gott, 39.
36 Kant, Grundlegung, 434.
37 Auf den Vorwurf des „Speziesismus“ (vgl. Singer, Ethik), womit die Sonderstellung des Menschen in der Natur analog zum „Rassismus“ benannt und verurteilt wird, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Zur Widerle - gung des Speziesismusvorwurfs siehe z. B. Spaemann, Personen; Pöltner, Grundkurs; Schockenhoff, Speziesargument; Hofheinz, In-vitro-Fertilisation.
38 Baumgartner, Menschenwürde, 333.
39 Vgl. Singer, Ethik, 120.123.
40 Pöltner, Grundkurs, 199.
41 Vgl. Singer, Ethik, 115f.
42 Vgl. Singer, Ethik, 128. Der Präferenzutilitarismus ist eine Modifikation des klassischen Utilitarismus, welcher nach der Vermehrung von Glück/Lust und der Verminderung von Unglück/Unlust der Betroffenen fragt.
43 Singer, Ethik, 129.
44 Vgl. Singer, Ethik, 130ff.
45 Singer, Ethik, 84.
46 Vgl. Singer, Ethik, 85.
47 Singer, Ethik, 197.
48 Singer, Ethik, 215.
49 Singer, Ethik, 222.
50 Singer, Ethik, 232.
51 Vgl. KKK, Nr. 2323; EKD, Gott, 43ff.
52 Vgl. z. B. Spaemann, Personen, 261f.
53 Vgl. Spaemann, Personen, 256f.; Ulrich-Eschemann, Geborenwerden, 82f.; Huber, Mensch, 23.
54 Vgl. Huber, Mensch, 46.
55 Huber, Mensch, 23.
56 Hofheinz, In-vitro-Fertilisation, 487, untersucht die biomedizinethische Valenz Schöpfungsmittlerschaft Jesu Christi für den Fall der In-vitro-Fertilisation (IVF), vgl. a .a. O., 506-543. Er kommt schließlich zur Ablehnung von IVF, vgl. a .a. O., 543.
57 Vgl. Hofheinz, In-vitro-Fertilisation, 513.
58 Vgl. Hofheinz, In-vitro-Fertilisation, 514f.
59 Vgl. Hofheinz, In-vitro-Fertilisation, 511f.
60 Hofheinz, In-vitro-Fertilisation, 518.
61 Hofheinz, In-vitro-Fertilisation, 516.
62 Hofheinz, In-vitro-Fertilisation, 520.
63 Vgl. Fischer, Fundament, 100.
64 EKD, Gott, 45.
65 Ulrich-Eschemann, Geborenwerden, 81.
66 Ulrich-Eschemann, Geborenwerden, 80.
67 Auf die von Spaemann, Personen, präzisierte Unterscheidung zwischen „etwas“ und „jemand“ wird in Bezug auf die Frage des moralischen Status des Embryos immer wieder Bezug genommen, vgl. Ulrich-Eschemann, Geborenwerden,
81.98; Huber, Mensch, 23ff.; Ulrich, Geschöpfe, 638; Kreß, Ethik, 169.
68 Spaemann, Personen, 258. „Personen sind, oder sie sind nicht. Aber wenn sie sind, sind sie immer aktuell, semper in actu . Sie sind, wie die aristotelische Substanz, prote energeia , erste Wirklichkeit, die die Möglichkeit zu einer Vielfalt von weiteren Aktualisierungen in sich birgt.“ Spaemann, Personen, 262.
69 Ulrich-Eschemann, Geborenwerden, 81.
70 Vgl. EKD, Gott, 45.68.
71 EKD, Gott, 65.