Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Wolfgang Merkels Theorie der Defekten Demokratie
2.1 Das Konzept der ‚embedded democracy’
2.2 Das Konzept der Defekten Demokratie
2.3 Merkels Institutionenbegriff
3 Anwendung der Theorie Merkels auf die politischen Institutionen Indiens
3.1 Hauptcharakteristika und Entstehungshintergrund der Institutionen Indiens
3.2 Indien – Eine defekte Demokratie?
3.3 Kritik am Merkelschen Konzept
4 Schlussbetrachtung
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die indische Demokratie gleicht einem Mythos. Wie konnte sich ein Land, in dem die industrialisierte Wirtschaft weitgehend fehlt, in dem Armut und Analphabetismus vorherrschen und dessen ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt ohne Beispiel ist auf diesem Planeten, zu einer der ältesten und größten Demokratien der Welt entwickeln (Ihlan, 2006: 10)? Und warum kann eine solche Demokratie, dessen Gesellschaft sich entlang tiefster Konfliktlinien organisiert, auf Dauer überleben?
Eine Antwort darauf sucht man besonders im Bereich der Internationalen Beziehungen komparativer Politikwissenschaften, die eine Fülle an Theorien zur Analyse und zur Erklärung dieser Fragen hervorgebracht haben. Die vorliegende Arbeit kann leider nicht auf die gesamte Problematik, auf alle Theorien und Paradigmen zur Auseinandersetzung mit der Demokratie Indiens eingehen. Sie wird sich mit einer für die Politikwissenschaft, insbesondere für die Transitionsforschung, sehr relevanten Theorie beschäftigen: mit der Theorie der Defekten Demokratie Wolfgang Merkels.
Wolfgang Merkel, Professor für Politikwissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, untersucht seit Beginn der 1990er Jahre Transitionsländer auf ihrem Weg zur Demokratie. Sein kritisches und innovatives Konzept der „Defekten Demokratie“ ist bestrebt, politische Regimetypen, die sich in einer Grauzone zwischen Autoritarismus und Demokratie befinden, zu analysieren und zu kategorisieren. In zahlreichen Werken hat Merkel theoretische Grundlagen gelegt und verschiedenste Fallbeispiele geprüft, unter anderem auch Indien.
In dieser Arbeit wird die indische Demokratie unter Anwendung der Theorie von Wolfgang Merkel untersucht. Aufgrund der fast unüberschaubaren Menge an Analysemöglichkeiten werde ich mich an dieser Stelle auf den Bereich der Institutionen des politischen Regimes Indiens beschränken.
Diese Arbeit ist in zwei Kapitel unterteilt. Im ersten möchte ich die Theorie Merkels kurz darstellen und besonders den Untersuchungsansatz verfolgen, der die Ursachen defekter Demokratien in politischen Institutionen sucht. Im zweiten Teil soll nach einer kurzen Darstellung der Besonderheiten und Entstehungshintergründe der indischen Institutionen untersucht werden, wie das Konzept Merkels darauf angewendet werden kann, welche Lösungen es findet und welche Probleme sich dabei ergeben.
Ob diese Theorie allerdings ausreicht, um alle Fragen und Konflikte zu lösen, die die Vielfalt und Widersprüchlichkeiten rund um die Demokratie Indiens betreffen, bleibt frag- und kritikwürdig. Dies zu veranschaulichen ist Ziel der vorliegenden Arbeit.
2.1 Das Konzept der ‚embedded democracy’
Wolfgang Merkel definiert Demokratie als ein Set institutioneller Minima, das erstens eine vertikale Dimension demokratischer Herrschaft bezeichnet, nämlich vertikale Machtkontrolle, universelles aktives und passives Wahlrecht und die effektive Gewährleistung der damit verbundenen grundlegenden politischen Partizipationsrechte; zweitens eine horizontale Dimension, also Herrschaftskontrolle im Rahmen der gewaltenteiligen Organisation der Staatsgewalt und der rechtsstaatlichen Herrschaftsausübung; drittens eine transversale Dimension, also die effektive Zuordnung der Regierungsgewalt zu den demokratisch legitimierten Herrschaftsträgern. (Merkel et al. 2003b: 47)
Ein demokratisches Herrschaftssystem bezeichnet Merkel demnach als mehrdimensionale politische Ordnung, die aus unterscheidbaren Komplexen von Funktionsregeln (Teilregime) besteht, die jeweils Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie definieren. Sein Konzept der rechtstaatlichen Demokratie als Einheit der im Folgenden skizzierten fünf interdependenten Teilregime nennt Merkel „embedded democracy“ (ebd.: 48ff.).
Zuerst, und in kardinaler Abgrenzung zur Autokratie, definiert Merkel das Wahlregime mit der Funktion, „den Zugang zu den zentralen staatlichen Herrschaftspositionen über einen offenen Wettbewerb an das Wählervotum zu binden“ (ebd.: 50). In Anlehnung an die Demokratie- kriterien Robert Dahls gewährt das Wahlregime sowohl ein aktives als auch passives universelles Wahlrecht, freie und faire Wahlen sowie gewählte Mandatsträger 1 . Merkel schreibt dem Wahlregime die zentrale Position unter allen Teilregime zu: In einer funktionierenden demokratischen Ordnung sind alle anderen Teilregime an das Funktionieren des Wahlregimes gebunden und demnach eingebettet.
Das zweite Teilregime der Politischen Teilhaberechte bildet das Anreizsystem für eine öffentliche Arena, in der organisatorische und kommunikative Macht gebildet wird und die über kollektive Meinungs- und Willensbildungsprozesse die Konkurrenz um Herrschafts- positionen belebt. Erst die Öffentlichkeit ermöglicht die volle Entfaltung politischer und ziviler Gesellschaft, „die wiederum die sensitive Rückkopplung staatlicher Institutionen an die Interessen und Präferenzen der Bürger fördert“ (ebd.: 52).
Das wechselseitige Agieren der ersten beiden Teilregime sichert die demokratische Performanz, fördert ein responsives Regieren und bildet somit die vertikale Dimension der Herrschaftslegitimation und -kontrolle in Merkels Konzept der ‚embedded democracy’.
Die transversale Dimension oder „Querverstrebung“ für institutionelle Minima (ebd.: 54) bildet die Rechtsstaatlichkeit, dessen zentraler Baustein sich im dritten Teilregime der Bürgerlichen Freiheitsrechte manifestiert, welche den Schutz der Bürger gegen den Staat gewährleisten, sofern sie verfassungsmäßig verankert sind. Zudem wirken souveräne Gerichte als eigenständige Instanzen zur Überprüfung legislativer und exekutiver Akte.
Eine funktionierende Judikative bildet wiederum die Voraussetzung für das vierte Teilregime der Horizontalen Gewaltenkontrolle, welche die Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns absichert.
Als fünftes und letztes Teilregimes besteht die Effektive Regierungsgewalt. Nach Merkel dürfen außerkonstitutionelle Akteure nicht die Verfügungsgewalt über bestimmte Politikbereiche besitzen:
Dies bezieht sich sowohl auf die Existenz so genannter reservierter Politikdomänen, also politische Materien, über die Legislative und Regierung keine ausreichende Entscheidungsbefugnis haben, als auch auf die besondere Problematik einer unzureichenden zivilen Kontrolle über Militär, Polizei oder andere Bürokratien und Gruppen. (ebd.: 55)
Die einzelnen Teilregime der embedded democracy weisen in institutioneller und funktionaler Sicht einen gewissen Grad an Autonomie auf, die allerdings dadurch begrenzt ist, dass sich die Funktionslogiken der Teilregime wie des demokratischen Gesamtregimes erst aus der Interdependenz der Funktionsweisen aller Partialregime erschließen. (ebd.: 57)
Das Merkelsche Konstrukt der fünf beschriebenen fünf Teilregime ist zusätzlich in die sozialen, ökonomischen, kulturellen und internationalen Kontexte einer Gesellschaft eingebettet. Als „nicht-hintergehbare Grundbedingungen für die Errichtung und Aufrechterhaltung eines minimalistisch-institutionell konzipierten Demokratiemodells“ (ebd.: 58) nennt Merkel beispielsweise die Faktoren Staatlichkeit, Existenz eines Marktes sowie ein Mindestmaß an Säkularisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens.
2.2 Das Konzept der Defekten Demokratie
Der von Merkel geprägte Begriff der Defekten Demokratie bezeichnet Regimetypen, die weder rein demokratisch noch autoritär sind, sich also in einer Grauzone zwischen diesen beiden Polen befinden. Ist „die wechselseitige Einbettung der Teilregime zerbrochen und die Gesamtlogik der rechtsstaatlichen Demokratie gestört“ (ebd.: 65), handelt es sich nach Merkel um so genannte defekte Demokratien, die er definiert als Herrschaftssysteme, die sich durch das Vorhandensein eines weitgehend funktionierenden demokratischen Wahlregimes zur Regelung des Herrschaftszugangs auszeichnen, aber durch Störungen in der Funktionslogik eines oder mehrerer der übrigen Teilregime die komplementären Stützen verlieren, die in einer funktionierenden Demokratie zur Sicherung von Freiheit, Gleichheit und Kontrolle unabdingbar sind. (ebd.: 66)
Nach dem jeweiligen beschädigten Teilregime erwägt Merkel vier Reintypen einer defekten Demokratie: Erstens die Exklusive Demokratie, in der die vertikale Legitimations- und Kontrolldimension der embedded democracy beschädigt ist. In einer exklusiven Demokratie sind nach Merkel nennenswerte Teile der Zivilgesellschaft vom Wahlrecht ausgeschlossen, ist das Prinzip von freien und fairen Wahlen verletzt und bzw. oder erfolgen Eingriffe in die politischen Freiheitsrechte in einer öffentlichen Arena. Zweitens geht die Illiberale Demokratie aus einer Störung des Rechtsstaates hervor, zum Beispiel durch Verletzungen bestimmter bürgerlicher Freiheits- und Schutzrechte des Individuums. Der dritte Typ, die Delegative Demokratie, tritt auf, sobald das horizontale System der ‚checks and balances’, also das Teilregime der horizontalen Gewaltenkontrolle, beeinträchtigt ist. Viertens entsteht eine Enklavendemokratie, wenn gewisse Vetomächte demokratisch gewählten Repräsentanten den Zugriff auf bestimmte Politikbereiche entziehen (ebd.: 70f.).
Für die verschiedenen Kriterien der einzelnen Teilregime formuliert Merkel ausgewählte Indikatoren, die eine qualitative empirische Messung und somit eine Operationalisierung seines Konzeptes der Defekten Demokratie sowie eine Kategorisierung der vier dargestellten Reintypen ermöglichen soll.
Zusätzlich analysiert Merkel die Ursachen defekter Demokratien innerhalb der Bereiche Institutionen, Akteure, Entwicklungspfad und –stand, Wirtschaftskonjunktur, soziale Kultur, Zivilgesellschaft, Typ des autoritären Regimes, Transitionsmodus, Staatlichkeit, Nationsbildung und internationaler Kontext. Aufgrund dieser Fülle an Themen soll sich im Folgenden auf den Bereich der Institutionen beschränkt werden.
2.3 Merkels Institutionenbegriff
Wolfgang Merkel sieht Institutionen als Regelwerke oder Spielregeln, die den „Handlungs- korridor“ für Akteure festlegen, sowohl restringierend als auch ermöglichend2 (ebd.: 191ff.).
„Eine Institution ist eine verhaltensnormierende und verhaltensrationalisierende Regel oder ein System [formaler und informeller; J. L.] Regeln“, welches Merkel als „institutionelles Arrangement“ bezeichnet (ebd.: 192). Eine politische Institution betrifft „die Herstellung, Durchführung und Kontrolle politischer Sach- und Regelentscheidungen einer Gesellschaft“ (ebd.: 192).
Formale politische Institutionen, zum Beispiel Verfassungen oder Gesetze, bestimmen nach Merkel generell die Struktur eines politischen Systems und entstehen durch politische, administrative oder richterliche Satzung.
Informelle Institutionen wiederum ergeben sich aus den regelmäßigen Interaktionsprozessen innerhalb einer Gesellschaft, sind demnach von partikularer Geltungskraft und werden nicht durch den Staat, sondern gesellschaftlich sanktioniert.
Nach Merkel erweisen sich formale politische Institutionen nur dann als stabil, wenn sie sich auf entsprechende informelle institutionelle Arrangements stützen und somit ein ausgewogenes Institutionengleichgewicht besteht (ebd.: 193). Demnach sind für das Entstehen einer defekten Demokratie solche formal-institutionellen Arrangements vorteilhaft […], welche die Konzentration politischer Verfügungsrechte und Entscheidungsbefugnisse auf individuelle oder kollektive Akteure mit geringen Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten gegen den Missbrauch dieser Rechte kombinieren. Vorteilhaft für das Entstehen einer defekten Demokratie ist die Koexistenz von formalen Institutionen und informalen Regeln dann, wenn die eingegrenzte Wirkung formaler Institutionalisierung mit einer Hybridisierung informaler Arrangements einhergeht, die in einem Konfliktverhältnis zueinander stehen. (ebd.: 194)
Einerseits müssen nach Merkel also informelle Regeln an die Maßstäbe formaler politischer Institutionen einer liberalen Demokratie angepasst sein. Ein Gleichgewicht besteht, wenn die formalen Regeln von gesellschaftlichen Akteuren akzeptiert werden und deren Durchsetzung bestenfalls durch ein komplementäres System informeller Regeln ergänzen. Ist dies nicht der Fall, wird das Entstehen einer defekten Demokratie begünstigt.
Andererseits sind Verhalten und strategische Interaktionen zwischen politischen Akteuren von großer Relevanz für die Entwicklung einer funktionierenden liberalen Demokratie, denn obwohl formale Institutionen die Regeln für politische Entscheidungsbefugnisse festlegen, folgen Validität und Sicherheit dieser politischen Verfügungsrechte auch informellen Regeln, die von den handelnden politischen Akteuren generiert werden (ebd.: 194).
Inwieweit diese Überlegungen auf das Beispiel der Institutionen Indiens zutreffen und ob sich diese Theorie überhaupt als anwendbar erweist, um die Verhältnisse des politischen Systems Indiens zu analysieren und gar zu erklären, soll im folgenden Kapitel geklärt werden. Dabei werden zuerst die politischen Institutionen in Indien bezüglich ihres Entstehungshintergrundes, Hauptcharakteristika und ihrer Besonderheiten näher analysiert, damit das Verständnis der Anwendung von Merkels Theorie gewährleistet ist.
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1 vgl. Dahl, Robert A.: Democracy and ist Critics. New Haven: Yale University Press, 1989
2 Merkel orientiert sich an der rationalen Institutionstheorie, vgl. hierzu: North, Douglass Cecil: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung. Tübingen: Mohr, 1992