[...] Die größte Gruppe stellte mit über
14 Millionen Menschen, das waren etwa elf Prozent der russischen Gesamtbevölkerung,
die islamische Bevölkerung Zentralasiens, des Kaukasus, des Wolgagebietes und der
Krim.1 Demnach war der Islam nach der Russisch-Orthodoxen-Kirche die zweitgrößte
Religionsgemeinschaft innerhalb des Herrschaftsbereiches der neuen Machthaber. Er
musste daher als ein ernstzunehmender und wichtiger gesellschaftlicher Faktor angesehen
werden.
Zu Beginn der Zwanziger Jahre ergab sich folgende Situation:
Auf der einen Seite waren die Bolschewisten besonders kurz nach ihrer Machtübernahme
vor das Problem gestellt, im Kampf um die Macht und ihrer Erhaltung politische
Verbündete zu finden.2 Ein solcher Verbündeter konnten insbesondere Völker sein, die
sich zum Islam bekannten. Gerade diese hatten unter dem Kolonialismus des Russischen
Zarenreiches schwere Repressionen hinzunehmen, und versprachen sich nun von den
neuen Machthabern eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Auf der anderen Seite
bestand das Ziel der bolschewistischen Oktoberrevolution in der Errichtung einer
atheistisch-kommunistischen Gesellschaft, in der die Religion aus ideologischen Gründen
keinen Platz hatte. Demnach musste der Islam als ein Gegner des Kommunismus
betrachtet werden.
Doch was genau machte den Islam zu einem Gegner des Kommunismus? Wie
legitimierten die Bolschewisten den Kampf gegen ihn ideologisch? Wie gestaltete sich
der politische Umgang mit dem Islam kurz nach der Oktoberrevolution? Ein Verbündeter
oder ein Gegner? Auf diese Fragen soll im Rahmen dieser Arbeit eine Antwort gefunden
werden.
Im ersten Teil dieser Arbeit werden die zunächst die ideologischen Wurzeln der
bolschewistischen Religionspolitik dargelegt, um sich im zweiten Teil die konkrete
bolschewistische Religionspolitik der Jahre 1918 bis 1928 zu betrachten.
1 Siehe Kappeler, Andreas: Die zaristische Politik gegenüber den Muslimen des Russischen Reiches, S.117, In:
Die Muslime in der Sowjetunion und Jugoslawien, Markus Verlagsgesellschaft, Köln 1989.
2 Siehe Filippow, Boris F.: Ideologische und machtpolitische Determinanten der sowjetischen Religionspolitik
von 1917 bis zum Ende der Sowjetunion, S.97, In: Religionspolitik zwischen Cäsaropapismus und Atheismus,
P. Koslowski/W. F. Fjodorow, Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Begriffsbestimmung
- 2.1. Der Begriff Religionspolitik
- 2.2. Der Begriff „bolschewistisch“
- 2.3. Die Abgrenzung Islam
- 2.4. Periodisierung
- III. Die Theorie der Religionskritik als ideologische Grundlage bolschewistischer Religionspolitik
- 3.1.1. Die Religionskritik bei Karl Marx
- 3.1.2. Die erste Phase
- 3.1.3. Die zweite Phase
- 3.1.4. Die dritte Phase
- 3.1.5. Zusammenfassung
- 3.2.1. Die Religionskritik bei Friedrich Engels
- 3.2.2. Die Wegbereitung der antireligiösen Propaganda
- 3.2.3. Die Schärfung der Religionskritik zu einem Mittel des Klassenkampfes
- 3.2.4. Der Konkurrenzkampf der proletarischen Weltanschauung versus Religion
- 3.2.5. Zusammenfassung
- 3.3.1. Die Religionskritik bei V.I. Lenin
- 3.3.2. Die Wegbereitung einer Politik der aktiven Religionsverfolgung
- 3.3.3. Die Wegbereitung einer taktischen Flexibilität in der Religionspolitik
- 3.3.4. Zusammenfassung
- 3.4. Die ideologische Einordnung des Islam
- 3.5. Zusammenfassung
- IV. Die praktische bolschewistische Religionspolitik gegenüber dem Islam
- 4.1. Orientierung an der Religionspolitik gegenüber der Russisch-Orthodoxen-Kirche
- 4.2.1. Legislative Grundlagen der Religionspolitik
- 4.2.2. Verbot der šarī 'a-Gerichtsbarkeit
- 4.2.3. Verstaatlichung des waqf-Besitzes
- 4.3.1.1. Die Phase der Politik der relativen Duldung von des Islam von 1917 bis 1928
- 4.3.1.2. Vertrauensstiftende Maßnahmen
- 4.3.2.1. Die Integration der šarī a-Gerichtsbarkeit
- 4.3.2.2. Die „Gesellschaft der Gerichte der šarī a“
- 4.3.3.1. Die teilweise Rückgabe von waqf-Besitz
- 4.3.3.2. Die staatlich-islamische Mischverwaltung durch die „Shuhurayi Ulema“
- 4.4. Zusammenfassung
- V. Schlussbemerkung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der bolschewistischen Religionspolitik gegenüber dem Islam in den Jahren 1917 bis 1928. Sie untersucht die ideologische Grundlage dieser Politik und ihre konkrete Umsetzung in der sowjetischen Gesellschaft.
- Die Rolle der Religionskritik in der bolschewistischen Ideologie
- Die praktische Umsetzung der Religionspolitik in Bezug auf den Islam
- Die Wechselwirkungen zwischen der bolschewistischen Macht und dem Islam
- Die Rolle der muslimischen Bevölkerung in der sowjetischen Gesellschaft
- Die Entwicklung der bolschewistischen Religionspolitik gegenüber dem Islam
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, die den Kontext der bolschewistischen Religionspolitik im Zusammenhang mit dem Islam in der frühen Sowjetzeit beleuchtet. Es folgt eine Begriffsbestimmung, die wichtige Begriffe wie Religionspolitik, „bolschewistisch“ und Islam definiert.
Kapitel III analysiert die ideologische Grundlage der bolschewistischen Religionspolitik, indem es die Religionskritik von Karl Marx, Friedrich Engels und V.I. Lenin untersucht. Kapitel IV befasst sich mit der praktischen Umsetzung der bolschewistischen Religionspolitik gegenüber dem Islam in den Jahren 1917 bis 1928. Dabei werden legislative Grundlagen, die Integration der šarī 'a-Gerichtsbarkeit und die staatlich-islamische Mischverwaltung durch die „Shuhurayi Ulema“ beleuchtet.
Schlüsselwörter
Bolschewistische Religionspolitik, Islam, Sowjetunion, Religionskritik, Karl Marx, Friedrich Engels, V.I. Lenin, šarī 'a-Gerichtsbarkeit, waqf-Besitz, „Shuhurayi Ulema“.
- Arbeit zitieren
- Benjamin Beutler (Autor:in), 2003, Bolschewistische Religionspolitk gegenüber dem Islam von 1917 bis 1928: Von der Religionskritik zur politischen Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15217