Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1 Problemstellung und methodische Vorgehensweise
1.2 Erläuterungen zum Taiwan-Konflikt
1.2.1 Das Ein-China-Prinzip
1.2.2 Rolle der USA
2. Wirtschaftliche Entwicklung und politische Annäherung
2.1 Taiwans Aufstieg zum „Tigerstaat“
2.2 Beginn des Cross-Strait Handels
2.3 Politische Annäherung seit 1987
2.3.1 Koo-Wang Gespräche
2.3.2 Chiang-Chen Gespräche
3. Die Verhandlungen und ihre wirtschaftspolitischen Implikationen
3.1 Erste Verhandlungsphase unter Li Deng-hui
3.1.1 Quantitative Beurteilung
3.1.2 Qualitative Beurteilung
3.2 Politische Isolation unter Chen Shui-bian
3.3 Wiederaufnahme der SEF-ARATS Gespräche unter Ma Ying-jiu
4. Ergebnisse und Ausblick
5. Quellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einführung
1.1 Problemstellung und methodische Vorgehensweise
Die jüngere Geschichte Taiwans ist geprägt von politischen Konflikten, einer bemerkenswerten wirtschaftlichen Entwicklung und dem friedlichen Wandel von einem autoritären Herrschaftssystem zu einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft. Während das politische Klima in der Taiwanstraße dabei stets von dem Konflikt mit der Volksrepublik China um die Souveränität Taiwans bestimmt war, entwickelte sich die taiwanische Wirtschaft zunächst unabhängig von der des Festlands. Erst die Öffnungspolitik Chinas Anfang der achtziger Jahre, die Aufhebung des Kriegsrechts auf Taiwan sowie der zeitgleiche strukturelle Wandel der taiwanischen Wirtschaft zu einem exportorientierten Hightech- Industriestaat führten zu einer Dynamisierung der sino-taiwanischen Wirtschaftsbeziehungen. Diese Entwicklung wurde zu Beginn der 1990er Jahre von einer Phase der Entspannung zwischen den beiden Seiten begleitet.
Diese Facharbeit möchte untersuchen, inwieweit die politische Annäherung beider Seiten im Allgemeinen und die (semi-)offiziellen, bilateralen Verhandlungen seit Anfang der neunziger Jahre im Besonderen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung Taiwans und dessen Verflechtung mit dem Festland hatten. Dabei ist zu analysieren, in welchem Maße wirtschaftspolitische Maßnahmen und Deregulierungstendenzen als direkte Folgen politischer Verhandlungen anzusehen sind bzw. ob nicht der strukturelle Wandel und die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs als primäre Quellen dieses Prozesses in Betracht gezogen werden müssen. Die Untersuchung stützt sich auf statistische Quellen und Kennzahlen, auf Artikel über die wirtschaftliche Entwicklung Taiwans und die bilateralen Gespräche sowie auf Veröffentlichungen über wirtschaftspolitische Maßnahmen der taiwanischen Regierungen zwischen 1990 und heute.
1.2 Erläuterungen zum Taiwan-Konflikt
Als Taiwan-Konflikt wird der andauernde Disput zwischen der Volksrepublik China und der Republik China auf Taiwan über den Status der Insel Taiwan bezeichnet. Der Konflikt geht auf den Chinesischen Bürgerkrieg zurück, der 1949 mit dem Sieg der Kommunisten und der Flucht der regierenden Guomindang (GMD) nach Taiwan endete. Es ist seither erklärtes Ziel Pekings, die „abtrünnige Provinz“ Taiwan wieder in den chinesischen Nationalstaat zu integrieren und damit, nach Hong Kong und Macao, den letzten noch offenen Souveränitätsanspruch zu befriedigen. Die Regierung in Taipeh hat ihren gesamtchinesischen Alleinvertretungsanspruch als „legitime Vertreterin“ der 1912 gegründeten Republik China im Zuge des Demokratisierungsprozesses aufgegeben. Sie betrachtet Taiwan heute als souveräne „politische Entität“ eines geteilten China (vgl. Trampedach 2008: 745). Gemäß den „National Unification Guidelines“ (NUG) von 1991 und einem darauf basierenden Weißbuch mit dem Titel „Relations Across the Taiwan Strait“ von 1994 fühlt sich Taiwan dem Ein- China-Prinzip verpflichtet. Eine Wiedervereinigung, auch unter der Prämisse weitreichender politischer und wirtschaftlicher Autonomie (Stichwort „Ein Land, zwei Systeme“), wird vorerst ausgeschlossen, langfristig jedoch angestrebt. Als Bedingungen dafür werden die
„Normalisierung der Beziehungen“ der beiden chinesischen Entitäten, die Beendigung von Feindseligkeiten, gleichberechtigte Verhandlungen sowie eine graduelle wirtschaftliche und soziale Annäherung genannt. Entsprechend den NUG wird sogar ein schrittweiser Demokratisierungsprozess auf dem Festland vorausgesetzt (vgl. Cabestan 1996: 1262). Nach wie vor gibt es jedoch auch Kräfte auf Taiwan, die eine Unabhängigkeit der Republik China anstreben und zu enge Bindungen an die VR als Gefährdung nationaler Interessen ansehen. Wie Umfragen belegen ist insgesamt aber zu beobachten, dass zumindest eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit unter der Bevölkerung als weitgehend alternativlos angesehen wird (vgl. MAC 2009a).
1.2.1 Das Ein-China-Prinzip
Das Ein-China-Prinzip ist ein Terminus der chinesischen Regierung, der die territorialen Ansprüche der Volksrepublik China gegenüber Taiwan und der internationalen Staatengemeinschaft definiert. Demnach ist Taiwan als „untrennbarer Teil“ Chinas zu betrachten und Peking die einzig legitime Regierung eines das Festland und Taiwan umfassenden Gesamtchina (vgl. Chinesische Botschaft 2004). Der Regierung in Taipeh wird der Status einer untergeordneten regionalen Behörde eingeräumt und eine gleichberechtigte Teilnahme in internationalen Gremien verweigert, was Taiwan international weitgehend isoliert hat: 1971 musste das Land seinen UN-Sitz an die Volksrepublik abgeben. In den darauf folgenden Jahren brachen zahlreiche westliche Staaten entsprechend dem Ein-China- Prinzip ihre diplomatischen Beziehungen mit Taipeh zugunsten Pekings ab. Offizielle Beziehungen pflegt die Republik China heute nur noch mit einigen kleineren Staaten, u.a. im Pazifikraum und in Afrika. Mit vielen anderen Staaten bestehen jedoch sog. „substanzielle Beziehungen“, die etwa wirtschaftlichen und kulturellen Austausch umfassen (vgl. Schubert 2008: 742). Taiwan ist seit 2002 unter dem Namen „Separate Customs Territory of Taiwan, Penghu, Kinmen and Matsu“ Mitglied der WTO und hat Beobachterstatus u.a. in Gremien der WHO und OECD (vgl. Government Information Office, ROC 2009).
1.2.2 Rolle der USA
Die Vereinigten Staaten fungierten nach dem zweiten Weltkrieg als Schutzmacht Taiwans. So ließ der damalige US-Präsident Truman die siebte amerikanische Flotte in den Gewässern vor Taiwan stationieren, u.a. um eine mögliche Invasion der Insel durch die Kommunisten zu verhindern. 1954 wurde zudem ein Verteidigungsabkommen geschlossen, dass Taiwan im Falle eines Angriffs militärische Unterstützung zusagte (vgl. Chang 1992: 133). 1979 kündigten die USA ihre diplomatischen Beziehungen zu Taiwan ebenso wie das Abkommen auf. An dessen Stelle trat der Taiwan Relations Act, der die quasi-diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und den „regierenden Behörden“ auf Taiwan definiert und Taiwan bis heute die Versorgung mit Waffensystemen „zur Wahrung einer ausreichenden Verteidigungskapazität“ zusichert (American Institute in Taiwan 1979). Des Weiteren wird die amerikanische Taiwan-Politik durch die drei Kommuniqués von 1972, 1979 und 1982 bestimmt, die u.a. das Ein-China-Prinzip anerkennen und eine graduelle Verringerung der Waffenlieferungen an Taiwan vorsehen (vgl. Trampedach 2008: 746).
2. Wirtschaftliche Entwicklung und politische Annäherung
Seit den 1950er Jahren hat Taiwan einen bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung und einen stetigen strukturellen Wandel erlebt. Aus einer agrarischen Gesellschaft ist innerhalb von vier Jahrzehnten eine der weltweit führenden Export-Industrien für Hightech-Güter und einer der größten Investoren in Südostasien geworden. Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten lagen zwischen 1962 und 1991 bei über 9%. Gleichzeitig stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf von US$150 Anfang der fünfziger Jahre auf fast US$9.000 Anfang der neunziger, während sich die Arbeitslosenzahlen und Inflationsquoten auf einem durchgehend niedrigen Niveau hielten. Für 2009 wird das BIP pro Kopf auf etwas unter US$17.000 geschätzt (Taiwan National Statistics 2010). Dies entspricht laut IMF einem kaufkraftparitätischen Wert von US$35.000 (IMF 2010), was ungefähr dem Niveau westlicher Industrieländer entspricht. Im Folgenden soll dieser wirtschaftliche Aufstieg Taiwans zu einem der sog. asiatischen „Tigerstaaten“ kurz zusammengefasst werden, um ein besseres Grundverständnis über die Hintergründe der wirtschaftlichen Integration mit dem Festland zu erhalten. Anschließend werden der Cross-Strait Handel seit der Implementierung von Chinas Reform- und Öffnungspolitik und die Phase der politischen Annäherung zwischen der VR und Taiwan untersucht. In Abschnitt 3 werden diese beiden Aspekte schließlich zusammengeführt und mit den realen wirtschaftspolitischen Maßnahmen verknüpft, um den Einfluss bilateraler Verhandlungen auf die wirtschaftliche Integration in der Taiwanstraße abschätzen zu können.
2.1 Taiwans Aufstieg zum „Tigerstaat“
Bis nach dem zweiten Weltkrieg stützte sich die taiwanische Wirtschaft vorrangig auf den Agrarsektor. Agrarische Produkte, vor allem Reis und Zucker, stellten bis zum Ende der fünfziger Jahre etwa 90% aller taiwanischen Exportgüter (vgl. Maguire 1998: 51). Nach der Niederlage der GMD im Bürgerkrieg flohen über 1,5 Mio. GMD-Soldaten und Zivilisten vom Festland nach Taiwan, was nicht nur enorme Versorgungsengpässe auslöste, sondern auch die herrschende Inflation verschlimmerte. Zwischen 1949 und 1953 verteilte die Regierung im Rahmen einer Bodenreform Land an Kleinbauern, reduzierte die Pacht und stellte Kredite sowie Sachmittel zur Verfügung. Dies führte zu einer schnellen Produktivitätssteigerung und erlaubte über den Eigenbedarf hinausgehende Exporte (vgl. Chun & Yao 2009: 61). Gestützt durch finanzielle Wirtschaftshilfen aus den USA, die für den Zeitraum von 1951 bis 1965 auf etwa US$1,5 Milliarden beziffert werden (vgl. Schubert 2008: 741), betrieb Taipeh bis zum Anfang der sechziger Jahre eine Politik der Importsubstitution. Die Strategie war durch protektionistische Maßnahmen zum Schutz der heimischen, arbeitsintensiven Industrien und durch Anreizsysteme für Rohstoffimporte, u.a. für die Textilindustrie, gekennzeichnet. So geschützt vor internationaler Konkurrenz konnten sich neue Industrien und Wertschöpfungsketten wie etwa die Kunststoff- und Autoindustrie entwickeln (vgl. Chun & Yao 2009: 62).
Dieser Politik folgte eine anhaltende Phase der Exportindustrialisierung, die der schnell wachsenden heimischen Wirtschaft neue Absatzmärkte zur Verfügung stellen und damit Skaleneffekte realisieren sollte. Dafür wurden Ausfuhrzölle reduziert und die Abgabenlast auf Gewinne aus Exportgeschäften verringert. Zusätzliche Anreize boten (Steuer-)Vergünstigungen auf wieder-exportierte Waren sowie auf reinvestierte Gewinne. Maguire beschreibt zudem die Errichtung von sog. „export processing zones“, in denen minimale Zölle und Steuern auf alle Exporte erhoben wurden. Das zog viele internationale Unternehmen an, die auf der Suche nach einem geeigneten Standort für ihre arbeitsintensiven Produktionen waren. Subventioniert wurden in dieser Zeit auch Investitionen in „soziale Infrastruktur, [...] Bildung, Wissenschaft und Technologie“ (vgl. Maguire 1998: 53).
1980 hatte Taiwan bereits einen sehr hohen Entwicklungsstand erreicht und konkurrierte mit den anderen drei „asiatischen Tigern“ Südkorea, Hong Kong und Singapur um komparative Wettbewerbsvorteile. Das anziehende Lohnniveau und die Stärke der eigenen Währung forderten jedoch strukturelle Veränderungen, andernfalls hätte Taiwan seine Wettbewerbsfähigkeit verloren. Kapital- und technologieintensive Industriezweige wie die Elektronik- und IT-Branche ersetzten nach und nach arbeitsintensive Industrien, die ihre Produktion in Länder mit niedrigeren Lohnkosten verlagerten. Dazu gehörte gegen Ende der achtziger Jahre auch die VR China. Liberalisierungstendenzen und die weitere wirtschaftliche Integration mit dem Festland haben dazu geführt, dass auch die Produktion dieser Hightech- Güter verlagert wurde. Die Bedeutung des sekundären Sektors hat dementsprechend abgenommen und Platz geschaffen für den Dienstleistungssektor, der heute einen Anteil von etwa 70% an Taiwans Wirtschaftsleistung hat (vgl. Dosanjh 2009: 16-17).
2.2 Beginn des Cross-Strait Handels
Die heute weit fortgeschrittene wirtschaftliche Integration zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland nahm 1978 ihren Anfang. Aufgrund der politischen Spannungen hatte sich der Güteraustausch bis dahin auf Schmuggel und indirekten Handel in statistisch kaum relevanter Größenordnung beschränkt. Zudem ist zu vermuten, dass die Führung in Taipeh in Anbetracht der florierenden heimischen Wirtschaft keine wirtschaftliche Notwendigkeit für einen intensiveren Austausch sah. Dies änderte sich 1978, als die VR China ihre Reform- und Öffnungspolitik verkündete und 1979 in einer „Message to Taiwan Compatriots“ für engere wirtschaftliche und soziale Beziehungen warb (vgl. Crane 1993: 708). Als Ausdruck des guten Willens organisierte China im Jahr 1980 sogar eine „Expedition“ nach Hong Kong, um dort taiwanische Waren im Wert von US$80 Mio. zu erwerben. Außerdem erließ die VR für die Dauer eines Jahres sämtliche Zölle auf Importe aus Taiwan (vgl. Tung 2004: 1). Obwohl die GMD-Regierung Chinas Offerte bis 1985 vehement ignorierte, und direkter Handel seitens Taiwans verboten war, erhöhte sich das über Hong Kong abgewickelte Handelsvolumen zwischen 1978 und 1980 von US$47 Mio. auf US$321 Mio. (vgl. Crane 1993: 708). Laut Schätzungen des MAC stieg diese Zahl auf US$3,9 Milliarden im Jahr 1989 und erreichte zur Jahrtausendwende einen Wert von US$31,2 Milliarden. 2002 wurde China schließlich zu Taiwans größtem Exportmarkt (vgl. Tung 2004: 2).
Wie kam es zu dieser rasanten Entwicklung? Augenscheinlich gab es zu diesem Zeitpunkt weder direkten Kontakt noch irgendeine Form von Verhandlungen. Natürlich spielten privatwirtschaftliche Gründe wie die Aussicht auf einen größeren Absatzmarkt eine wichtige Rolle. Diese Aussicht wurde dadurch bestärkt, dass beide Seiten schrittweise ihre Restriktionen auf den indirekten Handel lockerten. Ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre setzte schließlich der im vorherigen Abschnitt beschriebene strukturelle Wandel ein.
[...]