"Aus der Verwandtschaft kann man Wohlwollen entfernen, nicht aus der Freundschaft." Bereits Cicero weist mit dem ersten Teil seines Zitats auf etwas hin, das Nina Jakoby als Merkmale von Verwandtschaft in modernen Gesellschaften darstellt: Wählbarkeit und Optionalität. Das heißt, dass Verwandtschaft in der Moderne durch Freiwilligkeit und Entscheidungen der Individuen gekennzeichnet sein muss (vgl. Jakoby 2008, S. 211). Diese These der Soziologin Nina Jakoby mag zunächst befremden, wenn man beispielsweise vom Begriff der Blutsverwandtschaft ausgeht. Hinzu kommt, dass die Soziologie das Thema Verwandtschaft lange in ihren theoretischen Überlegungen vernachlässigt hat. „Die Verwandtschaft wird aus sozialwissenschaftlicher Sicht weder als soziale Gruppe noch als eine organisierte Aggregation von Individuen beschrieben. Es sind soziale Normierungen, die die herausragende Stellung der Familie betonen und den Blick darauf lenken, so dass verwandtschaftliche Netzverbindungen in den Hintergrund treten“ (Ecarius 2007, S.221). Aus diesen sich widersprechenden Meinungen ergibt sich eine Notwendigkeit sich in der Soziologie detaillierter mit Verwandtschaft zu beschäftigen und Verwandtschaftsbeziehungen hinsichtlich ihres Einflusses auf das Handeln von Individuen und ihrer Wählbarkeit zu betrachten. Jedoch stellt sich die Schwierigkeit, dass eine theoretische Betrachtung von Verwandtschaft in der Soziologie bislang nur wenig Beachtung gefunden hat. Das liegt daran, dass sich maßgebend die Wissenschaften Ethnologie und Anthropologie auf Basis ihrer Forschungen im Bereich so genannter primitiver Gesellschaften damit beschäftigten. Nichtsdestotrotz kann Verwandtschaft als ebenso wesentlich wie andere soziale Beziehungen in der Soziologie angesehen werden. Daher stellt diese Arbeit einen Versuch dar, die Frage zu beantworten, was im Kern Verwandtschaft in der Soziologie bedeutet und in welchen Aspekten der Verwandtschaftsbegriff eine gewählte oder deterministische Sozialbeziehung darstellt.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Verwandtschaft - zwischen Wahlfreiheit und Zwang?
- Versuch einer sozialwissenschaftlichen Definition von Verwandtschaft
- Verwandtschaft aus ethnologischer und anthropologischer Sicht
- Soziologische Definition(en) von Verwandtschaft
- Deterministische Elemente des Verwandtschaftsbegriffs
- Blutsverwandtschaft
- Verwandtschaft als ordnendes Prinzip von Ähnlichkeiten
- Das Vorhandensein gegenseitiger Rechte und Pflichten
- Wählbare Elemente des Verwandtschaftsbegriffs
- Aktivieren und Aufrechterhalten der Verwandtenbeziehung
- Interkation zwischen Verwandten
- Herstellung der Verwandtschaft durch Heirat
- Das Konzept der Wahlverwandtschaft
- Das chemische Verwandtschaftskonzept zur Zeit Goethes
- Die Adaption des naturwissenschaftlichen Prinzips auf die soziale Welt
- Soziologischer Verwandtschaftsbegriff vs. Konzept der Wahlverwandtschaft
- Wählbarkeit von Verwandtschaft als praktische Illusion in der Moderne?
- Resümee
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit dem soziologischen Begriff der Verwandtschaft und untersucht, inwiefern dieser Begriff sowohl deterministische als auch wählbare Elemente beinhaltet. Ziel ist es, die verschiedenen Perspektiven auf Verwandtschaft in Ethnologie, Anthropologie und Soziologie zu beleuchten und die Frage zu beantworten, ob Verwandtschaft in der Moderne eher durch Wahlfreiheit oder durch Zwang geprägt ist.
- Definition von Verwandtschaft aus ethnologischer und soziologischer Sicht
- Analyse der deterministischen Elemente von Verwandtschaft (Blutsverwandtschaft, Ähnlichkeiten, Rechte und Pflichten)
- Untersuchung der wählbaren Aspekte von Verwandtschaft (Aktivierung, Interaktion, Heirat)
- Das Konzept der Wahlverwandtschaft im Roman "Die Wahlverwandtschaften" von J. W. Goethe
- Vergleich des soziologischen Verwandtschaftsbegriffs mit dem Konzept der Wahlverwandtschaft
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die These der Wählbarkeit von Verwandtschaft in modernen Gesellschaften vor und beleuchtet die unterschiedlichen Perspektiven von Ethnologie, Anthropologie und Soziologie auf dieses Thema.
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Definition von Verwandtschaft aus ethnologischer und anthropologischer Sicht. Es werden die Ansätze von Claude Lévi-Strauss und Françoise Zonabend vorgestellt, die Verwandtschaft als ein System von Heiratsregeln und sozialen Beziehungen definieren.
Das zweite Kapitel analysiert die deterministischen Elemente des Verwandtschaftsbegriffs, wie Blutsverwandtschaft, Ähnlichkeiten und gegenseitige Rechte und Pflichten.
Das dritte Kapitel untersucht die wählbaren Aspekte von Verwandtschaft, wie die Aktivierung und Aufrechterhaltung von Verwandtenbeziehungen, die Interaktion zwischen Verwandten und die Herstellung von Verwandtschaft durch Heirat.
Das vierte Kapitel befasst sich mit dem Konzept der Wahlverwandtschaft, das im Roman "Die Wahlverwandtschaften" von J. W. Goethe dargestellt wird. Es wird das chemische Verwandtschaftsprinzip erläutert, das dem Roman zugrunde liegt, und dieses auf die soziale Welt bezogen.
Das fünfte Kapitel vergleicht den soziologischen Verwandtschaftsbegriff mit dem Konzept der Wahlverwandtschaft und identifiziert Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Verwandtschaft, Wahlfreiheit, Determinismus, Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, Blutsverwandtschaft, Affinalverwandtschaft, Wahlverwandtschaft, Familie, soziale Beziehungen, Rechte und Pflichten, Interaktion, Heirat, Moderne.
- Arbeit zitieren
- Annegret Schulze (Autor:in), 2009, Verwandtschaft - ein soziales Ordnungsprinzip zwischen Determinismus und freier Wahl?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152630