Das Thema der Kriminalität in ausgewählten Schriften Daniel Defoes

Kriminalität im 18. Jahrhundert und die Bearbeitung dieses Themas in "Moll Flanders" und "Colonel Jack"


Examensarbeit, 2009

104 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Fragestellung
1.2 Vorgehen
1.3 Quellenlage
1.4 Literaturlage

2 Kriminalität in England zur Zeit Daniel Defoes
2.1 Kriminalitätslage
2.2 Strafmaß und Strafverfolgung
2.3 Literarische Umsetzung des Themas der Kriminalität
2.4 Defoes persönliche Erfahrungen

3 Defoes nicht-fiktionale Werke über Kriminalität
3.1 An Essay on the Regulation of the Press
3.2 The Great Law of Subordination Consider’d
3.3 Andrew Moreton - die Homogenität in Defoes Sachliteratur
3.4 Grundlegende Thesen aus Defoes nicht-fiktionalen Werken
3.5 Vergleich mit Bernard Mandeville und Henry Fielding
3.6 Hinweise auf die literarische Umsetzung von Defoes Thesen

4 Die fließende Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion

5 Moll Flanders
5.1 Intentionen und Realismus
5.2 Herkunft und Erziehung
5.3 Verantwortung und Schuld
5.4 Molls erste Diebstähle
5.5 Not als Ursache von Kriminalität
5.6 Die Bedeutung von Strafen für Molls Wandlung

6 Colonel Jack
6.1 Die Umsetzung von Defoes politischen und didaktischen Forderungen im Roman Colonel Jack
6.2 Colonel Jacks Plantagenwirtschaft als Allegorie für ein gesamtstaatliches Strafrecht

7 Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

„Cries of Murder, Shrieks, Oaths and the vilest Barbarities are but too common even in our Principal Streets” (Defoe Parochial Tyranny 21).

Kriminalität hat zu allen Zeiten existiert und wird auch weiterhin bestehen. Die Verbreitung sowie die Vorstellungen von Kriminalität unterscheiden sich jedoch abhängig von Ort und Zeit. Aus moderner eurozentristischer Sicht hat sich allerdings ein besonderes Kapitel im England des 18. Jahrhunderts abgespielt - eine Zeit, in der sich Verbrechen auszahlte, Diebstahl und Einbrüche an der Tagesordnung waren, auf den Straßen vor der Hauptstadt allzeit berittene Raubritter auf Reisende und deren Besitztümer warteten und regelmäßig Schiffe Opfer von Piratenangriffen wurden.

Die allgegenwärtige Präsenz von Verbrechen war nicht nur ausschlaggebend für die als ‚Bloody Code’ bezeichnete Rechtsprechung, sondern auch einer der Gründe für die weite Verbreitung von Literatur über diverse kriminelle Akteure in der ersten Hälfte des langen 18. Jahrhunderts. Daniel Defoe, einer der herausstechendsten Autoren dieser Zeit, schuf in seinen Romanen nicht nur den berühmtesten Schiffbrüchigen aller Zeiten, der Defoes Namen bis ans Ende der Menschheit lebendig halten wird, sondern ebenso Romanfiguren, die mit einer stets spezifischen Form der Isolation zu kämpfen haben und sich dabei in kriminellen Machenschaften verstricken.

Defoes berühmtestem Roman folgt im Bekanntheitsgrad Moll Flanders (1722), in welchem die Protagonistin, bereits geboren im Gefängnis von Newgate, nach einer Vielzahl von Eheschließungen zur größten Diebin Londons heranwächst, schließlich selbst in Newgate landet, dem Tod am Galgen aber durch einen Gefangenentransport entgehen kann. Die Kriminalität ist ebenso ein wichtiges Element im Roman Colonel Jack (1722). Darin verübt der mittlere von drei Brüdern zahlreiche Delikte und entwickelt sich zu einem talentierten Taschendieb. Als er die Übergriffe und Hauseinbrüche nicht mehr mit seinem Selbstbild vereinbaren kann, wendet er sich vom Diebstahl ab und versucht sein Leben neu zu sortieren. Das Schicksal verschlägt Jack in die neue Welt, wo er die sich ergebenden Chance nutzt und zum Plantagenbesitzer in Virginia aufsteigt.

1.1 Fragestellung

Das Anliegen dieser Arbeit ist es Daniel Defoes Romane, in denen Kriminalität eine entscheidende Rolle spielt, unter Zuhilfenahme jener non-fiktionalen Schriften und Traktate zu interpretieren, die sich ebenfalls mit der Problematik rund um Straftaten, deren Eindämmung sowie einer gerechten Form der Bestrafung beschäftigen. Eine entscheidende Fragestellung, die dafür analysiert werden soll, lautet, ob und inwieweit die in Defoes Traktaten formulierten Thesen in seinen fiktionalen Werken umgesetzt wurden. Defoe formuliert in seinen Abhandlungen explizite Kritikpunkte, sei es an bestimmten Gesetzen, der Regierung oder allgemeinen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft. War es jedoch sein Ziel, bewusst oder unbewusst, den gleichen Ideen eingebettet in seine Geschichten eine größere Wirkungskraft zu verleihen? Wer den Werdegang eines Jungen liest, der darauf angewiesen ist Diebstähle zu begehen, wird möglicherweise eher dem Bau von Armenhäusern zustimmen. Wer liest, wie ein Hausmädchen sich zwar rasch Wissen aneignet, ihr Zugang zu einer höheren Bildung hingegen gänzlich verwehrt bleibt und zusätzlich die negativen Folgen daraus in ihrer Erzählung weiter verfolgt, spürt gegebenenfalls den Glauben an die Notwendigkeit einer angemessenen Bildung für Frauen.

Es soll nicht bewiesen werden, dass Defoe gezielt versuchte unter Zuhilfenahme fiktionaler Texte seine Vorstellungen von der Welt unter das Volk zu bringen, sondern dass sich vielmehr diejenigen Ideen, die im Zusammenhang mit Kriminalität stehen, deutlich aus seinen Büchern herauslesen lassen. Wenn die Vorstellungen von Kriminalität, wie sie in Defoes Sachliteratur beschrieben werden, in seinen Romanen ausgestaltet wiedergefunden werden können, lassen sich diese zunächst spezifizieren, von den Gründen der Kriminalität bis hin zu den Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft. Darüber hinaus liefert eine Textanalyse der Romane unter Berücksichtigung einschränkender oder begünstigender Passagen aus anderen Abhandlungen Defoes einen angemessenen Weg zu einer gesicherteren Interpretation. Zuletzt können auch die Forderungen aus seiner Sachliteratur, die nicht auf den ersten Blick in den Romanen umgesetzt wurden, auf diese angewendet werden und bei einer sinnvollen Einbettung zu Erkenntnissen für die Interpretation führen.

Die allgemeine Frage lautet: Wie wird Kriminalität in den fiktionalen Werken Daniel Defoes dargestellt? Die zwei Romane, die im Zentrum der Untersuchung stehen sollen, sind Moll Flanders und Colonel Jack. Während in Moll Flanders der Fokus auf Ursachen von Kriminalität gelegt werden soll, ist in Colonel Jack das darin dargestellte Strafsystem von besonderem Interesse. Neben diesen Romanen gibt es bei Defoe mehrere Werke, die sich nicht eindeutig in Fiktion oder Nicht-Fiktion einteilen lassen. Die Grenze zwischen beiden verläuft fließend, aber gerade bei Defoes Werken erreicht dieses Verschwimmen ein außergewöhnlich hohes Maß: Fiktionale Texte werden als Wahrheiten verkauft, genau so wie erfundene Geschichten und Dialoge in seine vorgeblich nicht-fiktionalen Texte Einzug halten. In der Untersuchung der Unterschiede und der Verwendung beider Arten in Defoes Werken sollen Gründe für die Fiktionalisierung seiner Ideen in den Romanen gefunden werden.

Um die Arbeit weiter einzugrenzen, wird das Hauptaugenmerk auf der Veranschaulichung von Eigentumsdelikten liegen. Diese Untergruppe der Kriminalität ist eines der zentralen Themen in seinen Romanen. Daneben stellt sich die Beurteilung im Gegensatz zu Straftaten wie Mord als diffiziler da und erfordert eine detailliertere Untersuchung. Dies beinhaltet Fragen nach der Unausweichlichkeit, der Bedeutung, den Ursachen, dem bestmöglichen Einhaltgebieten von Diebstählen und den Vorfällen, die in den Romanen überhaupt als kriminelle Entwendungen gelten. Gleichzeitig werden dabei Ansichten allgemeiner Natur betrachtet werden, wie die Frage nach grundlegender Ironie in den Romanen oder der psychologischen Entwicklung der Protagonisten.

1.2 Vorgehen

Um diese Fragen angemessen untersuchen zu können, wird wie folgt vorgegangen. Zunächst werden die für die Arbeit verwendeten Quellen und die Gründe ihrer Auswahl beschrieben. Daneben wird ein Überblick über die Literaturlage zur bisherigen Forschung zum Thema gegeben. Anschließend soll, zur Einbettung der Romane, die Kriminalität im 18. Jahrhundert in wesentlichen Zügen thematisiert werden. Dies beinhaltet die Beschreibung von verbreiteten Verbrechen, Strafmaß und Strafverfolgung, besonders in und um London. Um Defoes Interesse an dem Thema der Kriminalität zu begründen, sollen zudem entscheidende Erfahrungen seinerseits mit dem Gesetz nicht unerwähnt bleiben. Defoe war nicht der einzige, der zu jener Zeit Verbrecher und Verurteilte ins Zentrum seiner literarischen Arbeit rückte. Kriminelle Biographien, der Newgate Calendar bis zur Straßenliteratur jener Zeit bildeten das literarische Umfeld, in deren Tradition sich Defoes eigene Romane bewegten und im Vergleich mit denen Eigenheiten in Defoes Darstellung von Kriminalität festgestellt werden können.

Nach dieser Vorarbeit senkt sich der Blick auf die Werke Daniel Defoes. Zuerst werden diejenigen didaktischen Werke und Pamphlete auf wesentliche Forderungen und Ideen reduziert, die Kriminalität und insbesondere Diebstahl im Blick haben. Als Ergebnis kann, ausgestattet mit dieser Auswahl an expliziten Vorschlägen und Meinungen, eine Umsetzung in fiktionaler Form, in den kriminellen Romanen Defoes, untersucht werden. Dafür wird als Zwischenschritt der fließende Übergang zwischen Fiktion und Non-Fiktion in Defoes Werken analysiert sowie nach Belegen für die fiktionale Umsetzung reallebenswirklicher Forderungen gesucht.

Anschließend werden die ausgewählten Romane Defoes, in denen Diebstahl in seinen verschiedenen Formen eine entscheidende Rolle spielt, einer Textanalyse unterzogen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Moll Flanders. Dabei soll die Umsetzung sowie die Auswirkungen der Fiktionalisierung der vorherig aufgeschlüsselten Gedanken aus Defoes Sachliteratur mit in die Interpretation einbezogen werden. Eine entsprechende Untersuchung folgt danach von Colonel Jack, bei welchem besonders die Bestrafung im Zentrum stehen soll.

1.3 Quellenlage

Bei der Auswahl möglicher Quellen wurde als erster Ausgangspunkt John Robert Moores A Checklist of the Writings of Daniel Defoe zu Rate gezogen (Mullan xxx). In dessen Bibliographie werden Defoe jedoch ganze 566 Werke zugeschrieben, wovon zahlreiche Titel stillschweigend von vorherigen Bibliographien übernommen sowie neuere Zuordnungen häufig nur unter Verweis auf die gering zuverlässige Methodik stilistischer Übereinstimmungen vorgenommen wurden (Moore vii, Furbank Defoe xxvii ff.). In der vorliegenden Arbeit wird aus diesem Grund nur auf Quellen zurückgegriffen, die sowohl durch Moore als auch durch die kritischen Bibliographien Furbank und Owens gestützt sind.1

Die Kernquellen bilden die zwei Romane Moll Flanders und Colonel Jack, die beide in dem für Defoe überaus produktiven Jahr 1722 veröffentlicht wurden (Furbank A Critical Bibliography 199ff.). Beide können aufgrund ihrer Thematik als kriminelle Autobiographien angesehen werden (Faller Criminal Opportunities 40). Defoes Romane erschienen allesamt unter der Vorgabe, dass die Protagonisten gleichzeitig die Autoren seien. Die Zuordnung zu Defoe lässt sich aufgrund zahlreicher interner und externer Evidenzen dennoch nahezu zweifelsfrei treffen.

Bei den anonym oder unter Pseudonym veröffentlichten Traktaten und Pamphleten ist die Zuordnung häufig schwieriger. Zahlreiche Schriften, die sich zum Thema der Kriminalität äußern, mussten außen vor gelassen werden, da sie nicht zuverlässig Defoes Kanon zugeordnet werden können.2

Es sollen diverse, gesicherte Traktate herangezogen werden, die sich mit Gesetzen, der Positionen der Menschen innerhalb des Rechtssystems und den Ursachen der Kriminalität befassen. Über die Kriminalität in England schreibt Defoe explizit in Augusta Triumphans (Moore 211; Furbank A Critical Bibliography 243) mit dem darin enthaltenen An Effectual Method to Prevent Street-Robberies sowie in der Folgeschrift Second Thoughts are Best or, a Further Improvement of a Late Scheme to Prevent Street Robberies (Moore 218, Furbank A Critical 245).

Die schwierigste Frage stellt sich bei der Schrift Street Robberies Consider’d (Moore 219). Furbank und Owens halten Defoe nicht für den tatsächlichen Autor, insbesondere mit der Begründung die Veröffentlichung dieses Traktates erfolgte nur wenige Tage nach Second Thoughts are Best, welches sich mit einem ähnlichen Themengebiet befasst (Furbank Defoe 146). Nur sehen Furbank und Owens Widersprüche zwischen beiden Traktaten, was Zweifel an der Zuweisung aufwirft. Im direkten Vergleich von Street-Roberies Consider’d mit anderen Werken Defoes überwiegt jedoch die Anzahl an gemeinsamen Schnittpunkten deutlich. Der Autor, angeblich ein konvertierter Dieb, gibt in der ersten Hälfte dieses Werkes seine Biographie preis, die in vielen Teilen stark an die Geschichte von Moll Flanders oder Colonel Jack erinnert. In dem darauf folgenden didaktischen Part wird für verschiedene Möglichkeiten zur Kriminalitätsverringerung argumentiert, die im Wesentlichen mit Second Thoughts are Best übereinstimmen - von der verbesserten Auswahl der Londoner Wachposten (Defoe? Street-Robberies 60; Defoe ST 1, 11f.), für schnelle und hart durchgreifende Strafen (Defoe? Street-Robberies 53f.; Defoe ST 24) bis hin zur Armut als wesentlichen Faktor für Kriminalität: „Necessity ist the Touchstone of Honesty“ (Defoe? Street-Robberies 63; Defoe ST 6, 19f.). Street Robberies Consider’d wird also nicht zu unrecht von den Defoe-Experten Lee, Trent, Rawlings, Moore, Novak und Faller zu dessen Kanon gezählt (Furbank Defoe 146; Rawlings 24; Faller Crime and Defoe 88).

Darüber hinaus fällt eine Gemeinsamkeit besonders auf. In Augusta Triumphans schreibt Defoe kritisch über die Beggar’s Opera, die Kriminelle in einem unangemessen positiven Licht darstellen würde:

We take pains to puff ‘em up in their Villainy, and Thieves are set out in so amiable a Light in the Beggar’s Opera, that it has taught them to value themselves on their Profession, rather than be ashamed of it. (Defoe AT 48)

Im fragwürdigen Street-Robberies Consider’d wird nun das gleiche Thema behandelt:

[…] Beggar’s Opera in my Opinion has been of Prejudice to the Publick. Roguery there is set in such amiable Light, that vulgar minds are dazzled with it; and the Author, I think, is punishable for not punishing the Persons in his Drama according to their Desert. (Defoe? Street-Robberies 48)

In beiden Texten stimmt nicht nur die Kritik überein, sondern sie wird auch an demselben Bühnenstück veranschaulicht. Obendrein ist die Wortwahl („set out in so amiable a light“ und „set in such amiable light“) nahezu identisch. Die Möglichkeit eines Zufalls ist außerordentlich gering und anders zu bewerten als eine rein stilistische Übereinstimmung. Aus diesen Gründen kann Street-Robberies Consider’d als ein Werk eingestuft werden, welches wahrscheinlich von Defoe geschrieben wurde. Zur Verstärkung einiger Thesen soll es aus diesem Grund mit herangezogen werden.

1.4 Literaturlage

Die überwiegenden Teile der verfügbaren Sekundärliteratur sind Bücher und Aufsätze aus dem anglo-amerikanischen Raum. Die Literatur über die Kriminalität im 18. Jahrhundert ist dabei zahlreich und zeichnet, trotz der Unmöglichkeit die historische Wirklichkeit exakt widerzuspiegeln, ein homogenes Bild der damaligen Verhältnisse.

Daniel Defoes Romane sind ebenso Thema in unzähligen wissenschaftlichen Arbeiten. Von seinen Romanen mit kriminellem Kontext ist Moll Flanders am bekanntesten und entsprechend oft untersucht worden. An vielen Universitäten zählt Moll Flanders zu den Standardwerken des 18. Jahrhundert und erhält entsprechende Aufmerksamkeit. Colonel Jack oder auch Captain Singleton hingegen verschließen sich einem größeren Bekanntheitsgrad und sind dementsprechend selten im Fokus akademischer Arbeiten: „Today Colonel Jack is rarely thought worthy of comparison with Moll Flanders“ (Roberts vii), „[…] Captain Singleton has remained unread and almost forgotten” (Garnett v). Ausgiebig diskutierte Fragen, wie die Ironie oder die Struktur in Moll Flanders, werden mit der zunehmenden

Anzahl an Veröffentlichungen indessen auch auf Defoes andere Romane angewandt (Faller Crime and Defoe xii).

So zahlreich die Arbeiten über Defoes Romane auch sein mögen, das Thema der Kriminalität wird in den meisten Fällen nur am Rande behandelt. Eine Monographie zu diesem Thema ist hingegen Lincoln B. Fallers Crime and Defoe: A New Kind of Writing. In dieser wird der Schwerpunkt jedoch auf die Besonderheiten von Defoes Romanen im Vergleich zu zeitgenössischen Verbrecherbiographien gelegt, insbesondere auf die Art und Weise, wie in den Romanen Defoes die Vorstellungskraft und die Meinungsbildung des Lesers aktiv herausgefordert wird (Hammond 294). Über Moll Flanders finden sich eine Vielzahl an Aufsätzen, in denen die Gleichstellung von Geld und Liebe bis hin zur Frage nach Zwang und Freiheit der Protagonistin untersucht werden (McMaster; Richetti), aber eine gezielte Untersuchung der Zusammenhänge zu Defoes Sachliteratur im Teilbereich der Kriminalität fehlt. Im Falle von Colonel Jack konzentriert sich neben Faller vorrangig Maximilian Novak direkt auf die Frage der Kriminalität, aber lediglich hinsichtlich des letzten Kapitels, in welchem Jack versucht durch illegalen Handel mit Mexiko Reichtum zu erlangen (Novak Colonel Jack 1).

2 Kriminalität in England zur Zeit Daniel Defoes

Worauf ist die überdurchschnittlich große Rolle der Kriminalität in Defoes Gesamtwerk zurückzuführen? In welchem Verhältnis stehen seine Werke zu wirklichen Vorfällen von Eigentumsdelikten und ihren Ursachen während seiner Lebenszeit? Stellt er die zeitgenössischen Verhältnisse so wahrheitsgetreu wieder wie nur möglich oder weicht Defoe drastisch von einer realitätsnahen Darstellung ab und was könnten die Ursachen und Folgen dieser Unterschiede sein? Zur Beantwortung dieser Fragen und einer Einordnung seiner Romane in die Umstände seiner Zeit müssen die Gegebenheiten der Beschaffungskriminalität und der Verbrechensbekämpfung beschrieben werden. Besonderes Interesse verdienen dabei Defoes eigene Erfahrungen, die Einfluss auf seine Werke ausgeübt haben dürften. Da Romane aber nicht als direkt-kausale Folge der Lebenswelt entstehen, sondern inmitten von Traditionen und vorherrschenden Tendenzen in der zeitgenössischen Literatur entstehen, dürfen diese nicht gänzlich unbetrachtet bleiben.

2.1 Kriminalitätslage

Kriminalität spielt eine tragende Rolle in der Literatur Defoes. War indes die tatsächliche Situation wirklich außergewöhnlich? In der Tat lässt sich ein deutlicher Anstieg an Eigentumsdelikten im 18. Jahrhundert feststellen (McLynn xi, 306). Die Menschen in dieser Zeit waren deswegen nicht von einer besonderen Boshaftigkeit gekennzeichnet. Vielmehr wirkten soziale und ökonomische Gründe wie Urbanisierung, mangelhafte Infrastruktur und Bevölkerungsanstieg zusammen und resultierten in einem nahrhaften Keimboden für Verbrechen (McLynn xii; Shoemaker 303). Diebstahl, Schmuggel, Überfälle waren alltäglich und selbst die Gefahr in einer Gasse ausgeraubt und ermordet zu werden, muss als alles andere als unwahrscheinlich betrachtet werden (Sherwin 176).

Eines der verbreitetsten Probleme der Zeit war Armut. Die Bedürftigen waren zumeist ungebildet und zermürbt, aufgrund fehlender Chancen ihre Lebenssituation positiv beeinflussen zu können; darüber hinaus waren die Möglichkeiten ihrer Unterbringung prekär (Sherwin 172). Daraus resultierte nicht nur eine Belastung für die Grundsteuer, sondern eine ständige Gefahr für die soziale Ordnung, die sich in unberechenbaren Aufständen äußerte (Sherwin 174f.) Einmal angekommen in der Arbeitslosigkeit und der Armut war es für die Betreffenden meist schwierig wieder einen Beruf zu ergreifen, insbesondere weil zur damaligen Zeit dem persönlichen Ansehen eine besondere Bedeutung beigemessen wurde, die es erschwerte in vielen Berufen wieder aufgenommen zu werden (Olsen 127f.) Alkohol war dabei ein Zufluchtsort der niedrigeren Klassen. Es gibt ausreichend Belege dafür, dass London mit einem ernsthaften Alkoholproblem zu kämpfen hatte (Bettinger 32). Im Jahr 1721 wurde bereits in jedem zehnten Haus dem lukrativen Geschäft mit dem Verkauf von Bier und Hochprozentigem nachgegangen; die Nachfrage stieg aber soweit, dass sich 1750 jedes fünfte Haus an diesem Handel beteiligte (Sherwin 170). Entscheidender Auslöser für diese gefährliche Entwicklung war das günstige Angebot an Gin (Sherwin 170f.; Olsen 239). Durch den massenhaften Ginkonsum und dem damit einhergehenden Vandalismus wurde Schnaps als ein wesentlicher Auslöser für kriminelles Verhalten ausgemacht (Bettinger 32). Alkoholkonsum, wie er etwa in William Hogarth’s ‚Gin Lane’ (1751) abgebildet wurde, stellt nur bedingt eine Übertreibung dar und wurde auch von vielen Zeitgenossen für soziale Probleme verantwortlich gemacht (Chartres 37). Diese beiden Phänomene, Armut und Alkohol, trugen in Verbindung zu einem weiteren Problem Londons bei - den Aufständen. Die Gesamtzahl an festgestellten Ausschreitungen im städtischen Teil von Middlesex steigerte sich zwischen 1660 und 1720 um 520 Prozent und fällt damit genau in die Zeit zwischen Defoes Geburt und der Veröffentlichung seiner Romane. Im Vergleich zum Beginn des 17. Jahrhunderts sowie zwischen London und den ländlicheren Gebieten lassen sich ebenfalls massive Unterschiede feststellen, die unter anderem darauf zurückzuführen sind, dass die Bevölkerung an die Legitimität von derartigen Unruhen glaubte. Selbst die Miliz, die häufig zur Eindämmung von Aufständen gerufen wurde, konnte nur bedingt eingreifen, insbesondere nachdem deren Vorgehen vom Mob nachgeahmt wurde und die sichtbaren Grenzen zwischen legalem und schädigendem Verhalten weiter verschwimmen ließen. (Shoemaker 276ff.) Dieses grundsätzliche Vorkommen an Missständen wurde noch überschattet von der Häufigkeit an Eigentumsdelikten (Sherwin 177). Bei den Diebstählen waren die häufigsten Formen Taschendiebstähle, Entwendungen aus Häusern, Ladendiebstahl und der Raub von Tieren (McLynn 90). Taschendiebstahl entwickelte sich zu einer so weit verbreiteten Angelegenheit, dass sich Diebe sogar zu Gruppen zusammenschlossen und groß angelegte Aktionen planten, die sich beispielsweise in einer Begebenheit niederschlug, bei der besser betuchten Londonern nach einem Theaterbesuch ihre Habseligkeiten entwendet wurden (McLynn 6). Diebstähle aus Häusern resultierten meist aus einer Kompetenzüberschreitung der Bediensten, die sich am Besitz ihrer Herren vergriffen (McLynn 91). Gewalt wurde dabei meist nur angewandt, insofern eine Gruppe von Einbrechern involviert war und deren Opfer die Tat wahrzunehmen drohte (McLynn 89). Ladendiebstahl war besonders verbreitet unter Frauen und Gruppen von Jungen, die, obwohl diese Form des Diebstahls unter höchste Strafe gestellt war, oft noch mit einer milden Strafe davon kamen (McLynn 93). Bei kleineren Ladendiebstählen lohnte sich die gerichtliche Verfolgung für den Besitzer oft nicht, weswegen vorrangig hartgesottene Wiederholungstäter festgenommen wurden. Beispielsweise wurde Sarah McCabe, die unter verschiedenen Decknamen operierte, 1748 für dieses Verbrechen abtransportiert, kehrte 1752 zurück nach England und wurde erst nach insgesamt zwanzig Jahren fortwährenden Ladendiebstahls bestraft (McLynn 93). Der Raub von Tieren, insbesondere Pferden, im frühen 18. Jahrhundert darf aufgrund ihrer Bedeutung für den Transport nicht unterschätzt werden. Männer hatten dabei ein regelrechtes Monopol auf Pferdediebstahl, arbeiteten oft in Gruppen zusammen und verkauften die Pferde, um unentdeckt zu bleiben, in entfernte Gebiete (Walker 160; McLynn 93).

Eine besondere Form von Diebstahl entwickelten die so genannten ‚Highwaymen’, Raubritter die auf den Straßen vor der Metropole Kutschen auflauerten, um diese zu überfallen (McLynn 5, 56). Erstaunlicherweise wurden sie ungeachtet ihrer Überfälle zumeist als Edelmänner angesehen (McLynn 17). Die ‚Highwaymen’ fanden sich nicht nur im 18. Jahrhundert, sondern hatten, wie die Legenden um Robin Hood bezeugen, Vorläufer, welche die Wahrnehmung der Bevölkerung beeinflussten. Dennoch gab es nur in Defoes Zeit einen regelrechten “national worship of the armed robber” (Spraggs 12). In London wimmelte es nur so von (romantisierten Geschichten der) ‚Highwaymen’ (Sherwin 178). Henry Fielding dagegen stand auf der Seite der Opfer und suchte nach Wegen ihnen Einhalt zu gebieten: „How long have we known highwaymen reign in this kingdom after they have been publicly known for such? Have not some of these committed robberies in open daylight, in the sight of many people, and have afterwards rode solemnly and triumphantly through the neighbouring towns without any danger or molestation?” (Fielding 98).

Neben den ‚Highwaymen’ war im 18. Jahrhundert zudem ein Leben als Pirat lukrativ. Im Zeitraum zwischen den Jahren 1692 und 1725 kam es zu dem größten Zuwachs an Freibeuterei in der Weltgeschichte (Sherry 7, 359). Die koloniale Ausbreitung, zusammen mit dem Ausbau der britischen Seemacht begünstigte nicht nur die Aussichten für Matrosen und Kapitäne, sondern auch für Aussteiger aus diesem System: “The vast riches of the Red Sea and Madagascar are such a lure to seaman that there’s almost no withholding them from turning pirate” (in Cordingly 80). In Defoes Zeiten waren davon in erster Linie die Küsten des Indischen Ozeans betroffen - bereits ab den 1670ern zählte der gesamte Küstenbereich vom Roten Meer bis hin zu den süd-westlichen Ufern des indischen Subkontinent als Piratengebiet

(Cordingly 73). Der Zuwachs an Piraten resultierte vorrangig aus den sich bietenden finanziellen Chancen, wurde aber zusätzlich dadurch begünstigt, dass die Freibeuter geduldet wurden, so lange sie zum Schutz englischer Siedlungen auf den Westindischen Inseln beitrugen (Cordingly 80). Die Insel Madagaskar war dabei zwischen 1690 und 1720 die Hauptbasis für Aktionen im Indischen Ozean (Sherry 90ff.; Cordingly 7, 82). Von da aus durchstreiften die Piratenflotten die östlich liegenden Gewässer bis hin zum Meer von Bengalen und den Küsten Sumatra sowie den Eingang zum Roten Meer in der Hoffnung auf reich beladene Schiffe; zurück in Madagaskar ließen sie ihre Schiffe reparieren und verkauften ihre Beute (Cordingly 84). Trotz der Tatsache, dass niemals mehr als mehrere hundert Piraten gleichzeitig vorankerten, wurde die Insel durch seinen exotisch mysteriösen Ruf und die Abwesenheit europäischer Siedler bald zur Pirateninsel stilisiert (Cordingly 84).

Bei den bisher erwähnten Verbrechen wird meist das Bild des männlichen Verbrechers erweckt. Frauen stellten unter den gewalttätigen Straftätern tatsächlich nur eine Minderheit zwischen zehn und 20 Prozent dar (Walker 75; Beattie The Criminality of Women 81). Dennoch waren weibliche Gesetzesbrecher nichts Unübliches. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern lag im Wesentlichen in der Art und Weise ihrer Straftaten. In einem relativen Vergleich der Verbrechensarten zeigt sich, dass Frauen tendenziell häufiger als Taschen- oder Ladendiebe agierten als Männer (Walker 160f.; McLynn 92). Ein weitaus deutlicherer Kontrast ist hinsichtlich des Diebesguts erkennbar: Frauen stahlen mit doppelter Wahrscheinlichkeit Kleidung, Leinentücher und Garn (Walker 162f.).

Diese Güter besaßen einen hohen Wiederverkaufswert und wurden auf einem damals florierenden Gebrauchtwarenhandel gehandelt. Frauen waren nicht nur in eine Vielzahl von Eigentumsdelikten verwickelt, sondern häufig die entscheidenden Personen hinter den Diebstählen - im Handel mit dem Erbeuteten. Dieser illegale Handel mit Stoffen und Kleidung auf dem Schwarzmarkt wurde von Frauen dominiert, einerseits weil sie aufgrund ihrer Haushaltstätigkeit im Allgemeinen eine größere Expertise darin aufwiesen sowie andererseits durch das zivilrechtliche Verbot für Frauen Verträge abzuschließen (Bettinger 33). Die Anzahl an Eigentumsdelikten von Frauen stellt sich als substantiell dar und auch die dahinter stehenden Kontakte und Wege aus dem Erbeuteten Gewinn zu erwirtschaften, lassen weibliche Beteiligte nicht missen. Die Häufigkeit, mit der Frauen Morde begingen, hielt sich dagegen in Grenzen. Diese Form des Verbrechens wurde zwar nicht ausschließlich von Männern begangen, aber es gibt nur eine Handvoll bekannter Fälle von weiblichen Mördern, vorrangig aus der Mitte des 18. Jahrhunderts (Bettinger 42). Im Textkorpus über Kriminelle nahmen Frauen jedenfalls eine signifikante Zahl ein und da sich die Geschichten in den Pamphleten bis zu den Flugblätter überwiegend mit wahren Gerichtsverhandlungen und dem Ende berüchtigter Verbrecher befassten, lässt dies, neben dem besonderen Interesse dem Frauen zuteil geworden sein dürften, auf eine nicht weniger bedeutsame Zahl an tatsächlichen weiblichen Tätern schließen (Bettinger 34).

Selbst unabhängig von der faktisch vorherrschenden Gefahr glaubten die Menschen an eine katastrophale Zunahme der Kriminalität (Beattie The Pattern 47; Faller Crime and Defoe 7). Möglicherweise korrelierte die zeitgenössische Angst vor Kriminalität mit der politischen Instabilität der 1710er Jahre und hatte ein erhöhtes Bewusstsein der Regellosigkeit zur Konsequenz (Shoemaker 277). McLynn spricht sogar davon, dass das epidemienartige Ausmaß an Einbrüchen und Überfällen eine Art moralische Panik unter der Bevölkerung auslöste (89). Dabei spricht er zwar von den 1770er Jahren, aber die Verbrechen und die Furcht einer stetig zunehmenden Lasterhaftigkeit sind bereits vor der Veröffentlichung von Defoes Romanen zu beobachten. Die beträchtliche Angst vor einem Kriminalitätswachstum geht einher mit dem steigenden Interesse an Geschichten über bekannte Straftäter und bildet gleichzeitig den wesentlichen Anstoß für Umwandlungen in juristischen und strafrechtlichen Richtlinien (Shoemaker 273ff).

2.2 Strafmaß und Strafverfolgung

Das englische Rechtssystem zwischen den Jahren 1688 und 1815 wird als ‚Bloody Code’ bezeichnet (McLynn ix; Emsley 10; McGowen 117, Potter). Diese Bezeichnung war im 18. Jahrhundert nicht üblich, sondern wurde erst später von den aus heutiger Sicht erbarmungslosen Statuten im Strafrecht hergeleitet, die häufig für Bagatelldelikte bereits die Todesstrafe vorsahen. Die Anzahl an Gesetzen mit hohen Strafen stieg derart schnell an, dass sich Menschenmassen regelmäßig am Galgen von Tyburn versammeln konnten, um die letzten Augenblicke zum Tode Verurteilter zu erleben (Bailey 106; McGowen 117; Sherwin 169). Die Delikte entsprachen in vielen Fällen nicht im Geringsten den Strafen, mit denen sie geahndet wurden (McGowen 117; MacLynn xi). Während die Todesstrafe im Jahr 1688 noch auf charakteristische Fälle wie Mord oder Hochverrat angewandt wurde, war es 1741 bereits möglich für weniger augenscheinliche Gründe, wie das Fällen eines Baumes oder den Diebstahl eines Schafes gehängt zu werden (McLynn ix f.; Sherwin 180f.). Das Ausmaß an Gesetzen, die einen Straffälligen an den Galgen führen konnten, stieg dabei von 50 Artikeln im Jahre 1689 auf ganze 160 im Jahr 1765 an (Beattie The Pattern 48). Damit wurde mehr als ein im Todesurteil resultierender Rechtsbruch jedes Jahr hinzugefügt, aber selbst diese Straftaten waren gerade einmal diejenigen, bei denen das Urteil verpflichtend war (McLynn ix).

Es war die übliche Theorie in der damaligen Strafrechtsgebung, bei sich häufenden Verbrechen die Höchststrafen anzusetzen, in dem Glauben mit einem Dieb am Galgen werden andere potentielle Täter abgeschreckt und auf den rechten Pfad zurück geführt (Sherwin 180). Die überwiegende Mehrheit der gebildeten Engländer befürwortete die Rechtsvorschriften mit ihren drakonischen Strafen, in der festen Überzeugung, diese wären zur Gewährleistung der sozialen Ordnung notwendig, welche besonders seit den Turbulenzen von 1688 für viele erstrebenswert erschien (Sharpe 143f.). Mit Hilfe der abschreckenden Wirkung exemplarischer Strafen sollte aufständischen und kriminellen Intentionen entgegengewirkt werden (McLynn xiv; Beattie Crime and the Courts 157).

Als Auswirkung dieser Entwicklung standen die Vorgänge der Legislative in keinem gesunden Verhältnis zu dem tatsächlichen Vorkommen und der Schwere des jeweiligen Verbrechens. Die Inkonsistenz und Irrationalität der Gesetze ließ bald Gegenstimmen zum bestehenden Rechtssystem aufkommen (McLynn x; Emsley 9). Bereits in der direkten Rechtsprechung wurden zahlreiche Gesetzesvorschriften als übertrieben angesehen und häufig nicht entsprechend ihrer festgelegten Regeln bestraft. Mehr als 90 Prozent aller zum Tode Verurteilten wurden begnadigt (Bailey 109). Die Schuldsprüche waren dementsprechend nicht immer so erbarmungslos wie die Vorschriften zunächst erschienen. Ungeachtet dieser Begnadigungsfälle überbot England dennoch jedes andere europäische Land in der Anzahl an Exekutionen (Bailey 109).

Der Schutz von Privateigentum schien dabei eines der wichtigsten Ziele der damaligen Gesetzgebung zu sein (Gatrell 201f.). Während versuchter Mord bis 1803 noch als Ordnungswidrigkeit geahndet wurde, konnte jemand im gleichen Zeitraum für die Zerstörung eines Fischteiches, in dem Fische verloren gehen könnten, bereits seinen Kopf verlieren (Sherwin 181). Die Strafgesetzgebung konzentrierte sich auf die Sicherung von Besitz durch erbarmungslose Erlasse gegen Diebstähle, Einbrüche, Überfälle sowie Fälle von Geldprägung und Fälschungen (Purr 98). Falsifikate machten ein Drittel aller Kapitalvorschriften aus und standen in nahezu jeder Parlamentssitzung zur Debatte (McGowen 119). McLynn zufolge ging der ‚Bloody Code’ dabei nicht von einer zentralen Idee aus, sondern war eine unbewusste, regelrecht organische Anpassung an eine neue mit persönlichem Besitz ausgestattete Lebenswelt (xiii). McGowen hingegen sieht zwar ebenfalls die neue ökonomische Situation als den zentralen Dreh- und Angelpunkt der Veränderung der Gesetzeslage, aber anstelle einer unbeabsichtigten, schrittweisen Anpassung folgt sie einer bewussten Sorge um die finanzielle Situation der Nation (121). Der gezielte Schutz von Eigentum (des einzelnen Bürgers beziehungsweise des Staates) steht in beiden Fällen im Zentrum der Bemühungen und erklärt warum Eigentumsdelikte oder Fälschungen mit denselben Strafen geahndet wurden wie Mord (McLynn xiii).

Diebstahl wurde hart bestraft und in den Gerichtsverhandlungen wurden schnell Urteile getroffen. Im Jahr 1794 fand mit einem Fall schweren Landesverrates das erste Verfahren statt, für welches länger als ein Tag vor Gericht veranschlagt wurde (Sherwin 180). Im Falle von Diebstahl wurde zwischen leichten und schweren Fällen unterschieden. Bei einem geringen Wert des Gestohlenen war das übliche Vorgehen das Auspeitschen des Diebes; sobald das Diebesgut jedoch einen Wert von zwölf Pennies beziehungsweise dem Äquivalent von einem Schilling überschritt (Blewett Introduction 28), galt der Fall als schwerer Diebstahl und wurde mit der Todesstrafe abgeurteilt (Walker 177; McLynn 91). Auf die heutige Zeit übertragen würde man für einen Diebstahl von über 80 britischen Pfund bereits die Todesstrafe erhalten (East; England; Officer), was die Absurdität der englischen Gesetzeslage, insbesondere in Bezug auf Einbrüche und Diebstahl, unterstreicht (McLynn 90). Im Falle von Ladendiebstahl lag die Grenze sogar noch niedriger, bei gerade einmal fünf Schilling (McLynn 92). Die Ansichten der Bevölkerung zu illegalem Verhalten stimmten daher oft nicht mit denen der Gerichte überein, welche die Gesetze umsetzen mussten (Shoemaker 289). Die Gerichte wiederum hielten sich selbst nicht konsequent an die bestehenden Gesetze und ignorierten den ‚Code’ in grenzwertigen Fällen von Diebstahl, indem sie in ihren Urteilen den Gefangenentransport dem Galgen gegenüber häufig vorzogen (McLynn 92, Sherwin 181).

Einer zweifellos großen Anzahl an Gesetzesbrechern stand von offizieller Seite, in der Umsetzung der Gesetze, wenig entgegen (Ruff 90). London wurde weder von einer Polizei noch von Patrouillen oder regulären Truppen bewacht (Sherwin 179). Lediglich eine Handvoll Wachmänner war für die Lösung der Schwierigkeiten und die Sicherstellung von Recht und Ordnung in der Metropole im Einsatz. Diese Aufseher waren allerdings meist alte, ignorante und inkompetente Männer (Sherwin 172, 179). Sie waren unbewaffnet, arbeiteten lediglich halbtags und genossen dementsprechend ein geringes Vertrauen (Shoemaker 296). Richter verließen sich niemals allein auf ihre Aussagen, ohne unterstützende Beweise aus der Bevölkerung erhalten zu haben (Sherwin 179). Bei der Durchsetzung der Gesetze waren die Wachleute immer auf die Unterstützung der Bürger angewiesen, die üblicherweise mit einem lauten Schrei zur Verfolgung und Verhaftung von Verdächtigen und Störenfrieden hinzugerufen wurden (Shoemaker 287). Ferner war es jedem Bewohner Londons bei einem dringenden Tatverdacht erlaubt, auf Eigeninitiative hin Verhaftungen vorzunehmen und die fragliche Person zu einem Wachmann oder einer höheren Instanz zu bringen (Shoemaker 287). Sobald die Intention der Bevölkerung hingegen im Widerspruch zur Wachmannschaft stand, war diese schnell in gewaltiger Unterzahl und meist nicht in der Lage Aufrührer gefangen zu nehmen. Selbst ein gewaltsamer Aufstand im Jahre 1721, der direkt gegen eine Gruppe von Schutzmännern gerichtet war, die Spielbanken überprüfen wollten, resultierte lediglich in einer unerheblichen Anzahl an Verhaftungen und strafrechtlichen Verfolgungen (Shoemaker 295). Neben den Wachmännern waren Belegen zu Folge die hierarchisch höher stehenden ‚parish officers’, also die Verantwortlichen für ein Gemeindegebiet, in gleichem Maße korrupt, ineffizient und anfällig für Einschüchterungsversuche (Sharpe 76).

Die hohen Strafen änderten damit meist nichts an der grundsätzlichen Situation. Im Falle vom Piraten war die Vorgehensweise in England und seinen Kolonien standardmäßig die Exekution (Cordingly 86; Sherry 348). Sofern sie in London gefasst wurden, fanden sie sich alsbald am Galgen in Wapping wieder, wenige Meilen flussabwärts der London Bridge. Die Angst vor dem Galgen konnte jedoch keine Veränderung herbeiführen: “In 1689 the authorities at Fort St George (Madras) reported that the sea trade was ‘pestered with pirates’, and despite harsh punishments the situation was little improved in the following years” (Cordingly 85). Das ganze 18. Jahrhundert hindurch finden sich Fälle von Eigentumsdelikten und weder der einfache Taschendieb noch der ‚Highwaymen’ ließen sich spürbar von den Strafen beeindrucken.

2.3 Literarische Umsetzung des Themas der Kriminalität

Der Anstieg an Kriminalität und das öffentliche Interesse an diesem Thema schlugen sich in der Literatur dieser Zeit nieder (Durston 25, Punter 47). Die Beliebtheit dieses Gegenstandes zeigt sich in der Mannigfaltigkeit der Publikationen, die von Balladen, Pamphleten, letzten Reden, Berichterstattungen von Gerichtsverfahren bis zu den Autobiographien von Verbrechern reichte, wie sie unter anderem in den Tyburn Chronicles oder dem Newgate Calendar erschienen (Bettinger 35; Shepard 151, 168, 193f., 195, 198f.). Ein zeitgenössischer Kritiker erhob den Vorwurf diese Werke würden erst eine Immoralität unter der Bevölkerung entwickeln (Davis 106), doch wie Bettinger anmerkt waren Tabuthemen wie Sex und Kriminalität schon seit jeher von großem Interesse und die Beschäftigung damit Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen (35).

Für Defoes Werke ist einerseits die Straßenliteratur von Bedeutung, die von der Mehrheit der Bevölkerung gelesen wurde, da Defoe sich bei seinem Publikum nicht ausschliesslich an höhere beziehungsweise gebildetere Schichten wendete, sondern die Erwartungen weiter Teile der Bevölkerung zu erfüllen suchte. In vielerlei Hinsicht heben sich Defoes Romane nicht von anderen Texten seiner Zeit ab, wie in der besonderen Beachtung der physischen Umgebung oder anderen Wesensmerkmalen der konkreten Erfahrungswelt, die er in seinen Werken einarbeitete.

In bekannten Romanen des 18. Jahrhunderts, von Defoe über Fielding, Swift, Smollett und Goldsmith bis hin zu Godwin sieht David Punter neben dem allgemeinen Interesse in das Thema der Kriminalität verschiedene übergreifende Tendenzen. Erstens gäbe es eine starke Ambivalenz bezüglich der Rechtmäßigkeit kriminellen Handelns; Zweitens werde intensiv nach der Begründung für Verbrechen gesucht; Zuletzt werde generell Kritik am englischen Rechtssystem geübt (47). Wie noch gezeigt werden soll, besteht bei Defoe tatsächlich eine gewisse Ambivalenz bezüglich der Rechtmäßigkeit von Verbrechen, die jedoch nur in Ausnahmefällen zu gelten scheint; die intensive Suche nach den Ursachen für kriminelles Verhalten findet sich in seinen nicht-fiktionalen Texten und wird auch in seinen Romanen intensiv untersucht; das englische Justizwesen wird von Defoe grundsätzlich unterstützt und erfährt Kritik nur in bestimmten Fällen wie der Konkretisierung bestimmter Gesetze oder der mangelhaften Durchsetzung dieser durch die Wachmänner Londons.

Entscheidender für Defoes Romane waren vermutlich die zahllosen Autobiographien echter Krimineller, die sich zu seiner Zeit großer Beliebtheit erfreuten. Der Unterschied zu diesen besteht vorrangig darin, dass Defoes Romane länger sind, sich thematisch häufig weit außerhalb der reinen kriminellen Aktivitäten bewegen und die Protagonisten komplexer konstruiert sind und ohne Strafe davonkommen (Faller Crime and Defoe 31, 69).

2.4 Defoes persönliche Erfahrungen

Defoes Interesse für das Thema der Kriminalität sowie die Möglichkeit sich eine kompetente Meinung über Straftaten und ihre Verurteilung zu bilden hat zunächst einen einfachen Grund: Er lebte im Zentrum von Englands krimineller Aktivität - London. Um die Jahrhundertwende 1700 lebten bereits über eine halbe Millionen Menschen in der Hauptstadt und damit ein Zehntel der Bewohner Englands (Sherwin 170; McLynn 1f.). London war ein Ort, an dem Armut grassierte, Feuer wüteten, Mobs protestierten und weder Geldbörsen noch Häuser sicher vor Dieben waren oder wie Samuel Johnson es in seinem Gedicht London ausdrückte:

Here malice, rapine, accident, conspire,

And now a rabble rages, now a fire; (13-14)

Gleichzeitig entwickelte sich eine organisierte Kriminalität und Gesetze wurden als Folge der verschiedenen Auswüchse der Kriminalität oft noch schärfer interpretiert als auf dem Land (Ruff 223; McLynn 1).

Die einfachen Bürger sahen sich mit einer Welle der Gewalt konfrontiert und an Daniel Defoe, welcher den Großteil seines Lebens in London verbrachte, konnten die bestehenden Verhältnisse nicht spurlos vorüber gehen (Durston 24f.). McLynn vergleicht die Situation gar mit Hobbes’ Naturzustand, denn Fälle von Aufständen, Zugriffen verbrecherischer Banden und von der Norm abweichendem Verhalten einer ganzen Subkultur waren an der Tagesordnung (4f.). Defoe war darüber hinaus ein scharfer Beobachter der ihn umgebenden Gesellschaft und hätte schwerlich Traktate über eine mögliche Senkung der Verbrechensrate geschrieben, wenn Verbrechen erstens kein allgemeines Problem gewesen wären und ihn zweitens persönlich nicht tangiert hätten (Backscheider The Crime Wave 460).3

Defoe beobachtete und schrieb nicht ausschließlich über Verbrechen, sondern sah sich nach der Veröffentlichung seines Pamphletes The Shortest-Way with Dissenters im Jahr 1702 selbst mit dem Gesetz konfrontiert (Novak Daniel Defoe 39). In seiner Schrift kritisierte er die Behandlung der Dissenter durch die Queen und die Kirche von England. Der Nonkonformist Defoe nutzt hier einen Ich-Erzähler, der durch seine ironisch übertriebene Zustimmung zu den Ansichten Queen Annes und der Kirchenhöheren die Absurdität derselben aufzudecken versuchte (Backscheider Daniel Defoe 111). So versprach die Königin auf der einen Seite, sie würde die Dissenter tolerieren, auf der anderen Seite hingegen äußerte sie ihr tiefes Interesse daran, den Einfluss der anglikanischen Kirche zu stärken. Der Ich-Erzähler stimmt zu, dass beide Versprechen einander widersprächen und aus diesem Grund eines ihrer Vorhaben vorgezogen werden muss: “Her Majesty has promised to protect and defend the Church of England, and if she cannot effectually do that, without the destruction of the Dissenters; she must, of course, dispense with one promise to comply with another!” (Defoe The Shortest Way §43). Die eigentliche Intention dahinter, Queen Annes gebrochenes Versprechen und das unbarmherziges Vorgehen gegenüber Nonkonformisten aufzudecken, wird schnell deutlich. Noch offensichtlicher wird die Ironie anhand des folgenden Beispiels über die Nächstenliebe und Barmherzigkeit der englischen Staatskirche: “[…] it is plain She [The Church of England] has put it [charity and love] in practice towards the Dissenters, even beyond what they ought [deserved].” (Defoe The Shortest Way §16). Die Misshandlung der Dissenter war kein großes Geheimnis und das Fehlen der grundlegendsten christlichen Werte von Seiten der Staatskirche ist ein deutlich sichtbarer Vorwurf ihrer intoleranten Handlungsweisen (Helbig 24). Durch die Imitation eines Torys, der Queen Annes Vorstellung einer starken, rein anglikanischen Kirche unterstützte, wurde auch der zu diesem Zeitpunkt vorgeblich erst kürzlich verstorbene König William III. angegriffen: “The late reign is too fresh in the memory of all the World to need a comment.” (Defoe The Shortest-Way §19). Defoe selbst wird über die neue Thronfolgerin weniger erfreut gewesen sein, denn im Vergleich zu Queen Anne war William III. in Religionsfragen ein geradezu liberaler König, der 1789 unter anderem dem sogenannten ‚Toleration Act’ zustimmte.4

Defoes Form des Protestes brachte ihn in Schwierigkeiten, denn für das Schreiben und die Veröffentlichung dieses Pamphletes wurde er der staatsgefährdenden Verleumdung angeklagt, ein Gesetz, welches 1703 neu ausgelegt wurde und ab diesem Zeitpunkt selbst allgemeine Betrachtungen über die Regierung unter Strafe stellte (Backscheider Daniel Defoe 110). In seiner Verteidigung berief sich Defoe darauf, lediglich Wahrheiten in ironischer Form präsentiert zu haben (Backscheider Daniel Defoe 111). Leider half ihm diese Form der Rechtfertigung wenig, denn nach der Meinung des Gerichtes war der Text in jedem Fall eine Gefahr für den Staat. Wäre der Text in der Art und Weise zu verstehen, wie er geschrieben wurde, ermutige er die Menschen zur Verfolgung von Dissentern; wäre er dagegen ironisch zu verstehen, führe er zur Vereinigung und dem Aufstand von Dissentern gegen den Staat (Backscheider Daniel Defoe 111). Defoe bestritt jedenfalls niemals den Anstoß für die Publikation gegeben zu haben, was wiederum ausreichte, ihn mit einer Geldstrafe zu belegen, an den Pranger zu stellen und für mehr als fünf Monate ins Gefängnis zu schicken. (Backscheider Daniel Defoe 106, 111).

Die ersten Erkenntnisse, die aus diesem Pamphlet gezogen werden können, sind eine kritische Einstellung gegenüber der sozialen Ordnung und den Strafen, mit denen Dissenter belegt werden. Defoe scheute also keineswegs davor zurück, Vorwürfe gegenüber den Herrschenden zu äußern, sofern deren Ansichten von seinen eigenen abwichen. Daraus folgt natürlich nicht, dass er einen Umsturz der Regierung befürworten würde oder tatsächlich einen gewaltbereiten Kampf gegen die Autoritäten anstrebte. Defoe beharrte auf dem Fakt, dass er nur einige Ansichten der Tories und hoher Geistlicher verhöhnte und erkannte selbst sicher keine Gefahr für den Staat (Backscheider Daniel Defoe 111). Im Gegensatz zu den extremen Ansichten, die ihm unterstellt wurden, wird im Text eine friedliche Koexistenz der verschiedenen religiösen Ansichten vertreten, die anglikanischen Kirche eingeschlossen. Der Ich-Erzähler zitiert einen führenden Pastoren der Dissenter, welcher schreibt, dass es keine substantiellen Unterschiede zwischen beiden Religionsformen gibt: “Do the Religion of the Church and the Meeting Houses make two religions? Wherein do they differ? The Substance of the same Religion is common to them both, and the Modes and Accidents are the things in which only they differ.” (in Defoe The Shortest-Way §72).5 Der Ich-Erzähler äußert sich selbstredend gegen diese Form der Gleichsetzung und sieht auch in diesen weniger gewichtigen Punkten keinen Anlass Dissenter nicht deutlichen Strafen auszusetzen: “[…] suffer the gallows and galleys, corporal punishment and banishment.” (Defoe The Shortest- Way §73). Eine Lesart, die diese Argumentation ernst nimmt und die Vernichtung aller Nonkonformisten befürwortet, mag tatsächlich staatsgefährdend sein, übersieht aber jeglichen Hinweis der Ironie. Erstaunlicherweise wurde Defoes Pamphlet lange Zeit als ein echter Text angesehen, sowohl von Seiten der Kirche von England als auch von Dissentern (Defoe A Brief Explanation 1ff.; Backscheider No Defense 275). Als der ‚Betrug’ herauskam, begannen die Probleme für Defoe und das obwohl er in seinem Text für Toleranz und gegen rein religiös begründete Strafen gegenüber Dissentern eintritt.

Im Falle von staatsgefährdender Verleumdung reichte es aus zu beweisen, dass ein Autor einen Text geschrieben und veröffentlicht hat, in welchem negative Äußerungen in Bezug auf die Majestät oder andere Staatsautoritäten vorkommen (Backscheider Daniel Defoe 111). Neunzehn Jahre nach der Veröffentlichung beschwerte Defoe sich über die ungenaue Definition von Verleumdung, da sie es einem Autor unmöglich mache zu erkennen, ab wann der jeweilige Text darunter fällt (Backscheider Daniel Defoe 112). Auch wenn Defoe in diesem Pamphlet die Herrscher Englands lächerlich macht, zeigt sich anhand der hohen Strafe erneut das Vorgehen in der Zeit des ‚Bloody Codes’. Zwar wurde Defoe nicht exekutiert, aber die Zeit im Gefängnis war für den freiheitsliebenden und ständig die Initiative ergreifenden Autoren und Geschäftsmann nicht einfach (Earle 225; Backscheider Daniel Defoe 106). Er wurde in eine Zelle mit einem Mörder sowie einem französischen Spion gesteckt (Backscheider Daniel Defoe 108). Der Pranger sollte ebenfalls nicht unterbewertet werden. Auf einem öffentlichen Platz stundenlang in der Kälte und im Regen zu stehen und dabei mit Steinen ins Gesicht beworfen zu werden, bedeutete für die meisten Verbrecher noch den geringsten Teil der Strafe (Shoemaker 287f.). Betroffene verloren ihr Recht zu wählen, aber am tragischsten war es, einer Erniedrigung ausgesetzt zu sein, die mit einem völligen

Gesichtsverlust und dem Verlust der Ehre einherging, was im 18. Jahrhundert mit dem Austritt aus der Gesellschaft gleichzusetzen war (Backscheider 116ff.; Peltonen 201ff.). Es war geplant Defoe drei Tage lang der Demütigung am Pranger auszuliefern. Er schaffte es jedoch insbesondere durch sein Gedicht Hymn to the Pillory die Stimmung der Anwesenden zu seinen Gunsten zu beeinflussen und weniger als Täter denn als Opfer der Justiz gesehen zu werden (Backscheider No Defense 274):

If a Poor Author has Embrac’d thy Wood,

Only because he has not understood, They Punish Mankind but by halves, Till they stand there,

Who against there own Principles appear:

And cannot understand themselves. (Defoe Hymn to the Pillory 10)

Er beschreibt sich selbst als armen Autor und will auf seine eigene Schuldlosigkeit hinweisen. Mit der Zeile, der Autor hätte etwas nicht verstanden, ist weniger Defoes Unverständnis gemeint als die Unmöglichkeit das Gesetz der staatsgefährdenden Verleumdung überhaupt verstehen zu können, da es nicht an exakte Vorgaben gebunden ist und die aus Defoes Sicht harmlose Einbildungskraft von Autoren mit einbezieht:

Hail Hi’rogliphick State Mashin,

Contrived to Punish Fancy in […] (Defoe Hymn to the Pillory 3)

Die Stelle der Auffassungsgabe ist ambivalent und könnte neben der Unmöglichkeit das Gesetz begreifen zu können ebenso dafür stehen, dass Defoes Shortest Way with Dissenters falsch verstanden wurde:

Extol the Justice of the Land,

Who Punish what they will not understand. (Defoe Hymn to the Pillory 15)

Vier Jahre nach der Strafe lässt er seinen Emotionen in einer Ausgabe von A Weekly Review of the Affairs of France freien Lauf: “Would any man in England but be satisfied, however dear a cost, that he wrote a book […] Blush then, ye tyrants of the party, that sacrifiz’d the man to the lust of your revenge” (in Backscheider Daniel Defoe 119). Er sieht sich als Opfer der Tory Partei, von welcher er mit Hilfe eines ihm willkürlich erscheinenden Gesetzes zu einem Verbrecher gebrandmarkt wurde, anstatt für eine wirkliche Straftat belangt zu werden (Backscheider Daniel Defoe 111). Aus diesem Grund meint Defoe, die jetzigen Kläger könnten bald genau so gut an seiner Stelle stehen, da Willkür und unklare Gesetze in seiner Zeit Hand in Hand gingen:

Thy Business is, as all Men know,

Is to Punish Villains, not to make Men so […] (Defoe Hymn to the Pillory 14)

Defoes Leben in London sowie seine eigenen Erfahrungen prägten mit großer Sicherheit sein Interesse am Thema Kriminalität und gaben ihm zweifellos das Gefühl Aussagen über Straftaten und gerechte Formen der Bestrafung treffen zu können. Trotz einer Geldbuße, der Gefängnisstrafe und dem Pranger gab Defoe nicht klein bei und äußerte seine Ansichten über die aus seiner Sicht unverhältnismäßigen Vergeltungsmaßnahmen in A Hynm to the Pillory und hatte damit Erfolg bei den Menschen, die seine Schrift am Pranger lasen und ihm nun Blumen anstelle von Steinen vor die Füße warfen (Backscheider No Defence 274; Ruff 98).

Dies war nicht Defoes einzige Erfahrung mit Kriminalität und dem Gesetz. So erlebte Defoe Piraterie aus erster Hand als er 1683 eine Zeit lang von algerischen Korsaren gefangen gehalten wurde (Cordingly 29). Defoe musste wiederholt Strafen infolge von Verschuldungen im Gefängnis verbüßen. Auf dem Weg nach Schottland stahl er Gerüchten zufolge ein Pferd (Moore Defoe’s Use of Personal Experience 362, Martin 203).6 In der Biographie Beyond Belief stellt John Martin sogar die gewagte Theorie auf, dass Defoe aufgrund seines Geldmangels und seiner opportunistischen Grundhaltung an der Seite von Jonathan Wild in die Beschaffungskriminalität involviert war (253f.). Gerade Defoes Verteidigung des Textes The Shortest Way with Dissenters und die Veröffentlichung von A Hymn to the Pillory waren jedoch unmittelbare Reaktionen auf die Rechtsprechung seiner Zeit und deuten auf die Verteidigung seiner Überzeugung in seinen Schriften und einer durchaus kritischen Grundhaltung gegenüber Autoritäten hin.

3 Defoes nicht-fiktionale Werke über Kriminalität

Defoe veröffentlichte eine große Anzahl an Abhandlungen und Pamphleten, die sich mit verschiedenen Teilbereichen der Kriminalität befassen. Diese sollen auf essentielle Thesen hin untersucht werden, die in anderer Form auch für seine Romane relevant sind. Zunächst sollen die in An Essay on the Regulation of the Press geäußerten Grundvorstellungen über sinnvolle Gesetze erfasst werden. Diesem folgt The Great Law of Subordination, welches von besonderem Interesse ist, weil es die Ansichten von dienlichen Gesetzen spezifiziert und das Verhältnis von Hausherren und Dienern untersucht, was speziell für die gesellschaftliche und rechtliche Position von Moll Flanders von Bedeutung ist. Danach soll die Homogenität der Ansichten, die Defoes nicht-fiktionalen Texten zugrunde liegen, untersucht werden. Damit sollen scheinbare intertextuelle Widersprüche aufgelöst werden. Dies soll unter anderem damit belegt werden, dass selbst die Texte, die unter Defoes Pseudonym ‚Andrew Moreton’ geschrieben wurden, die gleichen Standpunkte vertreten wie seine anonym verfassten Niederschriften. Als Ergebnis dieser Untersuchung können konkrete Punkte, speziell aus Augusta Triumphans und Second Thoughts are Best zur Beurteilung der unterschiedlichen Aspekte von Kriminalität erfasst werden.

3.1 An Essay on the Regulation of the Press

Defoes Abhandlung über Pressezensur wurde am 7. Januar 1704, kurz nach seiner Freilassung aus dem Newgate-Gefängnis veröffentlicht (Secord 180). Damit reagierte er auf das Vorhaben des Unterhauses, ein Gesetz zur Beschränkung der Zügellosigkeit im Pressewesen zu verabschieden, nachdem in der Presse das ‚Occasional Conformity Bill’ scharf attackiert worden war (Secord 180). Neben Defoes Beurteilung des Gesetzes zur Regulierung der Presse offenbart er gleichzeitig seine allgemeinen Vorstellungen sinnvoller Erlasse. Zweifellos motiviert von der Furcht um seine journalistische Tätigkeit verurteilt er die Pressezensur in diesem anonym veröffentlichten Aufsatz dabei vor allem unter Berufung auf Freiheit und Bildung. Der Text bleibt dabei sachlich und setzt anstelle von Ironie auf eine klare Argumentationsstruktur, wohl auch in dem Bewusstsein des kurz zuvor Erlebten: „But I am not going to write a Satyr on Government, several has paid Dear enough for that […] (Defoe AERP 16).

[...]


1 Defoe De-Attributions (1994); A Critical Bibliography of Daniel Defoe (1998)

2 Darunter fallen An Effectual Scheme for the Immediate Preventing of Street Robberies (Moore 228, Furbank Defoe 149), Some Considerations Upon Street-Walkers (Moore 205; Furbank Defoe 143) sowie jegliche Geschichten über zwei der bekanntesten Verbrecher des 18. Jahrhunderts - Sheppard und Wild: A Narrative of All the Robberies, Escapes, &c. of John Sheppard (Moore 193; Furbank Defoe 136), The History of the Remarkable Life of John Sheppard (Moore 194; Furbank Defoe 137), Epistle from Jack Sheppard (Moore 196; Furbank Defoe 138), The Life of Jonathan Wild (Moore 196; Furbank Defoe 138) und The True and Genuine Account of the Life and Actions of the Late Jonathan Wild (Moore 196; Furbank Defoe 139). Deren Katalogisierung führte 1869 William Lee lediglich unter den unbewiesenen Vermutungen durch, Applebee wäre der persönliche Verleger für die letzten Reden der zum Galgen Verurteilten und Defoe der verantwortliche Autor für jene Geschichten (Furbank Defoe xxiii f.).

3 Defoes tatsächliches Interesse für ein Thema abzuschätzen wird erschwert durch die Annahme, dass die wesentliche Motivation für das Verfassen seiner Texte finanzieller Natur gewesen sein könnte. Die Fülle an Material über Kriminalität sowie seine Reaktion in Second Thoughts are Best auf ein Pamphlet, welches seine Vorhaben kritisierte (Moore 220), schließen ein völliges Unbeteiligtsein seinerseits jedoch nahezu aus.

4 Act for Exempting their Majestyes Protestant Subjects dissenting from the Church of England from the Penalties of certaine Lawes

5 Das Zitat stimmt mit An Enquiry into the Occasional Conformity überein, welches Defoe selbst geschrieben hatte und er sich folglich gewissermaßen selbst zitiert. In dieser Schrift kritisiert er den Gesetzesentwurf gegen eine gelegentliche Religionsanpassung, da es ein ungerechtes Gesetz darstellen würde - trotz der Tatsache, dass es Dissenter nicht berühre, weil diese nicht für eine öffentliche Position ihre Religion leugnen oder ändern würden (Furbank A Critical Bibliography 35, Defoe An Enquiry 5ff.).

6 Ein Flugblatt von 1711 beschuldigt eindeutig Daniel Defoe, auf dem Weg nach Schottland ein Pferd entliehen, aber nie zurückgebracht oder erstattet zu haben: “But [Mr. Foe] takes this cheval down to Scotland with him […] What became of the Horse after the Space of 3 years, Fame has not told us, but the Owner is funding no return of it […]” (A Hue and Cry after Daniel Foe, and his Coventry-beast 1)

Ende der Leseprobe aus 104 Seiten

Details

Titel
Das Thema der Kriminalität in ausgewählten Schriften Daniel Defoes
Untertitel
Kriminalität im 18. Jahrhundert und die Bearbeitung dieses Themas in "Moll Flanders" und "Colonel Jack"
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Anglistik/Amerikanistik)
Veranstaltung
-
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
104
Katalognummer
V152801
ISBN (eBook)
9783640654031
ISBN (Buch)
9783640654567
Dateigröße
2971 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Daniel Defoe, Moll Flanders, Colonel Jack, Kriminalität, England, Bloody Code, 18.Jahrhundert, Augusta Triumphans, Diebstahl, Eigentumsdelikt, Bernard Mandeville
Arbeit zitieren
Eric Busse (Autor:in), 2009, Das Thema der Kriminalität in ausgewählten Schriften Daniel Defoes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152801

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Das Thema der Kriminalität in ausgewählten Schriften Daniel Defoes



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden