Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Thema und Vorgehensweise
2. El Sistema : Das Nationale System der Jugend- und Kinderorchester in Venezuela
2.1. Was ist El Sistema?
2.2. Die politische und kulturelle Situation in Venezuela während der Gründung von El Sistema
2.3. Die Vision des Gründers José Antonio Abreu
2.4. Die Realisierung der Vision.
2.4.1. Das musikpädagogische Modell
2.4.2. Die gezielte Motivation und Koordination der maßgeblichen Leute.
2.4.3. Die Beschaffung der notwendigen materiellen und finanziellen Ressourcen.
2.5. Auswirkungen auf das politische, soziale und kulturelle Umfeld nach 35 Jahren der Entwicklung – national und international
2.5.1. Die Veränderung Venezuelas
2.5.2. Ein Modell für die Welt
2.5.3. El Sistema in Deutschland
3. Die Engpasskonzentrierte Managementstrategie nach Wolfgang Mewes
3.1. Die vier Grundprinzipien
3.2. Die Vorgehensweise nach der EKS-Strategie in sieben Phasen.
3.3. Ursachen für den Erfolg der EKS-Strategie
4. Die Arbeitsweise eines Social Entrepreneurs
4.1. Was ist ein Social Entrepreneur?
4.2. Wichtige Merkmale eines Social Entrepreneurs.
5. Die Entwicklung von El Sistema im Vergleich mit der EKS-Strategie und der Arbeitsweise eines Social Entrepreneurs
5.1. Die Realisierung von El Sistema im Vergleich mit der EKS-Strategie
5.2. José Antonio Abreu – ein Social Entrepreneur?
5.3. Der Entwurf eines Strategieplans für Social Entrepreneurs anhand des 7-Phasen-Modells der EKS-Strategie
6. Fazit und Ausblick
7. Anhang
8. Literaturverzeichnis
9. Abbildungsverzeichnis
1. Thema und Vorgehensweise
Zeitungen betiteln es als „das Wunder von Caracas“: Das venezolanische Jugendorchestersystem El Sistema, ein musikalisches Sozialprojekt, welches unter der Führung von José Antonio Abreu seit 35 Jahren Kindern und Jugendlichen der Armenviertel Venezuelas ein Instrument und Musikunterricht zur Verfügung stellt. Durch den freien Zugang zur klassischen Musik finden jährlich Tausende von Kindern des Projektes einen Weg aus dem Teufelskreis von Armut, Kriminalität und Drogen und bekommen eine Zukunftsperspektive. Vor Enthusiasmus und Musizierfreude sprühend, verzaubern die Jugendorchester ihr Publikum – das Simon Bolívar Youth Orchestra, welches die Pyramidenspitze der Bewegung bildet, zählt zu einem der fünf besten Orchester der Welt.
Dieses einzigartige Musikausbildungssystem gehört zu den erfolgreichsten und effektivsten Sozial- und Entwicklungsprojekten der Welt, und wirkt in seiner einzigartigen Struktur wegweisend für zahlreiche weitere internationale Musikprojekte. In unzähligen Medienberichten spiegelt sich die weltweite Begeisterung für die jungen Musiker von El Sistema, ein gleichnamiger Film hat Millionen von Zuschauern in den Kinosälen rund um den Globus in den Bann dieser kulturellen Bewegung gezogen.
Während diese Berichte die verständliche leidenschaftliche Begeisterung für das Projekt und die große Popularität der Musiker spiegeln, gibt es bisher verschwindend wenige Arbeiten und Rezensionen darüber, wie Abreus Vision von El Sistema realisiert wurde. Die Bewegung gilt als Wunder, José Antonio Abreu wird als Heiliger verehrt. Doch wie hat er seine Vision realisiert? Und welche Verhaltensweisen, Methoden und vor allem welche Strategie haben es ihm ermöglicht, diese Bewegung auszulösen?
Diesen Fragen soll in dieser Arbeit unter einem managementorientierten Blickwinkel nachgegangen werden. In diesem Sinne widmet sich das zweite Kapitel der Bewegung „El Sistema“. Nach einem kurzen Überblick über das Projekt und eine Beschreibung der politischen, sozialen und kulturellen Ausgangssituation, soll die Vision des Gründungsvaters José Antonio Abreu näher beschrieben und ihre Funktion kurz skizziert werden. Im Anschluss daran folgt eine Analyse der Erfolgsfaktoren des Projektes, um das Kapitel mit einer Beschreibung der nationalen und internationalen Wirkungen zu schließen.
Da bisher nur wenige detaillierte Quellen über El Sistema existieren, die sich größtenteils aus kurzen journalistischen Beiträgen zusammensetzen, und es zum Beispiel noch keine ausführliche Biographie über José Antonio Abreu gibt, stützen sich die Aussagen dieses Kapitels zu einem Großteil auf eigene Aussagen Abreus, sowie die Homepage von FESNOJIV[1]. Eigene Interviews mit Ilona Schmiel, der Intendantin des Bonner Beethovenfestes, und Thomas Rietschel, dem Präsident der Frankfurter Hochschule für Musik und darstellende Kunst, ergänzen diese Quellen.
Um der Analyse von José Antonio Abreus Vorgehen bei der Umsetzung seiner Vision eine theoretische Grundlage zu liefern, soll im zweiten Kapitel eine Managementstrategie erläutert werden, deren sozioorientierte Ausrichtung sehr gut zu diesem Thema passt: die Engpasskonzentrierte Managementstrategie nach Wolfgang Mewes. Da diese sich von bekannten gewinnorientierten Managementstrategien maßgeblich unterscheidet, sollen in diesem Kapitel nach einem allgemeinen Überblick über Mewes Strategie die vier Grundprinzipien der EKS sowie die Vorgehensweise in sieben Phasen ausführlich erläutert werden, bevor auf ihre Erfolgsfaktoren eingegangen wird.
Da „El Sistema“ als soziale Bewegung viele Besonderheiten im Vergleich zu einem Business Unternehmen, auf welches diese Strategie primär ausgerichtet ist, aufweist, soll diese Vorgehensweise noch durch die Erläuterung der Arbeitsweise eines Social Entrepreneurs ergänzt und mit ihr verglichen werden. Mit diesem Ziel widmet sich Kapitel 4 dem Thema Social Entrepreneurship – einem im deutschen Sprachraum ebenso neuen wie aktuellen Begriff. Nach einer kurzen Begriffsanalyse liegt der Fokus in dieser Arbeit auf den besonderen Merkmalen und Eigenschaften eines Sozialunternehmers, welche in einer Art Register aufgelistet werden. Da zu diesem Thema ebenfalls viele begeisterte Schriften, jedoch wenig detaillierte Analysen existieren, wurde diese Auflistung aufbauend auf der vorhandenen Literatur durch eigene Forschungen und Einschätzungen, verbunden mit dem Fachwissen allgemeiner Führungslehre, zusammengestellt.
Dieser theoretische Rahmen soll in Kapitel 5 nun dafür verwandt werden, die zu Beginn der Arbeit herausgearbeitete Vorgehensweise Abreus bei der Umsetzung seiner Vision mit der EKS-Strategie sowie den Merkmalen eines Social Entrepreneurs zu vergleichen. Auf diese Erkenntnisse aufbauend soll schlussendlich der Versuch gewagt werden, einen allgemeinen Strategieplan für Social Entrepreneurs zu entwerfen. Dieser soll als Grundgerüst für die Entwicklung einer detaillierten Handlungsstrategie für Sozialunternehmer gebraucht werden können, welche für die Entwicklung dieser wichtigen Branche längst überfällig zu sein scheint.
2. El Sistema : Das Nationale System der Jugend- und Kinderorchester in Venezuela
2.1. Was ist El Sistema?
El Sistema, zu Deutsch ‚das System’, steht für die ‚Fundación del Estado para el Sistema Nacional de Orquestas Juveniles e Infantiles de Venezuela’ – die Staatsstiftung des nationalen Jugend- und Kinderorchestersystems Venezuelas. Hervorgegangen ist dieses Netzwerk zur Musikförderung aus der ‚Sinfónica de la Juventud Venezolana Simón Bolívar’, dem ersten Jugendorchester Venezuelas, das im Jahre 1975 gegründet wurde.[2] Gründungsvater war der venezolanische Musiker, Ökonom und Politiker José Antonio Abreu, der mit dem Orchester den Grundstein für ein Netzwerk gelegt hat, das sich heute über ganz Venezuela erstreckt und unzähligen Kindern und Jugendlichen den Weg von der Straße weist.
Die Stiftung El Sistema fördert heute rund 300.000 Kinder und Jugendliche, die in 125 Jugendorchestern und 57 Kinder- und Vorschulorchestern, sowie in ca. 1000 Chören in allen venezolanischen Bundesstaaten aktiv am kulturellen Leben Venezuelas teilnehmen.[3] Die Schüler erhalten an sechs Tagen in der Woche musikalische Unterweisung auf ihrem Instrument, im Orchester und in Kammerensembles. Die Instrumente werden kostenlos gestellt. Dabei ist der Besuch einer allgemein bildenden Schule Voraussetzung für die Teilnahme an der Ausbildung – dies gilt auch für die zahlreichen „Straßenkinder“, die in dem Sistema zum ersten Mal in ihrem Leben eine Chance erhalten auf die Integration in ein soziales Netz mit allen daraus folgenden Möglichkeiten für ihre persönliche und berufliche Bildung. Fast 70% dieser jungen Menschen stammen aus Familien unter der Armutsgrenze.
Durch die Orchesterarbeit kommen die Kinder mit einem gesellschaftlichen Lebensmodell in Berührung: In der Probe geht es um Disziplin ebenso wie um Hingabe, um den individuellen Beitrag für das kollektive Gelingen, um das Streben nach Vollkommenheit im harmonischen Miteinander, um die Pflege von ethischen und ästhetischen Werten unter Einhaltung von technischer Exaktheit. Das System vermittelt somit seinen Mitgliedern humanistische Bildung mit dem Ziel gesellschaftlicher Integration. Damit wird die Kunst zum Wegbereiter für Persönlichkeitsbildung, Selbstbestimmung und schließlich gesellschaftliche Partizipation: Sozialisation durch praktisches Musizieren.
Ein märchenhaftes Szenario, von dem noch vor 30 Jahren wohl kaum einer zu träumen gewagt hätte. Um das Ausmaß der Verwirklichung dieser Utopie zu begreifen, soll zunächst untersucht werden, in welchem politischen und kulturellen Umfeld José Antonio Abreu seine Ideen geboren hat.
2.2. Die politische und kulturelle Situation in Venezuela während der Gründung von El Sistema
Als El Sistema vor 35 Jahren gegründet wurde, konnte sich wohl kaum jemand vorstellen, dass dieses Land in naher Zukunft für seine Orchester und Chöre berühmt würde: Gewalt und Kriminalität bestimmen das Leben vor allem in den Städten, in Caracas leben 75% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Ein Großteil wohnt in Barrios, illegalen Vorstadtsiedlungen, die sich die Hügel der Hauptstadt hinaufschlängeln. Viele Bewohner trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus ihrer provisorischen Wohnung hinaus, denn im Kugelgefecht der rivalisierenden Banden zählt ein Menschenleben wenig und die korrupte Polizei bietet kaum Hilfe. Ein Weg aus diesen Verhältnissen ist nahezu unmöglich; Chancenlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung prägen das Leben der Jugendlichen in den Slums von Venezuela.
Die politische Situation des Landes in den 70er Jahren hat diese sozialen Probleme nur noch verstärkt. Auch wenn im Jahre 1968 der erste demokratisch legitimierte Machtwechsel erfolgte, aus dem der Christdemokrat Rafael Caldera als Präsident hervorging, waren die politischen Verhältnisse des Landes keineswegs stabil. Als 1973 der Sozialist Carlos Andrés Pérez zum Staatspräsidenten gewählt wird, beginnt ein ständiger Machtwechsel zwischen Sozialisten und Christdemokraten. Trotz des durch die Ölkrise verursachten wirtschaftlichen Aufschwungs bleiben die immer gravierender werdenden sozialen Probleme, die die Bevölkerung beherrschen, ungelöst.
An eine funktionierende nationale Kulturpolitik ist erst gar nicht zu denken, was sich in der Musiklandschaft des Landes deutlich ausdrückt: Im Jahre 1975 gab es in Venezuela zwei Sinfonieorchester, eines in Caracas, eines in Maracaibo. Diese waren jedoch zu 95 Prozent mit Instrumentalisten aus Nordamerika und Europa besetzt.[4] Valdemar Rodríguez, Klarinettist und Vizedirektor der FESNOJIV beschreibt die Lage zur damaligen Zeit folgendermaßen:
Es gab nahezu keine Möglichkeit für einen Venezolaner im Orchester zu spielen. Die wenigen Musikschulen und Konservatorien waren nicht in der Lage, gute Musiker hervorzubringen.[5]
Venezolanische Musiker waren bei den führenden Orchestern nicht erwünscht, sie hatten einen schlechten Ruf und eine gute musikalische Ausbildung war ihnen vergönnt.[6] So war das Orchester ein Ort ausländischer Eliten, die klassische Musik fristete ein einsames Dasein im Elfenbeinturm.
„No había donde tocar!“[7] José Antonio Abreu erkannte die Problematik und war derart verärgert darüber, dass er sich entschloss, diese Realität zu verändern. Am 12. Februar 1975 lud er einige Kinder in eine Garage, um ihnen Musikunterricht zu erteilen. Es kamen elf Kinder. Als Abreu die restlichen leeren Notenpulte erblickte, war er kurz davor wieder aufzugeben:
When I arrived at the rehearsal only eleven kids had shown up. And I said to myself: Do I close the program or multiply these kids? I decided to face the challenge and on that same night I promised those eleven children I’d turn our orchestra into one of the leading orchestras in the world.[8]
Zu der zweiten Probe kamen 40 Kinder und einen Tag später, zu der dritten Probe, schon 75. Daraus entwickelte sich eines der größten Sozialprojekte Lateinamerikas – diese Probe in der Garage war die Keimzelle für das System und die Stiftung FESNOVIJ. Es ist entstanden aus den Bedürfnissen einer Generation, die sich zusammenschloss, um einem Motto zu folgen: „Tocar y luchar!“. Liest man die Aussagen des Maestros zu dieser Geburtsstunde des Projektes, fällt eines auf: Hinter der ganzen Bewegung steckt vor allem eines: die Kraft einer ehrgeizigen Vision.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Abreu bei einem der ersten Konzerte
2.3. Die Vision des Gründers José Antonio Abreu
„Er hatte diese Idee, die unser Land verändert hat.“
Gustavo Dudamel
„Freier Zugang zur Kunst für alle Kinder Venezuelas, Lateinamerikas und der Karibik (…) und eine große humanistische und kreative Revolution durch die Kunst in Lateinamerika“.[9] So formulierte José Antonio Abreu selbst, welcher Traum und welches Zukunftsbild ihn seit der Gründung von El Sistema geleitet haben. Musikalische Bildung als Grundrecht für alle Kinder und Jugendlichen Venezuelas, und eine ästhetische Revolution durch die Kraft der Musik – dies ist seine Vision.
Genauer beschreibt er dieses Bild folgendermaßen: “A Venezuela where every town, regardless of how small, will have its choir and its orchestra. It is an unimaginable, avant-garde culture”.[10] Ein Orchester und einen Chor in jeder venezolanischen noch so kleinen Stadt – ein Vorhaben, das die Strukturen des “klassischen Musiklandes” Deutschland weit übersteigt.
Getrieben wird seine Vision von einem tiefen, unerschütterlichen Glauben an die einigende Kraft der Musik und vor allem des gemeinsamen Musizierens:
Chor und Orchester sind Gemeinschaften, in denen Kinder und Jugendliche zusammenkommen, um gemeinsam und miteinander Schönheit zu schaffen. Dieses Ziel ist das Erhabenste, das eine Gesellschaft überhaupt haben kann. (…) Für die Kinder, mit denen wir arbeiten, stellt die Musik fast den einzigen Weg zu einem menschenwürdigen Dasein her. Armut – das heißt: Einsamkeit, Traurigkeit, Anonymität. Orchester – das heißt: Freude, Motivation, Teamgeist, Streben nach Erfolg.[11]
Die Musik ist für José Antonio Abreu der Schlüssel zu Schönheit und Ästhetik, die untrennbar mit ethischen Werten verbunden sind. Somit sind Kunst und Musik, in dem sie Werte wie Solidarität, Harmonie, und Mitgefühl vermitteln, für Abreu immer auch Teile sozialen Handels: „Es geht darum, durch die Schönheit edle, große Werte zu schaffen, alles was gegen den Raub, die Gewalt, die Prostitution, gegen die heutigen Bedrohungen der Jugend und Kindheit weltweit steht.“[12]
Auch wenn seine Vision durchaus träumerischen Charakter hat, fällt auf, wie genau und klar José Antonio Abreu den von ihm imaginierten Idealzustand beschreibt. Seine Träume sind zwar nicht direkt mit unternehmerischen Zielen vergleichbar, allein schon weil der Umfang und der Wirkungskreis seiner Vision ungleich größer sind. Dennoch kommt seine Vision einem klar definierten unternehmerischen Ziel in ihren Ansprüchen und vor allem Funktionen sehr nahe. Vor allem die Motivationsfunktion spielt bei der Vision eine bedeutende Rolle: Sie organisiert und kanalisiert die Energien und Kräfte der Mitarbeiter. Indem José Antonio Abreu seine Vision immer wieder kommuniziert, wiederholt, umformuliert und verbreitet hat, hat sie nicht nur allen Mitarbeitern und noch vielen weiteren Personen eingebrannt, sie schwebt wie ein Polarstern über der ganzen Bewegung und leitet sie.
Während die positiven Wirkungsmechanismen der Musik vor allem in jüngster Zeit weitestgehend akzeptiert sind, kam seine Vision, Musik als Grundrecht für jedes Kind in Venezuela und ganz Lateinamerika zu etablieren und in jeder Stadt Orchester und Chöre zu haben, zur Gründungszeit von El Sistema einer Utopie gleich: „For a lot of people he was a crazy man“, so eines der Gründungsmitglieder.[13] Und noch heute, wo seine ehrgeizigen Ziele weitestgehend erreicht sind, bleibt diese Bewegung ein Wunder, das man kaum begreifen kann. Wie ist es José Antonio Abreu, einem einzelnen Mann gelungen, diese Utopie zu realisieren? Mit welchen Mitteln und Maßnahmen hat er es geschafft, seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen?
2.4. Die Realisierung der Vision
„Wenn du es dir vorstellen kannst, kannst du es auch machen.“
Walt Disney
Jede Veränderung, jeder Wandel beginnt mit einer Vision und einer Entscheidung zu handeln. Von dieser Vision geleitet baut El Sistema auf einem Modell, welches aus drei Säulen besteht: Ausgangspunkt ist hierbei das musikpädagogische Modell. Diesem folgen die gezielte Koordination und Motivation der maßgeblichen Leute und schließlich die Beschaffung der notwendigen materiellen und finanziellen Ressourcen.
2.4.1. Das musikpädagogische Modell
“Teaching music is not my main purpose.
I want to make good citizens, noble human beings.”
Dr. Shinichi Suzuki
Mit dem Ziel ein System zu entwickeln, in dem möglichst viele Kinder und Jugendliche unterschiedlichster Herkunft mit seinem Projekt erreicht werden können, hat José Antonio Abreu ein pädagogisches Modell entwickelt, welches in seiner Integrität und seinem Ausmaß jegliche vorherige Musikerziehungsvision revolutioniert.
Folgende sieben Faktoren, die die soziale und politische Situation des Landes nicht nur berücksichtigen, sondern sich gar zu Nutze machen, sind für den Erfolg der Entwicklung von besonderer Bedeutung. Sie zeigen, dass sein Modell sowohl revolutionär als auch rational durchdacht ist:
1. Der Unterricht ist für jedes Kind kostenlos. Jedem Kind wird das Instrument, für das es sich entschieden hat, geschenkt. Die Kinder können sich, unabhängig von Herkunft und materiellen Ressourcen, frei entfalten. Sogar bis zu den Müllhalden der großen Städte greift das System, um die dort lebenden Kinder und Jugendlichen zu integrieren.
2. Auch jegliche weitere Form der Ausgrenzung wird verhindert: Das Orchestersystem arbeitet nicht nur mit den Ärmsten der Armen, sondern auch mit Straftätern in Jugendgefängnissen oder mit körperlich und geistig behinderten Kindern. Sogar ein Chor für Taubstumme, eine Idee die jegliche gesellschaftliche Norm und Vorstellung überwindet, wurde ins Leben gerufen, der Chor der weißen Hände. Indem das System wirklich alle integriert, wird es auch von der gesamten Gesellschaft getragen.
3. Der Unterricht findet von Montags bis Freitags jeweils vier Stunden direkt nach der Schule von Nachmittags bis Abends, sowie am Samstagvormittag statt. Dazu kommen regelmäßige Konzerte. Dieses Angebot bietet den Kindern der Barrios nicht nur eine sinnvolle Beschäftigung sondern auch ganz praktisch einen Schutzraum vor Drogen, Waffen, Prostitution und Gewalt.
4. Die Kinder werden von Anfang an in Ensembles integriert. So lernen Sie, dass Musik immer ein sozialer Akt ist, das Orchester ein Ort der Gemeinsamkeit, des Respekts, und der Disziplin. Zudem lernen Sie die Freude an der Musik von früh auf kennen.
5. Jeder Schüler wird selbst zum Lehrer und gibt sein Wissen weiter. Dieses Konzept ist nicht nur eine pragmatische Lösung des Lehrermangels, sondern verstärkt ebenso die Reflektion und Vertiefung des Gelernten und stärkt das Selbstbewusstsein sowie das Verantwortungsgefühl. Alle Jugendlichen kämpfen zusammen für ein gemeinsames Ziel.
6. Das Orchestersystem ist auf Leistung ausgerichtet: „Ich verlange von meinen Kindern stets nur das Allerbeste“, so Abreu. Alle Kinder träumen davon, einmal zum berühmten Nationalorchester aufzusteigen, was ihre Motivation und ihre Bereitschaft, alles zu geben, ungleich steigert. Die Qualität des Orchesters ist wiederum ein wichtiger Anker für die internationale Bekanntheit des Systems, für den Stolz der Familie und der Gesellschaft sowie für die Verbreitung der Vision José Antonio Abreus.
7. Fehler werden grundsätzlich nicht bestraft, sondern die Kinder werden immer wieder ermutigt, das Unmögliche möglich zu machen. Das Leistungsbewusstsein hat nichts verbissenes, dafür werden Erfolge von der gesamten Gruppe gefeiert – das Orchester arbeitet stets mit einander.
In der Zusammenwirkung dieser sieben Faktoren des Modells liegt das Erfolgsgeheimnis von Abreus Konzept. Sie greifen derart gewinnbringend ineinander, dass die Realisierung der Vision anhand dieses Modells zu einer Art Selbstläufer wurde. Doch ein Modell allein, sei es noch so erfolgversprechend, schafft noch keine Veränderung – erst die Mithilfe und Unterstützung zahlreicher maßgeblicher Leute machte es Abreu möglich, seine Idee zu realisieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Abreu mit seinen Schülern
2.4.2. Die gezielte Motivation und Koordination der maßgeblichen Leute
Viele gute Visionen versanden, da die Personen, die sie hatten, es nicht geschafft haben, ihre Ideen überzeugend zu kommunizieren, andere zu begeistern und mitzureißen. Die Realisation einer Vision hängt maßgeblich davon ab, welche Personen sie mittragen.
Dabei geht es nicht nur um die Überzeugung besonderer Funktionsträger, Politiker und Parlamentarier, sondern auch um die Kinder und ihre Familien und Freunde und die venezolanische Gesellschaft als Ganzes.
Die Zielgruppe, die José Antonio Abreu als erstes überzeugt hat, waren die Schüler, denen er im Februar 1975 versprach, Geschichte zu schreiben: „Und Ihr werdet die Pioniere sein eines großen venezolanischen Projektes. Und wenn Ihr Freunde habt und deren Telefonnummern, dann ruft sofort an, denn morgen haben wir die zweite Probe.“[14] So gelang es ihm, innerhalb von wenigen Tagen über 75 Kinder zu versammeln, die vor Begeisterung kaum aufzuhalten waren und immer mehr Freunde mit zur Probe brachten. Bereits am 30. April des gleichen Jahres gründete er mit diesen Kindern das Nationale Jugendsinfonieorchester Venezuelas. Nach kurzer Zeit ging er mit dem Orchester auf Tournee und gewann auf einem Festival in Aberdeen in Schottland einen Preis.[15] Der berühmte mexikanische Komponist Carlos Chávez wurde auf das Orchester aufmerksam, unterstützte und dirigierte es. Nachdem José Antonio Abreu mit Carlos Chávez einen berühmten Künstler von dem Projekt begeistert hatte, konnte er auch die Regierung dazu bewegen, sein Orchester und seine Idee einer nationalen Jugendmusikförderung zu unterstützen, was in der Gründung der Stiftung „Fundación del Estado para el Sistema Nacional de las Orquestas Juveniles e Infantiles de Venezuela“ (FESNOJIV) gipfelte. Erstmalig in der Geschichte Venezuelas übernahm der Staat die Verantwortung für ein kulturelles Projekt.
Mit dieser Hilfe konnten wieder neue Chöre und Orchester gebildet werden. Heute arbeiten über 15.000 Mitarbeiter, sei es als Lehrer, Künstler, Pädagogen oder Koordinatoren für El Sistema. José Antonio Abreu ist es gelungen, so viele andere Menschen von seiner Vision zu überzeugen, dass sich die Bewegung wie eine Kettenreaktion vergrößert und verbreitet hat. Natürlich ist dies mit sehr harter Arbeit verbunden, die alle Mitwirkenden seit über 30 Jahren Tag für Tag investieren - Abreus Vision gibt ihnen dabei die nötige Motivation. Seine Ideen sind in Venezuela auf so viel Interesse gestoßen, dass sie heute von einer ganzen Nation getragen werden. Ilona Schmiel, Intendantin des Beethovenfestes und langjährige Freundin des Maestros, beschreibt das Phänomen folgendermaßen: „Den Musikern wird von allen Seiten Faszination und Anerkennung entgegengebracht. Es wird von allen getragen – darin liegt sein Erfolg.“[16] José Antonio Abreu eint diese Menschen und ihre Motivation, indem er in ständigem Dialog mit Ihnen steht. Für die Kinder ist er dabei Großvater, für die Lehrer Vorbild, für Politiker Partner. Eine Eigenschaft, die auch für den folgenden Punkt von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist: die Finanzierung des Projektes.
[...]
[1] Eine Erklärung folgt in Kapitel 2.1.
[2] Vgl. FESNOJIV, http://www.fesnojiv.gob.ve/en/el-sistema.html, [Stand: 03.04.2010].
[3] Vgl. Ebd.
[4] Rüdiger, 2004, S. 65.
[5] Eßer, 2003, S. 55.
[6] Rüdiger, 2004, S. 65.
[7] Abreu, zitiert nach Rüdiger, 2000, S. 41.
[8] „Es gab keine Orte zum Spielen“. Abreu, TED Talk.
[9] Rietschel. http://www.nmz.de/artikel/von-der-dynamik-eines-gelebten-traums [Stand: 26.03.2010].
[10] Abreu, zitiert nach Smaczny, 2008.
[11] Abreu, zitiert nach Smazny, 2008.
[12] Abreu, zitiert nach ebd.
[13] Alvero, 2008.
[14] Abreu, zitiert nach Schauerte, 2006, S.3.
[15] Abreu, zitiert nach Eßer, 2003, S. 1.
[16] Schmiel, 2010, S.1.