Das Redentiner Osterspiel - ein Exorzismus?


Trabajo, 1999

44 Páginas, Calificación: sehr gut


Extracto


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

Teil I Exorzismus – Besessenheit – Rituale Romanum
2. Definitionen
2.1. Exorzismus (religionswissenschaftlich)
2.2. Dämon
2.3. Teufel
2.4. Luzifer
3. Grundlagen
3.1. Stellung der Kirche im Mittelalter
3.2. Exorzismen im Alten und Neuen Testament
3.3. Exorzismen im Mittelalter
4. Der Exorzismus nach dem „Rituale Romanum“
4.1. Vorbemerkung
4.2. Vorgang der Besessenheit
4.3. Verlauf des Exorzismus
5. Wissenschaftliche Erklärungen des Besessenheit

Teil II Das mittelalterliche Drama – Passions- und Osterspiele
6.1. Definition
6.2. Die Quellen
6.3. Bildungssprache Latein vs. Volkssprache Deutsch
6.4. Die Veränderung des Spieles: aus der Kirche auf den Marktplatz
6.5. Das geistige Spiel – mehr als Unterhaltung
6.6. Der mittelalterliche Zuschauer
6.7. Passions- bzw. Osterspiele

Teil III Das Teufelsspiel im Redentiner Osterspiel – ein Exorzismus ?
1. Einleitung
2. Die Teufelsszenen
3. Aufbau des Osterspiels
3.1. Erster Hauptteil „Das Osterspiel“
3.1.1. Die Höllenfahrtsszene(n)
3.1.2. Religionswissenschaftlicher Exkurs Religion - Magie
3.1.3. Ergebnis des Exkurses bezüglich Fischer-Lichte
3.1.4. Wird in der Höllenfahrtsszene ein Exorzismus vollführt?
3.2. Zweiter Hauptteil „Das Teufelsspiel“
3.2.1. Teufelsspiel
3.2.2. Wird im Teufelsspiel ein Exorzismus vollführt?
3.3. Zusammenfassung und Ergebnisse
3.3.1. Forschungsüberblick und Kritik
3.3.1.1. Zusammenhang Exorzismus und Erlösung
3.3.2. Erlösung
3.3.2.1. Religionswissenschaftliche Definition von Erlösung
3.3.2.2. Forschungsüberblick Erlösung
3.3.3. Ergebnis
4. Ausblick
5. Bibliografie

Das Redentiner Osterspiel –

ein Exorzismus?

1. Einleitung

Exi, immunde spiritus, et da locum spiritui sancto!

(Fahre aus, Du unreiner Geist, und gib Raum dem heiligen Geist ![1])

Dies ist die älteste überlieferte kirchliche Exorzismusformel aus dem 7./8.Jahrhundert n. Chr., der vor dem Taufakt in der Regel dreimal gesprochen wurde.

Besessenheit und Exorzismus waren noch bis in das 19. Jahrhundert hinein Bestandteil der abendländisch-christlichen Alltagskultur. Besessenheit gilt heute als eine aus einem religiös-mythologischen Weltbild entstandene Interpretation von bestimmten psychischen Krankheitsbildern; Exorzismen als überholter christlicher Ritus. Aber wie war das Verhältnis zum Exorzismus im Mittelalter? Finden wir gar im Redentiner Osterspiel einen Exorzismus?

Im ersten Teil dieser Arbeit stehen grundlegende, religionswissenschaftliche Definitionen im Vordergrund, damit eine einheitliche Sprache in der Diskussion vorherrscht. Außerdem soll geklärt werden, wie der Glaube an Besessenheit in der christlich-abendländischen Kultur entstand und wie sich Besessenheit und Exorzismus im mittelalterlichen Alltag darstellten. Außerdem sollen der Verlauf einer Besessenheit und eines Exorzismus dargestellt, sowie die wissenschaftlichen Erklärungen aus heutiger Zeit für das Phänomen Besessenheit aufgezeigt werden.

Im zweiten Teil möchte ich einen kurzen Überblick über die mittelalterlichen Osterspiele geben und auf die Bedeutung bzw. den Bedeutungswandel bezüglich der Zuschauer[2] eingehen. Denn anders als Theater heute war das mittelalterliche Drama eine „dramatisch-szenische Darstellung geistlicher Stoffe, welche Belehrung bezweckt“[3].

Im dritten Teil wird dieses Wissen auf ausgewählte Szenen des Redentiner Osterspiels angewendet und es soll überprüft werden, ob dort ein Exorzismus (oder mehrere Exorzismen) vollführt werden und wie die Forschung diese wichtige Thematik behandelt hat.

Teil I Exorzismus – Besessenheit - ,,Rituale Romanum"

2. Definitionen

2.1. Exorzismus (religionswissenschaftlich):

Exorzismus (gr. „herausbeschwören“) ist die rituelle Vertreibung oder Verbannung böser Mächte oder Geister aus Personen, Lebewesen oder Gegenstände. Praktiken des Exorzismus sind in allen Kulturen und Ethnien nachweisbar und dienen der ganzheitlichen Reinigung bzw. der Heilung des Besessenheit.[4]

Besessenheit wird mit dem Wirken von Geistern, die in den Körper gefahren sind, erklärt. Besessenheit ist [...] Ausdruck einer kulturell begründeten Vorstellung, welche ungewöhnliche Erscheinungen dadurch erklärt, dass ein Geist von dem betroffenen Menschen Besitz ergriffen habe[5]

Man unterscheidet im Allgemeinen zwei Arten von Besessenheit.

Zum einen die gewollte Besessenheit durch Geister als Teil von kultischen Handlungen (z. Bsp. bei südamerikanischen Indianerstämmen). Auch im westlichen Kulturkreis ist die Praxis des Kontaktaufnehmens mit Geistern von Verstorbenen durch ein Medium in spiritistischen Kreisen durchaus üblich.

Zum anderen das gewaltsame Eindringen eines in diesem Falle bösen Geistes in den Betroffenen.

Wenn man im christlichen Kontext von Besessenheit spricht, so ist in den meisten Fällen diese zweite Erscheinungsform gemeint: Nach der christlichen Mythologie handelt es sich hierbei um Dämonen und Teufel, die von Menschen unter bestimmten Umständen Besitz ergreifen können. Zum Vertreiben der Dämonen wird ein Exorzismus vollzogen, in dessen Verlauf ein Priester den Dämonen durch einen Befehl Gottes zwingt, aus dem Körper des Besessenen zu fahren. Die notwendige Voraussetzung für Besessenheit und Exorzismus ist der Glaube an die Möglichkeit der Besessenheit beim Patienten und seiner Umwelt. Besessenheit ist im übertragenen sinn ein Theater, bei dem das Publikum mitspielt. Und so betrachtet ist der Exorzismus in gewisser Hinsicht Teil dieses Theaters[6].

Der Exorzismus setzt die Vorstellung antagonisierender Kräfte bzw. religiöse Gewalten voraus. Wer ihn ausübt, verfügt über eine besondere Begabung bzw. göttliche oder magische Macht ( Priester, Schamanen, Medizinmänner, im Kontext der jeweiligen Religion oder Kult „göttliche Menschen“).

Im Namen oder im Auftrag der überlegenen Macht wird durch bestimmte Worte (Formeln, Zaubersprüche, Gebete), Gesten (Handauflegung, Anblasen, Tanz) und bestimmten Gegenständen (Wedel, Arzneien) dem Einfluss der unliebsamen Kraft Einhalt geboten.[7]

Wenn man den Exorzismus von der pastoralen Seite betrachtet, eröffnet die Befreiung von „Bösen“ (im christlichen Kontext „Teufel“ oder „Dämon“) ein neues Leben aus göttlicher Gnade.[8]

2.2. Definition Dämon:

Der Terminus Dämon (gr. „böse Geister“) ist zuerst bei Homer (Illias 1,222; 3,420) nachweisbar. Dort bezeichnet der Terminus zunächst die gute als auch böse Gottheit, bei Sokrates (Platon, Apologie 24b) ist der „Dämon“ gar ein guter Schutzgeist.[9] Erst bei dem Platonschüler Xenokrates überwiegt der negative Aspekt des Dämonischen. Fußend auf der altjüdischen Dämonenlehre versteht das Neue Testament unter „Dämon“ ausschließlich böse Geister. In dieser Bedeutung ist der Terminus in die lateinische Vulgata als daemon bzw das Daemonium in die mittelalterliche Begriffswelt eingegangen.

Die mittelalterliche Dämonenlehre war nicht nur alttestamentliches und altjüdisches Erbe, sondern auch durch hellenistische und lateinische Kultur und dem Polytheismus der antiken Mythologie geprägt, sowie durch die Götterwelt der germanischen Stämme.[10] Zwar ist die Quellenlage sehr ungünstig, aber es scheint wissenschaftlicher Konsens, dass zwischen der Dämonenlehre der Theologen und der des Volksglaubens unterschieden werden muss. Während die erstere sich in den einschlägigen Bibelkommentaren wiederspiegelt, ist der die letztere unmittelbarer in der volkssprachlichen Literatur vorhanden; v.a. in den Epen mit religiösem Mittelpunkt (z. Bsp. Gralsage) und den Mysterienspielen vorfindbar. Eine weitere Quelle ist sicherlich die bildende Kunst der Romantik und der Gotik, als Skulpturenschmuck von Kirchen oder Gemälden und Zeichnungen religiösen Inhalts.[11]

2.3. Definition Teufel:

Der deutsche Terminus „Teufel“ stammt vom griechischen „diabolos“, welches Wiederum eine Übersetzung des althebräischen Wortes „Satan“ (= Wiedersacher). Dies erklärt die parallele Verwendung der Begriffe „Teufel“ und „Satan“.[12]

Religionsgeschichtlich ist der Begriff des Teufels nur schwer fassbar, da er in der Offenbarungsreligion gründet. Zwar ist in allen Religionen der Gegensatz Gut-Böse vorhanden, doch entspricht dem höchsten Wesen (Gott) der Teufel selten als adäquater Gegenspieler. In allen Religionen tritt jedoch der Glaube an eine böse Macht auf (personalisiert in „Dämonen“), die das Schicksal von Menschen beeinflussen. Krankheit, Tod und Besessenheit gelten als ihr Werk.[13]

In Neuen Testament gilt der Teufel als direkter Gegenspieler Jesus Christus, aber er wird durch dessen Dämonenaustreibung seines Einflusses beraubt. Der Teufel ist hierbei in die Schöpfungswelt einbezogen als personaler, aber unterlegener Widersacher Gottes und dem Gottessohn.[14]

In der Kirchenlehre wird der Teufel („diabolus“) oft stillschweigend als eine Art Haupt der Dämonen vorausgesetzt.

Im Mittelalter herrscht der Glaube vor, dass der Teufel sichtbar wird in Tiergestalt (Wolf, Schwein, Drachen, schwarzer Hund u.a.), aber auch als Mensch. Sei es als Mann mit Bocks- oder Pferdefuß, mit Vogelkrallen, Flügeln, Schwanz und Hörnern, sei es in der Gestalt eines schön gekleideten Jünglings oder einer verführerischen Frau, den erotisches Versuchungen und sexuell-sittliche Fehltritte wurden auf teuflischen Einfluss zurückgeführt.[15]

2.4. Definition Luzifer

Der (namenlose) Teufel und Luzifer werden oft als eine Person/Figur gesehen und so wird in der kulturgeschichtlichen Überlieferung oft keine Unterscheidung getroffen. Gemäß den apokryphen Quellen, die im Mittelalter eine weite Verbreitung hatten, ist Luzifer der von Gott abgefallene oberste Engel („Luzifer“ bedeutet in der Übersetzung „Lichtträger“).[16] Er ist ein von Gott geschaffener und somit ihm unterlegener Widersacher.

3. Grundlagen

3.1. Die Stellung der Kirche im Mittelalter

Neben den Schrecken der Kriege boten auch Friedenszeiten der Bevölkerung keine Sicherheit. Basierend auf Gewohnheitsrechten übten die Herrschenden ihre Macht nach eigenem Gutdünken aus. Es existierte kein einheitliches Strafgesetz und selbst für geringere Vergehen wurden drakonische Strafen verhängt. Vielerorts drohte beispielsweise bei Diebstahl, Ehebruch oder Gotteslästerung die Todesstrafe. Es existierte keine Polizei im heutigen Sinne, es gab somit auch keine Tatbestandsermittlung, als Beweise für Verbrechen galten Geständnisse, die den Tatverdächtigen häufig durch Folter aufgezwungen wurden, was auch heute noch als düsteres Kapitel für das „Dunkle Mittelalter“ steht.

In dieser Zeit der Willkür und der fehlenden Organisation in allen Lebensbereichen kam der Kirche eine herausragende Bedeutung zu.

Religiosität und die Kirche als Repräsentant dieser Religiosität durchdrangen den gesamten Alltag. So waren alle wichtigen Ereignisse des eigenen Lebens, von der Namengebung über die Eheschließung, die Testamentsverfassung bis hin zur Beerdigung religiöse Akte. Allerdings war das Verständnis für diese religiösen Bräuche und die nach wie vor in Latein gehaltenen Messen gerade in der Landbevölkerung kaum vorhanden. Es zählte weniger die Botschaft des christlichen Glaubens, als vielmehr seine spirituellen und magischen Momente. In deren Vermischung mit Elementen des Volksglaubens trieb die Religiosität eigenartige Blüten. Angst und Unheil abwendende Formeln oder Psalme hatten eine wichtige Bedeutung, Visionen vom Teufel, von Heiligen oder Marienerscheinungen wurden häufig verbreitet, fast täglich gab es Berichte von seltsamen Zeichen und Wundern, die Gottes Wirken zeigten oder das Jüngste Gericht ankündigten (der mittelalterliche Mensch lebte in einer sogenannten „Naherwartung“) Auch eine intensive Heiligenverehrung und Wallfahrten nahmen eine feste Stelle im Leben der Menschen ein.

Cécile Ernst berichtet in ihrem Buch ,,Teufelsaustreibungen" beispielsweise davon, dass sich in der Nähe von Konstanz plötzlich die Fundstelle einer unbekannten Wasserleiche zu einem Wallfahrtsort entwickelte, was das Einschreiten des zuständigen Bischofs provozierte, der die Wallfahrt zu diesem Ort verbot5[17] Dieses Ereignis macht auch deutlich, dass die sich im Alltag manifestierende Religiosität mit der offiziellen christlichen Lehre oftmals wenig zu tun hatte, ja sogar von dieser unterbunden wurde. Trotzdem besaß die Kirche in einer Zeit, in der die Weltanschauung, ja quasi das gesamte Leben religiös dominiert war, eine herausragende, sinnstiftende Stellung.

3.2. Exorzismen im Alten und Neuen Testament:

Der christliche Glauben basiert auf dem Judentum. Da beides monotheistische Religionen sind, ist die Existenz von weiteren übernatürlichen Wesen eigentlich nicht in den Glaubensgrundsätzen verankert. Der Glaube an Engel und Teufel entstand im Judentum durch den Kontakt mit dem chaldäisch-iranischen Glauben während der babylonischen Gefangenschaft im 6. Jahrhundert v.Chr. Im Zuge dieses Kulturtransfers finden auch antidämonische Riten Eingang in den jüdischen Glauben. In der Folge schwindet immer mehr [...] die altisraelitische Scheu vor dem Exorzismus, in hellenistischer Zeit sind Juden gesuchte Exorzisten.[18] So befinden sich auch bereits im Alten Testament vereinzelt Exorzismusformeln, wenngleich diese nicht spezifisch auf das Heilen Besessener angelegt sind, sondern böse Geister im Zusammenhang mit Krieg, Segen und Fluch, Krankenheilungen, Totenauferweckungen und dem Streben nach ritueller Reinheit vertreiben sollen. Diese Idee des Exorzismus sollte sich aber bis zum Mittelalter noch gründlich wandeln.

Im Neuen Testament wird der Glaube an Dämonen und an den Exorzismus zementiert. In den Evangelien wird häufig berichtet, dass Jesus Exorzismen vornimmt. Neben den eigentlich Besessenen werden auch Krankheiten / Behinderungen wie Blindheit, Stummheit, Lähmung, Aussatz und Fieber durch einen Exorzismus geheilt. Der Hintergrund hierfür ist der Glaube daran, dass auch die meisten körperlichen Leiden ihren Ursprung im Wirken eines Krankheitsdämons haben. Der bekannteste neutestamentarische Exorzismus ist der des besessenen Gadareners (Mk.5, 1-20) durch Jesus, der eine Art Archetyp des Exorzismus darstellt. Er ist prägend für die Tradition des Exorzismus in der christlich-abendländischen Kultur. Die Austreibung erfolgt durch die Namensnennung der Dämonen, ihre Bedrohung und den Befehl zur Ausfahrt im Namen Gottes durch den Exorzisten.

Diese Grundelemente des Exorzismus sind bis heute (!) Bestandteil der Lehre der katholischen Kirche und so auch im Rituale Romanum von 1614 schriftlich festgelegt. Sie wurden allerdings im Laufe der Jahrhunderte immer weiter ergänzt und spezifiziert. Genügte in der direkten Folgezeit nach Jesus Tod noch ein einfacher Befehl im Namen Christi an die Dämonen, um sie zum Ausfahren zu zwingen, so entwickelten sich schon in der christlichen Urgemeinde sekundäre Hilfsmittel zur Zurückdrängung von bösen Mächten und Gewalten. Zu diesen gehörten Rituale wie Segnungen, Fasten und Exorzismusformeln, oder auch das „An- bzw. Ausblasens“ eines Dämons, sowie geweihte und heilige Gegenstände (wie Reliquien, Weihwasser, Weihrauch, geweihtes Salz oder Hostien). Hatte zunächst noch jeder Christ durch seine Taufe, die im übrigen auch ein exorzistisches Ritual darstellte, die Macht, im Namen Christi einen Exorzismus durchzuführen, so wurde der Exorzismus im 3.Jahrhundert durch die Schaffung eines „Exorzistenamts“ innerhalb der Kirche institutionalisiert durch immer weitergehende Reglementierung und Spezifizierung.[19]

3.3. Exorzismus im Mittelalter

In der mittelalterlichen Kirche gewinnen der altertümliche Teufels- und Dämonenglauben und exorzistische Praktiken stark an Bedeutung. Es wird ein spezielles Wissen zur Teufelsaustreibung vorausgesetzt, da die Exorzismen im Lauf der Jahrhunderte immer komplizierter werden. Es etablieren sich Rituale, die unter der Verwendung von komplexen Formeln sowie Reliquien und Materialien wie Weihwasser, geweihtes Öl, Brot oder Salz[20] vonstatten gehen. Somit erhält sich die Kirche ihr Exorzismus-Monopol, da sie als einzige Institution das (von ihr selbst) geforderte Wissen vermitteln kann. Die damit verbundene Deutungshoheit ist für die Sicherung der kirchlichen Macht überaus wichtig, da der Vorwurf der Besessenheit immer häufiger auch gegen ,,Heiden" und Verbreiter christlicher ,,Irrlehren", also sogenannte ,,Ketzer" erhoben wird. Eine thematische Auseinandersetzung wird so mit dem Verweis auf das Wirken böser Mächte unterbunden, Abweichler vom Glaubenskonsens können unter Druck gesetzt werden, da der Vorwurf von Besessenheit und ein anschließender Exorzismus durchaus in folterähnliche Situationen ausarten kann.

Die in 3.1. beschriebenen Lebensbedingungen und das weltanschauliche Gemisch aus Christentum und Volksglaube war ein Hauptgrund für das gehäufte Auftreten von Besessenheit und Exorzismen im Mittelalter. Die Menschen lebten in einer Welt ohne Organisation zum Schutz gegen Tod, Krankheit, sozialen Abstieg und Willkür. Es gab gerade für die einfache Landbevölkerung keine Perspektiven und positiven Zukunftsaussichten, ihr Leben wurde stark von Unzufriedenheit und Leid geprägt und gerade dies kann zu Hysterien führen, die allgemein als Haupterklärung für das Phänomen Besessenheit gelten (siehe Kapitel 5: Wissenschaftliche Erklärungen der Besessenheit aus heutiger Sicht) . Der Leidende wandte sich direkt an seine Umwelt und demonstrierte seine Not. Er wurde hysterisch. Je weniger Organisation sich zwischen die Menschen stellt, je direkter, spontaner, distanzloser und unberechenbarer ihre Beziehungen zueinander sind, desto häufiger werden Hysterien auftreten. Die diffuse Wahrnehmung von Leid und Unzufriedenheit, gepaart mit der Unfähigkeit diese zu analysieren und zu kommunizieren konnte also zu hysterischen Ausbrüchen führen. Und das um so mehr, als eine als Besessenheit gedeutete Hysterie dem Betroffenen einen Ausweg aus seiner unbefriedigenden, die Hysterie auslösenden Situation bieten konnte. Denn Exorzismen waren dramatische Ereignisse, die ganze Kirche füllen konnten. Ein Exorzismus bot große Unterhaltung, der Besessene spielte die Hauptrolle im Schauspiel Exorzismus und konnte so aus der Bedeutungslosigkeit ausbrechen. Dass bei großen Exorzismen häufig weltliche und geistliche Prominenz anwesend war, tat dabei sein übriges[21].

Aber nicht nur Besessene nutzten die große Öffentlichkeit eines Exorzismus aus, auch die Kirche wusste diese zu nutzen. So bedeutete ein stattfindender Exorzismus meistens eine stark besuchte Kirche, in welcher sich die gut unterhaltenen Besucher häufig zu größeren Spenden hinreißen ließen. Ein Exorzismus war ein Spektakel mit einem hohen Schauwert, den auch Betrüger zu nutzen versuchten. Natürlich ging die Kirche gegen diese Form des Missbrauchs der kirchlichen Riten vor, forcierte aber andererseits den Besessenheits- und Hexenwahn, um das eigene Weltbild zu verteidigen. Wie bereits erwähnt weitete sie den Besessenheitsvorwurf auch auf Abweichler und Kriminelle aus. Diese wurden dann teilweise unter der Verwendung von Gewalt und Folter `exorziert', was auf Gleichgesinnte durchaus abschreckend gewirkt haben dürfte.

Exorzismen gehörte also fast schon zur Alltagskultur. Daneben bot sie neben ihrer Instrumentalisierung für persönliche und politische Zwecke die Möglichkeit der Schuldzuschreibung für das Böse, für das Unglück, für den unverschuldeten Schicksalsschlag und für alles Bedrohliche und Unerklärliche[22].

4. Der Exorzismus nach dem ,,Rituale Romanum"

4.1. Vorbemerkung

Wie bereits dargestellt, war das Ritual des Exorzismus in der christlich-abendländischen Kultur einem ständigen Wandel unterzogen. Hatte in der Urkirche noch jeder Christ das Recht, im Namen Christi zu exorzieren, so entstand im 3. Jahrhundert das Exorzistenamt. In der darauffolgenden Zeit wurde die Ausführung des Exorzismus immer komplexer. Es entstanden Formeln und Rituale, die aber erst im ,,Rituale Romanum" vereinheitlicht und schriftlich fixiert wurden. Das ,,Rituale Romanum" ist das für die gesamten katholische Kirche grundlegende liturgische Handbuch, welches die wichtigsten Riten, darunter eben auch den Exorzismus, formal festlegte und schriftlich fixierte. Obwohl es erst 1614 durch Papst Paul V. der Öffentlichkeit übergeben würde, liefert es doch auch für die Analyse des Redentiner Osterspiels wichtige Informationen, zumal anzunehmen ist, dass das Wissen um Exorzismus über Jahrhunderte entwickelt wurde und somit auch für die Entstehungszeit des Redentiner Osterspiels eine gewisse Gültigkeit besitzt.

4.2. Vorgang der Besessenheit

Nach dem ,,Rituale Romanum" nimmt eine Besessenheit immer einen bestimmten Verlauf. Der richtigen Besessenheit vorgelagert ist der Zustand der Umsitzung oder Umsessenheit (,,Circumsessio"). Hierbei wird das Opfer von den Dämonen belagert, die auf einen günstigen Zeitpunkt zur Einfahrt warten. Der Betroffene leidet dann häufig unter Halluzinationen, handfestere `Belästigungen' schließen sich manchmal an: Die Opfer fühlen sich körperlich attackiert, verletzt und geschwächt.[23]

Weitere mögliche Symptome der Umsessenheit sind Verhaltensstörungen, extreme Stimmungsschwankungen und Depressionen, außerdem kann der Betroffene Leidtragender unglücklicher „Zufälle“ sein.

[...]


[1] aus Artikel „Exorzismus“ Theologische Realenzyklopädie. Band VIII. 1981, Walter de Gruyter Verlag.

[2] „Zuschauer“ beinhaltet selbstverständlich auch die weiblichen Zuschauerinnen (aus stilistischen und softwaretechnischen Gründen werde ich aber jeweils nur die männliche Form verwenden)

[3] Carla Dauven- van Knippenberg: ,,Ein Anfang ohne Ende: Einführendes zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Predigt und geistlichem Schauspiel des Mittelalters". In: Mittelalterliches Schauspiel. Festschrift für Hansjürgen Linke zum 65. Geburtstag; hrsg. Von U.Mehler & A.H. Touber, Amsterdam, 1994, S.151

[4] Artikel „Exorzismus“ in Lexikon für Theologie und Kirche: Dritter Band. 1995, Herder.

[5] Pfeiffer: Besessenheit, normalpsychologisch und pathologisch (1972), S.25

[6] www.shpinx-suche.ch/besessen.htm

[7] Artikel „Exorzismus“ in Lexikon für Theologie und Kirche: Dritter Band. 1995, Herder

[8] Artikel „Exorzismus“ in Lexikon für Theologie und Kirche: Dritter Band. 1995, Herder

[9] Artikel „Dämonen“ in Theologische Realenzyklopädie. Band VIII. 1981, Walter de Gruyter.

[10] Artikel „Dämonen“ in Theologische Realenzyklopädie. Band VIII. 1981, Walter de Gruyter

[11] Artikel „Dämonen“ in Theologische Realenzyklopädie. Band VIII. 1981, Walter de Gruyter

[12] Friedrich Heuss: Biblische Taschenkonkordanz. 1978, Teflos Verlag.

[13] Artikel „Teufel“ in Lexikon für Theologie und Kirche. Zehnter Band. 1966, Verlag Herder.

[14] Artikel „Teufel“ in Lexikon für Theologie und Kirche. Zehnter Band. 1966, Verlag Herder

[15] Artikel „Teufel“ in Lexikon für Theologie und Kirche. Zehnter Band. 1966, Verlag Herder

[16] Artikel „Teufel“ in Wörterbuch des Christentums. 1996, Orbis Verlag.

[17] Cécil Ernst: Teufelsaustreibung.

[18] Theologische Realenyzklopädie Bd.10 (1982), S.748

[19] Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S.16

[20] Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1987), S.1106f.

[21] Ernst: Teufelsaustreibungen (1972), S. 27f

[22] v. Baeyer-Katte: Das Theorem von der Besessenheit als Symbol für gesellschaftliche Aktionsmuster (1972), S.57.

[23] www.psi-infos.de/hauptteil_besessenheit_und_exorzismus_-_.html

Final del extracto de 44 páginas

Detalles

Título
Das Redentiner Osterspiel - ein Exorzismus?
Universidad
LMU Munich  (Deutsche Philologie)
Curso
Osterspiele
Calificación
sehr gut
Autor
Año
1999
Páginas
44
No. de catálogo
V15391
ISBN (Ebook)
9783638205115
Tamaño de fichero
668 KB
Idioma
Alemán
Notas
Diese Arbeit deckt viele Themata ab: das Redentiner Osterspiel - Bessessenheit im Mittelalter, Exorzismus - Besessenheit - Rituale Romanum - Das mittelalterliche Drama - Passions- und Osterspiele - Das Teufelsspiel im Redentiner Osterspiel - ein Exorzismus ?
Palabras clave
Redentiner, Osterspiel, Exorzismus, Osterspiele
Citar trabajo
M.A. Nadine Elisabeth Müller (Autor), 1999, Das Redentiner Osterspiel - ein Exorzismus?, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15391

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