Die Entwicklung von Jugendgewalt in Deutschland unter Berücksichtigung der Ethnisierungsdebatte

Sowie ursächlicher Entstehungsfaktoren und Maßnahmen der Prävention und Intervention


Diplomarbeit, 2010

162 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1. Methodische Anmerkung

2. Entwicklung von Jugendgewalt im Zeitverlauf
2.1 Die Polizeiliche Kriminalstatistik
2.2 Quantitative Entwicklung von Jugendgewalt
2.2.1 Quantitative Entwicklung von Jugendgewalt im Hellfeld
2.2.2 Verzerrungsfaktoren im Hellfeld
2.2.3 Quantitative Entwicklung von Jugendgewalt im Dunkelfeld
2.2.4 Interviewergebnisse bezüglich der quantitativen Entwicklung
2.3 Gewalttäteranteil unter Jugendlichen – aktuelle Befunde aus Hell- und Dunkelfeld
2.4 Qualitative Entwicklung von Jugendgewalt
2.5 Interviewergebnisse bezüglich der qualitativen Entwicklung
2.6 Zusammenfassung

3. Die Ethnisierung von Jugendgewalt
3.1 Vergleich der Gewaltbelastung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und deutschen Jugendlichen in Hell- und Dunkelfeld
3.2 Interviewergebnisse hinsichtlich der Gewaltbelastung von deutschen Jugendlichen und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
3.3 Zusammenfassung

4. Ursachen von Jugendgewalt
4.1 Allgemeine theoretische Erklärungsansätze
4.1.1 Erklärungsansätze auf individueller Ebene
4.1.2 Erklärungsansätze auf gesellschaftlicher Ebene
4.1.3 Das Zusammenspiel vielfältiger Faktoren bei der Entstehung von Gewalt
4.2 Theoretische Ansätze zur Erklärung der Gewaltbelastung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund
4.3 Zusammenfassung

5. Prävention und Intervention
5.1 Präventionsmöglichkeiten
5.2 Interventionsmöglichkeiten im Rahmen des Jugendstrafrechts
5.3 Jugendhaft, härtere Jugendstrafen und „Warnschussarrest“ – effektives Mittel zur Bekämpfung der Jugendgewalt?
5.4 Zusammenfassung

6. Zusammenfassung / Resümee

Literaturverzeichnis

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Tatverdächtigenzahlen der Gewaltkriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden 1987 – 2008

Abbildung 2: Tatverdächtigenzahlen für Körperverletzungsdelikte bei Jugendlichen und Heranwachsenden 1987 - 2008

Abbildung 3: TVBZ für Gewaltkriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden 1987 - 2008

Abbildung 4: TVBZ für gefährliche und schwere Körperverletzung 1987 – 2008

Abbildung 5: TVBZ für Körperverletzungsdelikte bei Jugendlichen und Heranwachsenden 1987 - 2008

Abbildung 6: TVBZ und VZ Jugendlicher bei Gewaltkriminalität im Vergleich 1993 – 2006

Abbildung 7: Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung von Mansel und Hurrelmann aus den Jahren 1988 und 1996, für selbstberichtete Körperverletzungsdelikte der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung 8: Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung von Mansel und Hurrelmann aus den Jahren 1988 und 1996 im Vergleich, für selbstberichtete Gewalthandlungen der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung 9: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 1998/99 und 2005-2008 im Vergleich; selbstberichtete Gewaltdelikte der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung 10: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 1998/99 und 2005-2008 im Vergleich; selbstberichtete Körperverletzungsdelikte (Angaben in %)

Abbildung 11: Entwicklung der gemeldeten Raufunfälle an Schulen je 1000 versicherte Schüler 1993 – 2007

Abbildung 12: Ergebnisse der Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie 2000 – 2005 im Vergleich; selbstberichtete Gewaltdelikte der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung 13: Ergebnisse der Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie 2000 – 2005 im Vergleich; selbstberichtete schwere Gewaltdelikte der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung 14: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 1998/99 und 2005-2008 im Vergleich; Entwicklung der Mehrfach-Gewalttäterschaft in acht deutschen Städten (Angaben in %)

Abbildung 15: Entwicklung der gemeldeten Frakturen infolge von Raufereien an Schulen je 1000 versicherte Schüler 1993 – 2006

Abbildung 16: Bevölkerungsanteil und Tatverdächtigenanteil Jugendlicher im Vergleich bei Körperverletzungsdelikten 2008 (Angaben in %)

Abbildung 17: Bevölkerungsanteil und Tatverdächtigenanteil Heranwachsender im Vergleich bei Körperverletzungsdelikten 2008 (Angaben in %)

Abbildung 18: Bevölkerungsanteil und Tatverdächtigenanteil Jugendlicher im Vergleich bei Gewaltkriminalität 2008 (Angaben in %)

Abbildung 19: Bevölkerungsanteil und Tatverdächtigenanteil Heranwachsender im Vergleich bei Gewaltkriminalität 2008 (Angaben in %)

Abbildung 20: TVBZ deutscher und nichtdeutscher Jugendlicher im Vergleich bei Gewaltdelikten 1993 – 2007 (Daten nur für Westdeutschland)

Abbildung 21: Ergebnisse der Längsschnittstudie von Mansel und Hurrelmann aus dem Jahr 1988, hinsichtlich selbstberichteter Gewaltdelikte der vergangenen 12 Monate nach Nationalität (Angaben in %)

Abbildung 22: Ergebnisse der Längsschnittstudie von Mansel und Hurrelmann aus dem Jahr 1996, hinsichtlich selbstberichteter Gewaltdelikte nach Nationalität (Angaben in %)

Abbildung 23: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 2005 für personale Gewalt nach ausgewählten ethnischen Gruppen (Angaben in %)

Abbildung 24: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 2005 für selbstberichtete Körperverletzung nach ethnischen Gruppen (Angaben in %)

Abbildung 25: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 2007/2008 für selbstberichtete Körperverletzungsdelikte der vergangenen 12 Monate nach ethnischen Gruppen (Angaben in %)

Abbildung 26: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 2007/2008 für selbstberichtete Gewaltdelikte der vergangenen 12 Monate nach ethnischen Gruppen (Angaben in %)

Abbildung 27: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 2007/2008; Mehrfachtäterraten bei Gewaltdelikten nach Ethnie (Angaben in %)

Abbildung 28: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 2007/2008; selbstberichtete schwere Gewaltdelikte nach Ethnie (Angaben in %)

Abbildung 29: Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 2007/2008; selbstberichtete schwere Körperverletzungsdelikte der vergangenen 12 Monate nach Ethnie (Angaben in %)

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

„ "Scheiß Deutscher“! Sie pöbelten, prügelten, ein Messer wurde gezückt, dann das Opfer bestohlen: Am Hauptbahnhof Gelsenkirchen ist es erneut zu einer Attacke junger Ausländer auf einen Mann gekommen - CDU und CSU verschärfen ihre Forderungen, Gewalttäter abzuschieben.

Hamburg – Rund eine Woche nach dem U-Bahn-Überfall auf einen Münchner Rentner hat sich am Gelsenkirchener Hauptbahnhof eine ähnliche Attacke ereignet. Nach einem Streit wurde ein 38 Jahre alter Mann am Freitagabend nach eigener Aussage von mehreren jungen Ausländern als "Scheiß Deutscher" bezeichnet, bestohlen und mit einem Messer und Tritten verletzt. Streitgrund laut Polizei: Der Mann habe die Begleiterin des Tatverdächtigen angeblich zu lange angeschaut.

Der 38-Jährige erlitt demnach Prellungen am Kopf und eine Schnittwunde am Ringfinger. Der Hauptverdächtige soll etwa 18 Jahre alt sein. Die beiden seien vor einem Geschäft im Bahnhof aneinandergeraten.

Der Fall erinnert an den Übergriff eines 20-jährigen Türken und eines 17-jährigen Griechen auf einen Rentner in einer Münchner U-Bahn-Station vor einer Woche. Sie hatten den 76-Jährigen fast totgeprügelt und dabei per Handy Freunden zugerufen: "Jetzt wirst du gerade Zeuge, wie ich einen Deutschen umbringe!" Die Attacke provozierte die Union zu Forderungen nach schärferen Strafen für jugendliche ausländische Gewalttäter. (…) Kriminelle Jugendliche bräuchten "kein Multikulti-Gesäusel, sondern einen Warnschuss". Sie sollten bei einer Bewährungsstrafe in kurzfristigen "Warnarrest" genommen werden. "Für harte Fälle müssen Erziehungs-Camps eingerichtet werden, geschlossene Einrichtungen mit therapeutischem Gesamtkonzept (…)“

(Spiegel Online 2007)

Beim lesen des oben angeführten Zeitungsartikels aus dem Magazin „Der Spiegel“, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Jugendliche in der heutigen Zeit gewalttätiger und brutaler denn je sind. Schenkt man allein der Berichterstattung der Medien Glauben, so zeichnet sich das Bild einer immer gewalttätiger werdenden Jugend ab. Doch sind Jugendliche in Deutschland heutzutage wirklich gewalttätiger als vorherige Generationen?

Um diese Frage klären zu können, soll zunächst die Relevanz der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) als Datenquelle im sogenannten Hellfeld verdeutlicht werden. Anschließend wird anhand von Daten der PKS, sowie der Verurteiltenstatistik die Entwicklung von Jugendgewalt im Hellfeld dargestellt. Doch sind Hellfelddaten alleine eine valide Datenquelle, um die Entwicklung von Jugendgewalt realistisch darzustellen oder existieren Faktoren, die deren Aussagekraft, allem voran die der PKS einschränken? Zusätzlich werden daher auch Befunde ausgewählter Dunkelfeldstudien zum Thema Jugendgewalt aufgezeigt und mit den Daten der Hellfeldforschung verglichen. Ergänzend sollen außerdem die Interviewergebnisse bezüglich der quantitativen Entwicklung von Jugendgewalt präsentiert werden.

Des Weiteren wäre es interessant zu erfahren, wie viel Prozent der Jugendlichen überhaupt Gewalt anwenden. Anhand von aktuellen Daten aus Hell- und Dunkelfeld soll daher geklärt werden, wie hoch der Gewalttäteranteil unter Jugendlichen in Deutschland ausfällt.

Da in der öffentlichen Diskussion über Jugendgewalt vermehrt das brutale Vorgehen von Jugendlichen Gewalttätern im Vordergrund steht, wird im weiteren Verlauf der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Qualität von Gewalttaten verändert hat. Ist die Hemmschwelle bei Jugendlichen gesunken und die Brutalität bei der Vorgehensweise gestiegen? Auch diesbezüglich sollen die Ergebnisse der durchgeführten Interviews den Forschungsbefunden gegenübergestellt werden.

Zudem rückt vermehrt die ethnische Herkunft jugendlicher Gewalttäter in den Fokus der medialen Berichterstattung, sodass sich die Frage stellt, ob es eine zunehmende Ethnisierung der Jugendgewalt in Deutschland gibt? Ist Jugendgewalt aber wirklich ein ethnisches Problem? In diesem Zusammenhang soll zunächst überprüft werden, ob Jugendliche mit Migrationshintergrund tatsächlich gewalttätiger als deutsche Jugendliche sind. Zur Klärung dieser Frage werden erneut Befunde aus Hell- und Dunkelfeld gegenübergestellt. Ergänzend sollen auch hier die Ergebnisse der Experteninterviews Berücksichtigung finden.

Im Folgenden werden die allgemeinen Ursachen von Jugendgewalt hinterfragt. Anhand von unterschiedlichen theoretischen Erklärungsansätzen sollen mögliche Gründe, bzw. Auslöser für gewalttätiges Handeln bei Jugendlichen dargestellt werden. Dabei werden sowohl von der individuellen Ebene ausgehende Ansätze berücksichtigt, als auch solche, die gesellschaftliche Aspekte bei der Entstehung von Gewalt mit einbeziehen. In diesem Zusammenhang wäre es zudem interessant zu erfahren, ob theoretische Erklärungsansätze existieren, die speziell auf die Gewaltbelastung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund eingehen.

Abschließend soll diskutiert werden, welche Präventions- und Interventionsmaßnahmen geeignet sind, um Jugendgewalt wirkungsvoll zu bekämpfen. Da unter anderem viele hochrangige Politiker härtere Strafen oder sogar „Erziehungscamps“, bzw. einen so genannten „Warnschussarrest“ für jugendliche Gewalttäter fordern, stellt sich außerdem die Frage, ob derartige Maßnahmen tatsächlich ein geeignetes Mittel zur Eindämmung von Jugendgewalt sind?

1. Methodische Anmerkung

Methodisch wird die Arbeit durch vier Experteninterviews ergänzt. Die Interviews sollen inhaltlich mit in den Text einfließen und somit als zusätzliche Quelle zu Fachliteratur und Fachzeitschriften dienen. Eine Liste der Interviewpartner mit Kurzbeschreibung zur Person ist im Anhang beigefügt.

Hauptsächlich stützt sich die Arbeit jedoch auf statistische Daten aus Hell- und Dunkelfeld. Dies sind im Bereich des Hellfelds die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) und die darin aufgeführten Tatverdächtigenbelastungszahlen, sowie die Verurteiltenziffern der Verurteiltenstatistik des Statistischen Bundesamts für Jugendliche und Heranwachsende.

Der Begriff „Jugendlicher“ wird im Hellfeld als Person ab 14 bis unter 18 Jahren definiert. Mit berücksichtigt werden ebenfalls „Heranwachsende“, da diese in einem Strafverfahren noch nach Jugendstrafrecht verurteilt werden können. Als „Heranwachsende“ werden alle Personen ab 18 bis unter 21 Jahren definiert, als „Erwachsene“ alle Personen ab 21 Jahren. Grundlage hierfür sind die Altersdefinitionen der PKS.

Im Bereich der Dunkelfeldforschung gibt es zahlreiche Untersuchungen zum Thema Jugendgewalt im Rahmen von Täter- und Opferbefragungen. Hauptsächlich sollen jedoch Ergebnisse ausgewählter Dunkelfeldstudien zur selbstberichteten Delinquenz Jugendlicher im Vordergrund stehen. Primär sind dies die aktuellen Forschungsergebnisse des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). Aber auch die Ergebnisse anderer ausgewählter Dunkelfeldstudien zum Thema Jugendgewalt sollen berücksichtigt werden. Dies sind die Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie zum Thema Jugendkriminalität und Jugendgewalt, die Ergebnisse der aktuellen Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2006, die Querschnittstudie von Christian Babka von Gostomski im Rahmen des IKG Jugendpanel 2001, sowie die Längsschnittstudie von Mansel und Hurrelmann aus den Jahren 1988 und 1996. In Dunkelfeldstudien zum Thema Jugendgewalt ist die Operationalisierung des Begriffs „Jugendlicher“ im Gegensatz zum Hellfeld nicht einheitlich definiert, da im Rahmen der Studien Schüler unterschiedlicher Jahrgangsstufen befragt wurden.

Der Zeitraum, in welchem die Entwicklung von Jugendgewalt in Deutschland dargestellt werden soll, beschränkt sich aus Gründen der Verfügbarkeit von statistischem Datenmaterial im Hellfeld auf den Zeitraum von Ende der 1980er Jahre bis in die Gegenwart. Die Befunde der Dunkelfeldstudien beziehen sich ebenfalls auf den besagten Zeitraum. Hierdurch besteht die Möglichkeit, die Entwicklung von Jugendgewalt im Hell- und Dunkelfeld miteinander zu vergleichen.

Der Begriff Jugendgewalt wird im Rahmen dieser Diplomarbeit ausschließlich als physische Gewalt definiert. Hierzu zählen Körperverletzungsdelikte, sowie Gewaltkriminalität. Unter Gewaltkriminalität werden folgende Straftaten subsumiert: Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme und Angriff auf Luft- und Seeverkehr (Bundeskriminalamt Wiesbaden 2007, S.16)

Hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Gewaltbelastung von deutschen Jugendlichen und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist zu klären, wie „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ überhaupt definiert werden. Laut Definition des Statistischen Bundesamts werden „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ (Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008, S.9) unter der Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2008, S.9) zusammengefasst. Jedoch gilt es zu berücksichtigen, dass keine einheitliche Definition der Bezeichnung „Jugendlicher mit Migrationshintergrund“ existiert. Daher tritt bei der Vergleichbarkeit der Daten verschiedener Dunkelfeldstudien das Problem auf, dass im Rahmen der Studien „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ unterschiedlich operationalisiert werden. In der PKS wird hingegen nicht der Migrationshintergrund erfasst, sodass nur die Daten von deutschen und nichtdeutschen Tatverdächtigen gegenübergestellt werden können. Im Verlauf dieser Diplomarbeit wird zusätzlich zu der Bezeichnung „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ der Begriff „junge Migranten“ verwendet, welcher jedoch die gleiche Bedeutung besitzt.

2. Entwicklung von Jugendgewalt im Zeitverlauf

2.1 Die Polizeiliche Kriminalstatistik

Bei der Beantwortung der Frage, ob Jugendliche heutzutage gewalttätiger sind als zu früheren Zeiten, kann der subjektive Eindruck täuschen und muss keineswegs mit der tatsächlichen Entwicklung übereinstimmen. Daher ist es hinsichtlich der quantitativen Entwicklung von Gewalttaten erforderlich „präzise Quellen“ zu verwenden (vgl. Mansel/Hurrelmann 1998, S.79). Möchte man die quantitative Entwicklung von Jugendgewalt[1] über einen längeren Zeitraum verfolgen, bietet die PKS[2] als einzige Statistik entsprechendes Datenmaterial (vgl. Baier et al. 2009, S.19). Sie basiert auf sogenannten Hellfelddaten, d.h. sie erfasst alle Tatverdächtigen einer Straftat, die bei der Polizei angezeigt werden und gegen die hinreichender Tatverdacht besteht (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.9). Die Daten der PKS beziehen sich auf das gesamte Bundesgebiet und enthalten Angaben über „Art und Zahl der erfassten Straftaten, Tatort und Tatzeit, Opfer und Schäden, Aufklärungsergebnisse, sowie Alter, Geschlecht, Nationalität und andere Merkmale der Tatverdächtigen“ (Bundesministerium des Innern 2008, S. 2f).

Die Erfassung aller bekannt gewordenen Straftaten in Deutschland erfolgt zunächst in einer bundeseinheitlichen „Ausgangsstatistik“. Die Daten werden nach Abschluss der Ermittlungen vonseiten der Polizei erfasst, bei den Landeskriminalämtern gesammelt und in „tabellarischer Form“ an das Bundeskriminalamt (BKA) übermittelt. Die Erfassung einer Straftat erfolgt dabei noch vor der Abgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft oder das Gericht. Das BKA fasst die übermittelten Daten dann für die PKS zusammen (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden 2008, S.9).

Jeder erfassten Straftat in der PKS ist dabei eine Schlüsselzahl zugeordnet. Die Erfassung eines Tatverdächtigen erfolgt über diese Schlüsselzahl (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden 2008, S.25). Jede Körperverletzung wird beispielsweise dem Straftatenschlüssel mit der Nummer 220000 zugeordnet (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden a, S. 23). Ist eine Person in mehreren Fällen mit derselben Schlüsselzahl tatverdächtig, so wird derjenige nur einmal als Tatverdächtiger dieser Schlüsselzahl zugeordnet (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden 2008, S.25). Zusätzlich zu den jährlich erscheinenden PKS - Ausgaben, besteht die Möglichkeit, die Entwicklung aller registrierten Straftaten für den Zeitraum von 1987 – 2008 in den „PKS-Zeitreihen“ zu verfolgen. Alle Daten für den besagten Zeitraum sind dort, sortiert nach Straftatenschlüssel, in Tabellenform elektronisch verfügbar (Bundeskriminalamt Wiesbaden c).

2.2 Quantitative Entwicklung von Jugendgewalt

2.2.1 Quantitative Entwicklung von Jugendgewalt im Hellfeld

Betrachtet man die Entwicklung von Gewaltkriminalität bei Jugendlichen[3] und Heranwachsenden[4] auf Basis der PKS-Daten, fällt der enorme Anstieg bei den Tatverdächtigenzahlen (TVZ) auf. So stieg die Anzahl der tatverdächtigen Jugendlichen von 1987 bis 2008 um mehr als das 4,4 fache und bei den Heranwachsenden um mehr als das 2,5 fache (eigene Berechnungen anhand der PKS–Zeitreihen 1987 – 2008, vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden a).[5]

Abb.1 Tatverdächtigenzahlen für Gewaltkriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden 1987 – 2008

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der PKS-Zeitreihen 1987-2008

(vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden a)

Die Zahlen für Körperverletzungsdelikte zeigen ein ähnliches Bild. Seit 1987 stieg die Zahl der tatverdächtigen Jugendlichen hier um mehr als das 4,7 fache und bei Heranwachsenden um mehr das 2,8 fache (eigene Berechnungen anhand der PKS-Zeitreihen 1987 – 2008, vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden a).[6]

Abb.2 Tatverdächtigenzahlen für Körperverletzungsdelikte bei Jugendlichen und Heranwachsenden 1987 - 2008

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der PKS-Zeitreihen 1987-2008 (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden a)

Bei den oben angeführten Tatverdächtigenzahlen handelt es sich jedoch um absolute Zahlen, die im zeitlichen Längsschnittvergleich nicht aussagekräftig sind (vgl. Universität Konstanz, Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung 2001). Der Grund hierfür ist, dass sich die vorhandene Kriminalität „nicht gleichmäßig über alle Bevölkerungsgruppen verteilt, sondern in hohem Maße vom Alter und vom Geschlecht abhängig ist“ (Heinz 2008, S.6). Somit beeinflussen die Größe der Bevölkerung und besonders „die Zusammensetzung der Bevölkerung das Maß an Kriminalität“ (vgl. Heinz 2008, S.6). Um die Entwicklung von Jugendgewalt über einen längeren Zeitraum darstellen zu können, ist es daher erforderlich, standardisierte Zahlen zu verwenden. Für einen zeitlichen Vergleich werden daher die sogenannten Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) herangezogen (vgl. Universität Konstanz, Konstanzer Inventar Kriminalitätsentwicklung 2001). Hierbei wird die Zahl der ermittelten Tatverdächtigen auf 100.000 Einwohner der entsprechenden Bevölkerungsgruppe, in diesem Fall Jugendliche und Heranwachsende, errechnet (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden 2007, S.15). Die TVBZ werden allerdings nur für deutsche Tatverdächtige berechnet, da bei Nichtdeutschen die „Bezugsgesamtheit in Größe und Struktur nicht hinlänglich verlässlich bekannt ist“ (Heinz 2008, S.2). Der Punkt TVBZ für Nichtdeutsche wird jedoch noch in Kapitel 4.1 ausführlicher beleuchtet. Nachfolgend sollen daher die TVBZ für Jugendliche und Heranwachsende mit deutscher Staatsangehörigkeit bei Gewaltkriminalität und Körperverletzungsdelikten dargestellt werden.

Hier zeigt sich, dass die TVBZ für Gewaltkriminalität bei Jugendlichen seit 1987 um das 2,8 fache gestiegen sind. Für Heranwachsende ergibt sich sogar eine Steigerung um das 4,3 fache (eigene Berechnungen anhand der PKS-Zeitreihen 1987 – 2008, vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden b).[7] In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass 1987 knapp 406 tatverdächtige Jugendliche pro 100.000 ihrer Bevölkerungsgruppe wegen Gewaltkriminalität polizeilich registriert wurden. Bis 2008 stieg ihre Zahl auf knapp 1124 Tatverdächtige.

Abb.3 TVBZ für Gewaltkriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden 1987 - 2008

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der PKS-Zeitreihen 1987-2008 (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden b)

Bei Heranwachsenden betrug die TVBZ 1987 knapp 247, bis sie 2008 einen Wert von knapp 1066 Tatverdächtigen pro 100.000 Einwohner aller Heranwachsenden in Deutschland erreichte (eigene Berechnungen anhand der PKS-Zeitreihen 1987 – 2008, vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden b).

Bei den Körperverletzungsdelikten stiegen die TVBZ für Jugendliche um das 4,5 fache, bei Heranwachsenden immerhin um das dreifache im besagten Zeitraum. Im Detail bedeutet dies, dass 1987 knapp 382 Jugendliche pro 100.000 Einwohner ihrer Bevölkerungsgruppe als Tatverdächtige eines Körperverletzungsdelikts polizeilich registriert wurden. Im Jahr 2008 waren es demgegenüber knapp 1700 Jugendliche. Für Heranwachsende betrug die Zahl der Tatverdächtigen 1987 gut 635 und lag 2008 bei knapp 1929 pro 100.000 der entsprechenden Bevölkerungsgruppe (eigene Berechnungen anhand der PKS-Zeitreihen 1987 – 2008, vgl. Bundeskriminalamt b).[8]

Es muss jedoch gerade bei der quantitativen Entwicklung von Jugendgewalt von Ende der 1980er Jahre bis in die Gegenwart darauf hingewiesen werden, dass im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands nach 1989 rund 16 Millionen neue Bundesbürger hinzukamen (vgl. Garhammer 2003, S.181).

Sowohl die Tatverdächtigenzahlen, als auch die TVBZ verdeutlichen also, dass Jugendliche heutzutage wesentlich häufiger als Tatverdächtige von Gewalttaten in der PKS erfasst werden, als noch vor 15 Jahren (vgl. Baier et al. 2009a, S.25). Der enorme Anstieg der Gewaltkriminalität bei Jugendlichen und Heranwachsenden seit Ende der 1980er Jahre ist dabei ausschließlich auf die steigende Zahl von Körperverletzungsdelikten zurückzuführen. Im Jahr 2006 machte allein die gefährliche und schwere Körperverletzung 70% der unter Gewaltkriminalität subsumierten Straftaten aus (vgl. Heinz 2008, S.10f). Die TVBZ für gefährliche und schwere Körperverletzung bei Jugendlichen stieg demnach seit 1987 um das 4,8 fache, bei Heranwachsenden um rund das dreifache (eigene Berechnungen anhand der PKS-Zeitreihen 1987 – 2008, vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden b).[9]

Mittlerweile sind 38,5% der wegen Gewaltkriminalität registrierten Tatverdächtigen zwischen 14 und 21 Jahren alt. Bei der gefährlichen und schweren Körperverletzung liegt der Anteil bei 38,3% (eigene Berechnungen anhand der PKS-Zeitreihen 1987-2008, vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden a). Die Abbildungen drei bis fünf verdeutlichen die Differenz zwischen Jugendlichen, bzw. Heranwachsenden und Erwachsenen anhand der TVBZ. Im Vergleich zu Erwachsenen[10] wird deutlich, dass Jugendliche und Heranwachsende bei Gewaltkriminalität und Körperverletzungsdelikten im Hellfeld deutlich häufiger als Tatverdächtige registriert werden (eigene Berechnungen anhand der PKS-Zeitreihen 1987 – 2008, vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden b).

Abb.4 TVBZ für gefährliche und schwere Körperverletzung 1987 - 2008

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der PKS-Zeitreihen 1987-2008 (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden b)

Die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik ist jedoch nur begrenzt, da sie nur die Taten erfassen kann, die auch tatsächlich bei der Polizei angezeigt werden (vgl. Mansel 2001, S.26f). Taten, die nicht entdeckt oder angezeigt werden, können dementsprechend auch nicht von der PKS erfasst werden (vgl. Wahl/Hees 2009, S.11). Die PKS bietet daher nur Anhaltspunkte bezüglich der Gewaltentwicklung bei Jugendlichen und Heranwachsenden und spiegelt die Realität nicht eins zu eins wider (vgl. Wahl/Hees 2009, S.12).

Deshalb soll eine weitere Datenquelle herangezogen werden, um den enormen Anstieg der TVBZ für Gewalt- und Körperverletzungsdelikte in der PKS zu überprüfen. Neben der PKS gibt es nämlich noch eine zweite Hellfeldstatistik in Deutschland, die Daten zur Entwicklung von Jugendgewalt liefert. Dies ist die sogenannte Strafverfolgungsstatistik des Statistischen

Bundesamts, die die Anzahl aller Verurteilten ausweist (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden 2008, S.9). Um ein umfassendes Bild der Entwicklung von Jugendgewalt zu erhalten, besteht die Möglichkeit die Zahlen der Tatverdächtigen mit denen der Verurteilten zu vergleichen (vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2006, S.382).

Abb.5 TVBZ für Körperverletzungsdelikte bei Jugendlichen und Heranwachsenden 1987 - 2008

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der PKS-Zeitreihen 1987-2008 (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden b)

Der Vergleich von TVBZ und VZ[11] ist jedoch nur für Westdeutschland möglich, da in der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts ausschließlich verurteilte Jugendliche und Heranwachsende aus den alten Bundesländern inklusive Westberlin, ab 1995 Gesamtberlin, erfasst werden (vgl. Statistisches Bundesamt 2007, S.3). Bei der Gegenüberstellung von TVBZ und VZ stellt man fest, dass die Anzahl der Tatverdächtigen deutlich die Zahl der Verurteilten übersteigt (vgl. Wahl/Hees 2009, S.12). Im Jahr 2004 kam auf 4,83 tatverdächtige Jugendliche einer Straftat ein Verurteilter, bei Heranwachsenden waren es immerhin noch 3,31 Tatverdächtige pro Verurteiltem. Diese Abweichungen zwischen TVBZ und VZ zeigen sich insbesondere bei Gewaltdelikten (vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2006, S.383).[12]

Abb. 6 TVBZ und VZ Jugendlicher für Gewaltkriminalität im Vergleich 1993 – 2006

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten des KFN (vgl. Baier et al. 2009a, S.26)

Die hohe Differenz zwischen TVBZ und VZ ist darauf zurückzuführen, dass der hinreichende Verdacht eine Straftat begangen zu haben bereits ausreichend ist, um in der PKS als Tatverdächtiger registriert zu werden. Im weiteren Strafverfahren wird jedoch erst festgestellt, ob der Angeklagte überhaupt die ihm zur Last gelegte Tat begangen hat, bzw. ob es sich dabei überhaupt um eine Straftat handelt (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.9). Da die Registrierung als Tatverdächtiger erfolgt, bevor die Akten an Staatsanwaltschaft und Gericht weitergeben werden (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden 2008, S.9), erweist sich nach der Bearbeitung durch diese ein Teil der Tatverdächtigen als unschuldig, während anderen nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, dass sie die ihnen zur Last gelegte Tat auch begangen haben (vgl. Wahl/Hees 2009, S.12). Gegen ein Drittel der Tatverdächtigen werden schon im Vorfeld die Ermittlungen eingestellt. Somit werden überhaupt nur zwei Drittel der Tatverdächtigen angeklagt. Von diesen restlichen zwei Dritteln wird wiederum nur ein Drittel gerichtlich verurteilt. Bei jungen Menschen ist der Anteil der Verurteilten sogar noch geringer. Besonders bei Körperverletzungen ist der Anteil der Verurteilten rückläufig (vgl. Heinz 2008, S.31ff). Im Jahr 2005 wurden im Bereich der Gewaltkriminalität bei Personen zwischen 14 und 30 Jahren 385.000 Tatverdächtige registriert. Davon wurden allerdings nur 63.400 verurteilt. Dies entspricht gerade einmal einem Anteil von rund 16,4% (vgl. Bund – Länder – AG “Entwicklung der Gewaltkriminalität junger Menschen mit einem Schwerpunkt auf städtischen Ballungsräumen 2008). Die geringe Zahl der verurteilten im Vergleich zu den tatverdächtigen Jugendlichen legt also die Folgerung nahe, dass vermehrt Delikte von minderer Schwere bei der Polizei zur Anzeige gebrachte werden, welche im „weiteren Verlauf der Strafverfolgung“ eingestellt werden (vgl. Baier et al. 2009a, S.25). Dies bestätigen auch Befunde aus einer Analyse Münchner Ermittlungsverfahren, bezüglich der Gewaltkriminalität Jugendlicher und Heranwachsender, welche aus den Jahren 1989 und 1998 stammen. Diese belegen eine vermehrte Einstellung von Verfahren mangels hinreichendem Tatverdacht (vgl. Heinz 2008, S.34). Auch aufgrund dieser Tatsache kommt man zu einer „zurückhaltenden Bewertung“ des Anstiegs von Jugendgewalt in der PKS (vgl. Baier et al. 2009a, S.25). Im folgenden Kapitel sollen noch weitere Faktoren benannt werden, welche die Aussagekraft der PKS einschränken. In diesem Zusammenhang soll auch dargelegt werden, warum vermehrt Taten von geringer Schwere bei der Polizei zur Anzeige gebracht werden.

2.2.2 Verzerrungsfaktoren im Hellfeld

Jugendgewalt ist ein bevorzugtes Thema der Medien (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.8), über welches heutzutage deutlich umfangreicher berichtet wird (vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2006, S. 61).

„Es ist mehr öffentlich geworden. (…) Also sie wird häufiger berichtet, es wird intensiver berichtet und es wird immer wieder aufgegriffen.“ (Interview 2, S.12)

Gerade die „Einführung des Privatfernsehens“ hat hierzu wesentlich beigetragen (vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2006, S. 61). Dabei wird im Zuge einer „selektiven Berichterstattung“ vonseiten der Medien (Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2006, S. 61) oftmals über besonders dramatische Einzelfälle berichtet, sodass der Eindruck von zunehmender Brutalität und steigenden Fallzahlen entsteht (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.7f).

„Und ich würde denken, also was Jugendkriminalität, vor allen Dingen Gewaltkriminalität und Intensivtäteraktivitäten angeht, ist die Berichterstattung nicht objektiv.“ (Interview 4, S.25)

„Der Punkt ist immer, dass so ne Situation auch immer sehr viel Entsetzen hervorruft und ja sehr, sehr beachtet wird, also sehr beachtet wird, mehr als andere Dinge ist mein Eindruck. Und ja das Es auf einmal, dass es so in Fokus gerät und dass nicht gesehen wird, wie viel Jugendliche eben nicht gewalttätig werden. Sondern ein Einzelfall ist dann wirklich, kann zur unheimlichen Stigmatisierung fürn ganzen Stadtteil führen.“ (Interview 1, S.2)

Auch die drastischen Anstiege in der Polizeilichen Kriminalstatistik bezüglich des Tatverdächtigenanteils Jugendlicher werden „dramatisierend ins öffentliche Bewusstsein gehoben“ (Boers/Walburg 2007, S.79). Die Medien sind also mitverantwortlich dafür, dass das Thema Jugendgewalt zunehmend „in das Bewusstsein der Bevölkerung dringt“ und von dieser vermehrt dramatisiert, bzw. problematisiert wird (vgl. Kuckuck 2007, S.37). Die daraus resultierende öffentliche Diskussion über „steigende Gewalt Jugendlicher kann Spuren hinterlassen“ (Mansel 2001, S.33). Es ist nämlich davon auszugehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Berichterstattung der Medien Glauben schenkt und von zunehmender Gewalt und Brutalität überzeugt ist (vgl. Mansel/Hurrelmann 1998, S. 78f). Dieser Glaube kann innerhalb der Bevölkerung zu einer zunehmenden Verunsicherung bezüglich der eigenen Sicherheit und damit zu einem steigenden Bedrohungsempfinden führen (vgl. Mansel 2001, S.33).

„Klar, wenn die da stehen mit ihren Kampfhunden, in ner Gruppe von zehn jungen Männern, alle gut trainiert. Ist klar, dass die Oma da Angst hat, wenn die da am Park vorbei muss. Aber eigentlich, das wird durch solche Medien, wird das hochgepusht, ne. Die fragen sich teilweise selber, warum hat denn die Angst vor uns? (…) aber dass die da jetzt die Oma überfallen würden oder so, das ist nicht so.“ (Interview 1, S.22)

Mit dem Bedrohungsempfinden steigt dann die Anzeigebereitschaft innerhalb der Bevölkerung und dadurch wiederum die Zahl der Tatverdächtigen in den offiziellen Statistiken. (vgl. Mansel 2001, S.33). D.h., die öffentlich geführte Diskussion über ansteigende Jugendgewalt führt zu einer zunehmenden „Sensibilisierung“ gegenüber abweichendem Verhalten Jugendlicher, sodass bestimmte Verhaltensweisen möglicherweise weniger toleriert und schneller zur Anzeige gebracht werden (vgl. Baier et al. 2009a, S.25, vgl. Kuckuck 2007, S.37).

Infolge einer veränderten Sensibilität und Bewertung gegenüber Gewaltdelikten werden dann auch „in steigendem Maße Delikte von geringem Schweregrad“ bei der Polizei zur Anzeige gebracht (vgl. Bundesministerium des Innern / Bundesministerium der Justiz 2006, S.384), welche im weiteren Verlauf eingestellt werden (vgl. Baier et al. 2009a, S.25).

„Es wird öffentlicher diskutiert als früher und die Leute sind auch sensibilisiert, was Gewaltausübung angeht. D.h., die Toleranzschwelle ist heruntergegangen, aber nicht die Gewalt angestiegen, also auch in der konkreten Ausübung.“ (Interview 4, S.2)

Gerade bei Körperverletzungsdelikten ist eine Zunahme der Anzeigebereitschaft zu beobachten (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.3; vgl. Heinz 2008, S.22). Schwind et al. zeigen in diesem Zusammenhang anhand einer „im Auftrag des BKA durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsbefragung“ in Bochum, dass eine Verdopplung der Anzeigebereitschaft von 12% auf 23% zwischen 1975 und 1998 zu verzeichnen ist (vgl. Heinz 2008, S.22). Auch Baier et al. kommen in ihrem Längsschnittvergleich zwischen 1998 und 2008 zu dem Ergebnis, dass die Anzeigebereitschaft der Opfer von Körperverletzungsdelikten in sieben von acht Städten um 20 bis 50% zugenommen hat (vgl. Baier et al. 2009a, S.11). Grundlage sind hier die Ergebnisse der repräsentativen Schülerbefragungen des KFN (vgl. Baier et al. 2009a, S.10). Der Anstieg in den offiziellen Statistiken der PKS lässt sich also vor allem durch die gestiegene Anzeigebereitschaft innerhalb der Bevölkerung erklären (vgl. Heinz 2008, S.31). D.h., es ist zu einer Verlagerung der Straftaten vom Dunkel- ins Hellfeld gekommen (vgl. Statistisches Bundesamt 2008, S.2). Sogar die PKS weist in diesem Zusammenhang auf eine „Aufhellung des Dunkelfelds“ hin (vgl. Heinz 2008, S.31). Die Zahlen im Hellfeld können somit ansteigen, ohne dass eine tatsächliche Zunahme von Gewalttaten stattgefunden hat (vgl. Heinz 2008, S.22). Die von der IMK[13] „eingesetzte Bund-Länder-AG Entwicklung der Gewaltkriminalität junger Menschen mit einem Schwerpunkt auf städtischen Ballungsräumen“ kommt in ihrem Abschlussbericht ebenfalls zu dem Ergebnis, dass kein realer Anstieg hinsichtlich der Gewaltkriminalität junger Menschen stattgefunden hat, sondern dass vermehrt Straftaten aus dem Dunkel- ins Hellfeld gelangen (vgl. Heinz 2008, S. 31).

„Also das Anzeigeverhalten hat sich ganz intensiv geändert. Das geht im Übrigen auch aus der polizeilichen Kriminalstatistik hervor. Es ist also ganz ausdrücklich drin aufgeführt, dass das Anzeigeverhalten sich in den letzten zehn Jahren enorm geändert hat. Und das ist auch meine Wahrnehmung. Das hat etwas damit zu tun, mit der Berichterstattung, dass die Berichterstattung also intensiver wird. Das hat nichts damit zu tun, dass die Gewalttaten mehr werden. Sondern das aus dem Dunkelfeld, aus dem Dunkelfeld was wir früher gehabt haben viel mehr Gewalttaten in das Hellfeld hineingehen. Die Gesamtheit der Gewalttaten hat sich nicht verändert, ja. Also dieses Anzeigeverhalten führt dazu, dass wir also mehr Verfahren in diese Richtung haben.“ (Interview 2, S.11)

„D.h., man guckt mehr hin. Das ist aber eher ne Frage von Hell- und Dunkelfeldverschiebung, als ne Frage von tatsächlich gewalttätiger oder insgesamt haben Jugendliche, also ist zu beobachten, die erhalten tatsächlich mehr Aufmerksamkeit.“ (Interview 4, S.6)

Neben der zunehmenden Sensibilisierung innerhalb der Bevölkerung und der damit verbundenen erhöhten Anzeigebereitschaft ist jedoch noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung, wenn es um die Registrierung als Tatverdächtiger in der PKS geht. Dies ist die „Kontrolldichte und Aufmerksamkeit der ermittelnden Behörden“ (vgl. Mansel/Hurrelmann 1998, S.82; vgl. Mansel 2001, S.27).

„Ich hab jetzt in meinen, ja doch inzwischen 38 Jahren, hab ich, ich hab ja solange ich denken kann, gibt es auch immer eine Statistik und es gibt keine quantitative Veränderung, es ist so geblieben. Also kann sich nur das Anzeigeverhalten geändert haben und das hat sich ganz sicher geändert. Die Leute gucken mehr hin, die sind eher geneigt, auch weil die Polizeipräsenz stärker geworden ist, wenn die denn schon mal da ist, kann man ja auch ohne große Umstände die einbeziehen. Das hat sich geändert und die Toleranz gegenüber Gewalt ist runtergegangen, also die sind empfindsamer will ich mal sagen ...“ (Interview 4, S.19f)

Gerade Jugendliche haben nämlich im Vergleich zu Erwachsenen ein wesentlich höheres Risiko, von der Polizei als Tatverdächtige einer Straftat registriert zu werden, da sie sich vermehrt im öffentlichen Raum aufhalten, wo die Gefahr polizeilicher Kontrolle wesentlicher höher ausfällt. Zudem sind Erwachsene eher darum bemüht, bei der Begehung einer Straftat nicht entdeckt zu werden (vgl. Mansel 2001, S.32).

Wie es infolge einer erhöhten „Kontrollaufmerksamkeit“ zu einer erheblichen Erweiterung des Hellfelds bei jugendlichen Tatverdächtigen kommen kann, soll anhand des so genannten „Lüchow-Dannenberg-Syndroms“ verdeutlicht werden (vgl. Mansel 2001, S.32). In Lychow-Dannenberg wurden Ende der 1970er Jahre 7 neue Kriminalkommissariate mit 46 zusätzlichen Beamten eingerichtet. Der Grund hierfür war die Zunahme von gewalttätigen Demonstrationen im Zuge der geplanten Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben. Diese blieben jedoch weitestgehend aus, da die geplante Wiederaufbereitungsanlage vorerst nicht errichtet wurde. Im Folgenden stieg dort die Zahl der polizeilich tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen erheblich an. Dabei zeigte sich besonders bei „Bagatelldelikten“, welche von geringer Schwere sind, ein Anstieg um ca. 77%. Die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen in den umliegenden Regionen erhöhte sich jedoch ebenso wenig, wie die Zahl der Erwachsenen Tatverdächtigen in Lüchow-Dannenberg selbst. Hierbei ist zu vermuten, dass es durch die 46 zusätzlichen Beamten zu einer Arbeitsentlastung der Polizei vor Ort kam und vermehrt Anzeigen aus der Bevölkerung aufgenommen wurden. Das „Lychow-Dannenberg-Syndrom“ verdeutlicht somit, welche Folgen eine „veränderte Kontrollaufmerksamkeit“ und „selektive Wahrnehmung bestimmten Bevölkerungsgruppen gegenüber, in diesem Fall Kinder und Jugendliche, mit sich bringen kann (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.13; vgl. Mansel 2001, S.32).

In den offiziellen Statistiken der PKS spiegelt sich also nicht nur das Verhalten der Jugendlichen und Heranwachsenden wider, sondern sowohl die „Kontrollaufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden“, als auch „das Anzeigeverhalten in der Bevölkerung“ (vgl. Mansel 2006, S.269). Die Aussagekraft der PKS wird damit nicht nur durch die Tatsache eingeschränkt, dass ausschließlich begangene Straftaten erfasst werden, die bei der Polizei zur Anzeige gelangen (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden 2008, S. 7). Aufgrund der begrenzten Aussagekraft von offiziellen Statistiken sind daher weitere Datenquellen notwendig, um einen möglichst genauen Überblick bezüglich der quantitativen Entwicklung von Jugendgewalt zu erhalten (vgl. Mansel/Hurrelmann 1998, S.84).

2.2.3 Quantitative Entwicklung von Jugendgewalt im Dunkelfeld

Ergänzt werden die offiziellen Statistiken durch Dunkelfeldstudien (vgl. Mansel 2001, S.27). Diese erfassen auch Taten, welche bei der Polizei nicht zur Anzeige gebracht werden (Baier et al. 2009a, S.15). Hierbei handelt es sich um Opferbefragungen, sowie Befragungen von Tätern zur selbstberichteten Delinquenz (Mansel/Hurrelmann 1998, S.84). Ein Problem der sogenannten Dunkelfeldstudien besteht jedoch darin, dass der Gewaltbegriff nicht einheitlich definiert wird. So erfasst die eine Studie schon leichte Gewaltdelikte, während andere nur nach schweren Formen von Gewalt fragen (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.9; vgl. Baier/Pfeiffer/Windzio 2006, S.273). Des Weiteren wird häufig nur eine kleine Anzahl von Jugendlichen in einer Region oder Stadt befragt. Daher sind die Daten aller bisher erhobenen Dunkelfeldstudien zum Thema Jugendgewalt im Gegensatz zur PKS nicht bundesweit repräsentativ. D.h., die Ergebnisse sind nicht auf das gesamte Bundesgebiet übertragbar, sondern beschränken sich auf die jeweilige Region, bzw. Stadt (vgl. Baier et al. 2009a, S.16). Demnach variieren auch die Ergebnisse der einzelnen Studien, welche die Ausprägung von Jugendgewalt messen (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.9). Es bleibt also festzuhalten, dass keine bundesweit repräsentativen Dunkelfeldstudien existieren, die in regelmäßigen Abständen wiederholt werden (vgl. Heinz 2008, S. 23). Daher sollen im Folgenden für die Zeitspanne von Ende der 1980er Jahre bis in die Gegenwart ausgewählte Befunde verschiedener Dunkelfeldstudien zur selbstberichteten Delinquenz Jugendlicher vorgestellt werden, um einen Vergleich mit der Entwicklung von Jugendgewalt im Hellfeld anstellen zu können. Die Erfassung selbstberichteter Gewaltdelikte erfolgt dabei üblicherweise über die sogenannten Prävalenzraten, die hinsichtlich des Berichtszeitraums (die letzten 12 Monate) mit der PKS übereinstimmen (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.7). Prävalenzraten geben an, wie hoch der Anteil der Jugendlichen ist, die in den letzten 12 Monaten vor der Befragung ein Delikt begangen haben (vgl. Baier/Pfeiffer/Windzio 2006, S.266).

Für den Zeitraum der 1980er und 1990er Jahre zeigen mehrere Studien übereinstimmend, dass auch im Dunkelfeld eine Zunahme von Jugendgewalt zu verzeichnen ist (vgl. Heinz 2008, S.24). So kommen Mansel und Hurrelmann in ihrer Längsschnittstudie[14], welche zwischen 1988 und 1996 durchgeführt wurde, zu dem Ergebnis, dass bei Gewalthandlungen[15] eine Steigerungsrate von knapp 30 % zu verzeichnen ist. Bei Körperverletzungsdelikten fällt die Steigerungsrate mit 12% hingegen deutlich niedriger aus (vgl. Mansel 2001, S. 29).[16]

Zwei weitere Dunkelfeldstudien von Lösel/Bliesner/Auerbeck 1998, sowie Tilmann 1997, kommen zu ähnlichen Befunden. Lösel et al. weisen in ihrer Längsschnittstudie zwischen 1973 und 1995 einen Anstieg der Gewalthandlungen um 58% nach (vgl. Mansel 2001, S.30). Vergleicht man also die Ergebnisse der Dunkelfeldstudien mit den Daten der PKS für den besagten Zeitraum, so bleibt festzuhalten, dass der Anstieg der Jugendgewalt in den 1980er

und 1990er Jahren im Dunkelfeld deutlich geringer ausfällt, als der in der PKS (vgl. Heinz 2008, S.24).

Abb.7 Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung von Mansel und Hurrelmann aus den Jahren 1988 und 1996, für selbstberichtete Körperverletzungsdelikte der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der Längsschnittstudie von Mansel und Hurrelmann aus den Jahren 1988 und 1996 (vgl. Mansel 2001, S.28ff)

Abb.8 Ergebnisse der Längsschnittuntersuchung von Mansel und Hurrelmann aus den Jahren 1988 und 1996 im Vergleich, für selbstberichtete Gewalthandlungen der vergangenen 12 Monate (Angaben in %) Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der Längsschnittstudie von Mansel und Hurrelmann aus den Jahren 1988 und 1996 (vgl. Mansel 2001, S.28ff)

Für den Zeitraum der 1990er Jahre bis in die Gegenwart sollen primär die Forschungsbefunde des KFN[17] im Vordergrund stehen. Insbesondere die Ergebnisse der ersten für Deutschland repräsentativen Dunkelfeldstudie zum Thema Jugendgewalt, welche 2009 vom KFN und BMI[18] veröffentlicht wurde (vgl. Baier et al. 2009a, S.9). In jener Studie wurden „in 61 repräsentativ ausgewählten Landkreisen, bzw. kreisfreien Städten“ insgesamt 44.610 Jugendliche der 9. Klassen aller Schulformen befragt. Da in acht Städten bereits 1998/99 Befragungen stattfanden, ist ein Vergleich dieser Gebiete zwischen 1998 und 2008 möglich (vgl. Baier et al. 2009a, S.9).[19] Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Gewalttaten bei Jugendlichen seit 1998 in Deutschland nicht zugenommen hat, sondern sogar leicht zurückgegangen ist.[20] Demnach ist es also, entgegen aller Medienberichte, nicht zu

einem drastischen Anstieg von Jugendgewalt in Deutschland gekommen (vgl. Baier et al. 2009a, S.10).

Abb.9 Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 1998/99 und 2005-2008 im Vergleich; selbstberichtete Gewaltdelikte[21] der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten des KFN-Forschungsberichts Nr.107 (vgl. Baier et al. 2009a, S.96)

Abb.10 Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 1998/99 und 2005-2008 im Vergleich; selbstberichtete Körperverletzungsdelikte[22] (Angaben in %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten des KFN-Forschungsberichts Nr.107 (vgl. Baier et al. 2009a, S.97)

Abb.11 Entwicklung der gemeldeten Raufunfälle an Schulen je 1000 versicherte Schüler 1993 - 2007

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten des KFN (vgl. Baier 2008, S.12)

Die Ergebnisse dieser Studie decken sich auch mit den Zahlen der „Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung“, die seit 1997 einen kontinuierlichen Rückgang der Raufunfälle an allgemeinbildenden Schulen verzeichnet (siehe Abb.11).[23] Demnach ist jeder zehnte Unfall auf Gewalteinwirkung zurückzuführen (vgl. Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA) 2009, S.1).

Auch die Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie von Boers et al.[24], welche zwischen den Jahren 2000 und 2003 in Münster und zwischen 2002 und 2005 in Duisburg durchgeführt wurde, zeigt einen Rückgang von 20 – 30% beim Anteil der Gewalttäter in den 9. und 10. Klassen (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.8f).[25]

Abb.12 Ergebnisse der Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie 2000 – 2005 im Vergleich; selbstberichtete Gewaltdelikte[26] der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.8f)

Abb.13 Ergebnisse der Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie 2000 – 2005 im Vergleich; selbstberichtete schwere Gewaltdelikte[27] der vergangenen 12 Monate (Angaben in %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten der Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.8f)

2.2.4 Interviewergebnisse bezüglich der quantitativen Entwicklung

Auch alle im Rahmen dieser Diplomarbeit befragten Interviewpartner berichten übereinstimmend, dass für sie keine quantitative Zunahme von Jugendgewalt im besagten Zeitraum feststellbar ist (vgl. Interview 1-4).

„Das, was wir jetzt in XXX seit über einem Jahr feststellen können, ist, dass die Jugendgewalt mehr tendenziell auftritt. Das heißt hier und da ist mal ne größere Aktion, aber im Gesamtdurchschnitt können wir sagen, dass wir mit Jugendgewalt so in der Form, wie es immer in Presse und Medien usw. publiziert wird, eigentlich nicht in Kontakt kommen. (…) Laut PKS 2009 ist da natürlich ein leichter Anstieg zu vernehmen. Das erleben wir aber auf der Straße nicht so.“ (Interview 1, S.1)

„Wenn man sich jetzt im Überblick sieht, muss ich sagen, dass also ja meines Erachtens die Gewalt bei Jugendlichen, bei männlichen Jugendlichen in etwa gleich geblieben ist über Jahre hinweg auf einem relativ hohen Niveau.“ (Interview 2, S.1)

„Die quantitative Entwicklung der Jugendgewalt in den letzten Jahren ist nahezu gleich bleibend. Wir sprechen also nicht von horrenden Zahlen, Zahlenwerk, was explodiert. (…) Aber ansonsten sind die Gewaltdelikte von Jugendlichen, das kann man auch in dem 10-Jahres-Vergleich bei der PKS, kann man nachlesen, nicht besorgniserregend gestiegen.“ (Interview 3, S.1)

„Also meine Erfahrung ist, dass Jugendkriminalität insgesamt auch in der Verteilung, Bagatelldelikte oder schwere Straftaten oder eben auch Gewaltdelikte gleich geblieben sind.“ (Interview 4, S.1)

2.3 Gewalttäteranteil unter Jugendlichen – aktuelle Befunde aus Hell- und Dunkelfeld

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen nicht gewalttätig ist (vgl. Lohmann 2008, S.56). Circa 90% aller Jugendlichen fallen demnach nicht durch Gewalttaten auf (vgl. Kuckuck 2007, S.37). Betrachtet man die Zahlen im Hellfeld der PKS, so wurden im Jahr 2008 bezogen auf die absoluten Zahlen rund 2% aller Jugendlichen und Heranwachsenden wegen eines Körperverletzungsdelikts polizeilich registriert (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden a; vgl. Statistisches Bundesamt 2008 e). Berechnungen anhand der TVBZ zeigen, dass gut 1,82% von 100.000 Jugendlichen und Heranwachsenden wegen eines Körperverletzungsdelikts von der Polizei erfasst wurden (vgl. Bundeskriminalamt Wiesbaden b).

„Wir sprechen über einen ganz kleinen, geringen Anteil von Jugendlichen, denen geholfen werden könnte, weil wie gesagt 95% sind, ganz normale Kinder und Jugendliche, die vielleicht mal irgendwo ‘nen Kaugummi klauen oder mal Schwarzfahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, aber keine Gewalt anwenden.“ (Interview 3, S.9)

Der Anteil gewalttätiger Jugendlicher im Dunkelfeld fällt jedoch deutlich höher aus (vgl. Mansel/Raithel 2003, S.9), wie auch Boers et al. in ihrer Studie feststellen (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.6). Bei Gewaltdelikten besteht nämlich oftmals das Problem, dass das Opfer aus Angst vor dem Täter keine Anzeige erstattet (vgl. Interview 4, S.18). Aktuellen Umfragen zufolge werden nur ca. 20% aller von „jungen Menschen verübten Körperverletzungsdelikte“ auch zur Anzeige gebracht (vgl. Heinz 2008, S.22). Laut der aktuellen Schülerbefragung des KFN liegt die Anzeigequote für schwere Körperverletzung bei 36,8%, während bei leichten Körperverletzungen nur jede fünfte bis sechste Tat angezeigt wird (vgl. Baier et al. 2009a, S.42). Somit verbleibt ein Großteil der Straftaten im Dunkelfeld und wird nicht von der PKS erfasst (vgl. Mansel 2001, S.27). Die folgenden Befunde ausgewählter Dunkelfelduntersuchungen verdeutlichen diesen erhöhten Gewalttäteranteil im Vergleich zum Hellfeld.

Demzufolge gaben im Rahmen der neuesten Studie von BMI und KFN 13,5% aller Befragten Jugendlichen an, in den vergangenen 12 Monaten ein Gewaltdelikt begangen zu haben. 5,4% berichteten sogar, ein schweres Gewaltdelikt verübt zu haben (vgl. Baier et al. 2009a, S.64).

In der Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudie von Boers et al. berichten bis zu 12% der in Münster befragten Schüler/innen und bis zu 17% der in Duisburg Befragten, dass sie in den letzten 12 Monaten vor der Befragung eine Körperverletzung ohne Waffen begangen haben (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.6).

Nach Angaben der aktuellen Shell Jugendstudie waren sogar mehr als ein Fünftel (22%) der 12- bis 25 Jährigen in den vergangenen 12 Monaten vor ihrer Befragung in Schlägereien verwickelt (vgl. Schneekloth 2006, S.141).

Hinsichtlich der Gewaltbelastung von Jugendlichen gilt es jedoch zu beachten, dass „ein erheblicher Teil“ der selbstberichteten Gewaltdelikte von einem „kleinen harten Kern“ begangen wird (vgl. Heinz 2008, S.24). Nach Angaben der Polizei handelt es sich hierbei um ca. „10% aller Tatverdächtigen einer Altersgruppe“, die „etwa die Hälfte aller registrierten Straftaten“ begehen (vgl. Wahl/Hees 2009, S.17). Diese kleine Gruppe wird als „Mehrfach- oder auch Intensivtäter“ bezeichnet (vgl. Boers/Walburg 2007, S.87). Hierunter werden alle Täter subsumiert, die eine überdurchschnittliche Anzahl an Straftaten begehen (vgl. Wahl/Hees 2009, S.17). Eine einheitliche Definition dieser Gruppe existiert aber nicht (vgl. Wahl/Hees 2009, S.17) . In den Schülerbefragungen des KFN werden beispielsweise alle Jugendlichen, die im Befragungszeitraum der letzten zwölf Monate fünfmal oder häufiger ein Gewaltdelikt begangen haben als Mehrfachtäter erfasst (vgl. Baier et al. 2009a, S.64). Laut der aktuellen Dunkelfeldstudie des KFN wird jedoch auch der „Kern“ der Mehrfach-, bzw. Intensivtäter kleiner. Demnach lagen die Quoten im Jahr 1998/99 in den Befragungsgebieten zwischen 3,3 und 8,2%, während es 2005-2008 nur noch zwischen 3 und 5% waren (vgl. Baier et al. 2009b, S.3).[28]

Insgesamt betrachtet muss Jugendgewalt aber als „gesellschaftlich ernstzunehmendes Problem betrachtet werden“ (Kuckuck 2007, S38), das weder „dramatisiert noch vernachlässigt werden sollte“ (Kuckuck 2007, S.40).

Abb.14 Ergebnisse der KFN-Schülerbefragung 1998/99 und 2005-2008 im Vergleich;

Entwicklung der Mehrfach-Gewalttäterschaft in acht deutschen Städten (Angaben in %)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten des KFN-Forschungsberichts Nr.107 (vgl. Baier et al. 2009a, S.96)

2.4 Qualitative Entwicklung von Jugendgewalt

Laut PKS 2007 ist bei Teilen der Jugendlichen eine erhöhte Gewaltbereitschaft, sowie teilweise ein brutales Vorgehen bei den Taten zu beobachten (vgl. Bundesministerium des Innern 2007, S.10). Ob die Qualität der Jugendgewalt im Zeitverlauf zugenommen hat, ist jedoch statistisch nicht überprüfbar (vgl. Heinz 2008, S.13). Weder die Hell-, noch die Dunkelfelddaten können Belege dafür liefern, dass die Vorgehensweise bei der Ausführung von Gewalttaten insgesamt brutaler geworden ist (vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2006, S.354). Auswertungen von Straf- und Ermittlungsakten in mehreren deutschen Großstädten, sowie zahlreiche Schülerbefragungen konnten keine Zunahme von schweren Gewalttaten bestätigen. Nimmt man zudem die Abnahme der infolge von Raufunfällen entstandenen Frakturen an allgemeinbildenden Schulen als „Indiz für die Schwere von aggressionsverursachten physischen Verletzungen“, so findet man auch hier keine Hinweise für eine zunehmende Brutalität (vgl. Heinz 2008, S.13f). Nach Angaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung ist die Zahl der Frakturen infolge von Raufunfällen seit 1997 sogar deutlich zurückgegangen[29] (vgl. Baier 2008, S.12).

Auch Wetzels und Pfeiffer vom KFN kommen in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die Brutalität der Gewalttaten junger Menschen nicht zugenommen hat (vgl. Pfeiffer/Wetzels 2001, S. 4).

Abb.15

Entwicklung der gemeldeten Frakturen infolge von Raufereien an Schulen je 1000 versicherte Schüler 1993 - 2006

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten des KFN (vgl. Baier 2008, S.12)

Hinsichtlich der qualitativen Entwicklung von Jugendgewalt gibt es insgesamt also keine Belege für eine zunehmende Brutalität, bzw. eine gesunkene Hemmschwelle bei Jugendlichen.

2.5 Interviewergebnisse bezüglich der qualitativen Entwicklung

Die Aussagen der befragten Interviewpartner bezüglich der qualitativen Entwicklung von Jugendgewalt zeigen indes kein einheitliches Bild, wie die folgenden Interviewausschnitte belegen.

„Also wir haben bei der qualitativen Entwicklung ganz klar eine Hemmschwelle, die gegen null geht. Und diese Hemmschwelle gegen null wird dann auch tatsächlich mit einer sehr starken Brutalität ausgeübt. Wir haben früher Delikte gehabt, oder andersrum, viele Leute haben sich früher auch mal eben gerauft, dann war vorbei, insbesondere, wenn einer auf dem Boden lag, war der Kampf vorbei. Und heute wird also tatsächlich noch draufgeschlagen, wenn einer am Boden liegt, ob mit Fäusten oder getreten oder dann noch mit irgendwelchen Schlagwerkzeugen. Das hat es früher so nicht gegeben in dem Maße.“ (Interview 3, S.2)

„Es gab einen Überfall hier, wo auch mit einem Baseballschläger jemand am helllichten Tage übel zugerichtet wurde. Und ich hab den gesehen und muss sagen, ich war schon sehr, ich bin schon sehr schockiert über die, die fehlende Hemmschwelle. Ich kann aber nicht beurteilen, ob die Entwicklung, obs schlimmer geworden ist oder ob die Hemmschwelle in letzter Zeit gesunken ist. Das kann ich nicht sagen.“ (Interview 1, S.3)

„Das ist, man kann das nicht sagen, dass das mehr geworden ist oder weniger, also brutaler oder weniger brutal. Also da können wir jetzt aus unseren Erfahrungen wenig Entwicklungen feststellen.“ (Interview 1, S.3)

„Die Wahl der Waffen hat sich geändert, die ist Zeitgeist abhängig zum Teil auch, aber zwischen den Verletzungen, die z. B. durch Ketten oder Schlagringe von Rockern erzeugt wurden, hab ich also keine großen Unterschiede gesehen zu dem, was heute so als Mittel, jemanden zu verletzen, eingesetzt wird. Eher ist die physische Ausübung fast flacher geworden. Also das waren schon heftige …, oder Anfang der 80er gab es so eine Mode, da gab’s die Schlaghosen und darunter trugen die jungen Männer Cowboystiefel. Also "Straßen von San Francisco", der junge Polizeibeamte, gespielt von Michael Douglas, der trug immer so ein Outfit. Also ich habe noch Gesichter in Erinnerung, in die dann mal so ein Stiefelabdruck reingedreht worden ist. Also ich denke allenfalls die Wahl der Waffen hat sich im Laufe der Zeit verändert, aber brutal und hemmungslos war das immer.“ (Interview 4, S. 2)

„Also das einzige was, was sich geändert hat, die körperliche Gewalt ist nicht so massiv, wie ich die schon mal erlebt habe. Also ich hab ja angefangen, tatsächlich noch Rockergruppen zu kennen. Und die Ketten, Schlagringe und was die so einsetzten waren nicht ohne. Ein paar Jahre später diese Cowboystiefel, wenn die in ein Gesicht gedreht wurden, dann was häufig kommt, dieser Mythos "Früher, wenn jemand am Boden lag, dann hörte man auf, dann kam, wenn dann noch sportlich und sonst was und wenn dann sonst was sportlich und fair, solche Begriffe dann noch verknüpft werden, dann bekomm ich einfach Wut, weil es war noch nie sportlich und noch nie fair jemanden, der am Boden lag zusammenzutreten oder ihn überhaupt aufn Boden zu treten.“ (Interview 4, S.20f)

„Nein, kann ich nicht sagen. Es hat eine andere Qualität erlangt, wie ich sagte, in der Zeit, als jungen Leute aus dem Osten rüber gekommen sind, was auch nachvollziehbar ist, denn die haben eine ganz andere Sozialisation gehabt zuhause. Wenn ich als Jugendlicher in eine Welt komme, in der ich überhaupt nichts verstehe, weder die Sprache kann, noch irgendein Prozess habe, in den ich mich hineinklinken kann, gesellschaftlichen Prozess, führt das zu Frustration, das ist ganz normal. Das führt dann zum Gewaltverhalten und das ist von der Qualität anders gewesen. Die jungen Leute haben nicht gesprochen, wie man das so üblicherweise macht, indem ne verbale Auseinandersetzung kommt und dann kommt es dann zu Gewalthandlungen. Nachvollziehbar, denn die konnten die anderen ja gar nicht verstehen. Brauchten auch nicht zu sprechen, haben sie gleich draufgekloppt. Das war also ne andere Qualität, aber das, wie gesagt, das ist vorbei. Seit etwa 10 Jahren haben wir diese Erscheinungen nicht mehr.“ (Interview 2, S. 1f)

2.6 Zusammenfassung

Laut Daten der PKS ist es seit Ende der 1980er Jahre zu einem starken Anstieg der Jugendgewalt in Deutschland gekommen. Beim Vergleich mit den Zahlen der Verurteiltenstatistik zeigt sich jedoch, dass hier ein Anstieg in weitaus geringerem Maße stattgefunden hat. D.h. nur ein geringer Teil der als Tatverdächtige registrierten Jugendlichen wird auch von den Gerichten verurteilt. Hierdurch wird deutlich, dass die PKS-Daten zur Entwicklung von Jugendgewalt eher zurückhaltend interpretiert werden sollten.

Neben der Tatsache, dass die PKS nur Taten erfasst, die bei der Polizei zur Anzeige gebracht werden, schränken nämlich noch weitere Faktoren die Aussagekraft der PKS ein. So zeigt sich, dass der Anstieg in der PKS in hohem Maße auf das veränderte Anzeigeverhalten innerhalb der Bevölkerung zurückzuführen ist. Diese nimmt, auch aufgrund der „öffentlichen Dramatisierung“ von Jugendgewalt durch die Medien, das Thema heutzutage anders wahr und reagiert sensibler auf Gewalt. Durch die erhöhte Anzeigebereitschaft gelangen vermehrt Taten vom Dunkel- ins Hellfeld, sodass die Zahlen im Hellfeld ansteigen können, ohne dass ein realer Anstieg von Jugendgewalt stattgefunden hat. Aufgrund der zunehmenden Sensibilisierung werden auch häufiger Delikte von geringerer Schwere angezeigt, die dann im weiteren Verlauf des Strafverfahrens eingestellt werden, was wiederum die Differenz zwischen TVBZ und VZ erklärt.

Neben der gestiegenen Anzeigebereitschaft infolge einer zunehmenden Sensibilisierung in der Bevölkerung ist der hohe Anteil an jugendlichen Gewalttätern im Hellfeld aber auch dadurch zu erklären, dass Jugendliche in stärkerem Maße polizeilicher Kontrolle ausgesetzt sind, da sie sich vermehrt an öffentlichen Plätzen aufhalten. Dort ist nämlich die Entdeckungswahrscheinlichkeit einer Straftat besonders groß. Aufgrund der besagten „Verzerrungsfaktoren“ kann die PKS nicht als valide Datenquelle in Bezug auf die quantitative Entwicklung von Jugendgewalt angesehen werden, da sie die Realität nicht eins zu eins widerspiegelt.

Daher kommt der Dunkelfeldforschung eine wichtige Bedeutung zu. Mit Hilfe von Dunkelfeldstudien können nämlich auch Delikte erfasst werden, die bei der Polizei nicht zur Anzeige gelangen. Im Gegensatz zur PKS handelt es sich dabei allerdings nicht um bundesweit repräsentative Daten. Eine Ausnahme bildet hingegen die neueste Studie von KFN und BMI.

Hinsichtlich der quantitativen Entwicklung zeigen die Dunkelfeldstudien zwar für Ende der 1980er und insbesondere für die 1990er Jahre ebenfalls einen Anstieg, jedoch in wesentlich geringerem Umfang, als dies im Hellfeld der Fall ist. Seit Ende der 1990er Jahre hat es laut neuester Studie des KFN im Dunkelfeld jedoch keinen weiteren Anstieg der Jugendgewalt gegeben. Teilweise ist sogar ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Insgesamt zeigt sich also eine sehr uneinheitliche Entwicklung zwischen Hell- und Dunkelfelddaten. Diese ist jedoch auf die besagten „Verzerrungsfaktoren“ im Hellfeld zurückzuführen. Für die im Rahmen der Interviews befragten Experten ist indes ebenfalls keine Zunahme der Jugendgewalt feststellbar.

Bezüglich des Gewalttäteranteils unter Jugendlichen ergeben sich im Dunkelfeld deutlich höhere Werte als im Hellfeld. Dies ist damit zu erklären, dass die Mehrzahl der Taten nicht bei der Polizei angezeigt wird und somit im Dunkelfeld verbleibt. Insgesamt kann aber festgehalten werden, dass die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland, ca. 90%, nicht gewalttätig ist. Lediglich ein geringer Teil, darunter auch eine erhebliche Anzahl an Mehrfach-, bzw. Intensivtätern, fällt durch Gewalttaten auf. Aber auch dieser Anteil ist laut neuester Dunkelfeldstudie des KFN rückläufig.

Hinsichtlich der qualitativen Entwicklung von Jugendgewalt gibt es keine Belege für eine zunehmende Brutalität oder gesunkene Hemmschwelle bei der Ausführung von Gewalttaten.

Sehr uneinheitlich fallen hierzu die Aussagen der befragten Experten aus. Während aus Sicht des Hauptkommissars sowohl eine gestiegene Brutalität, als auch eine gesunkene Hemmschwelle bei Jugendlichen feststellbar ist, können sowohl Jugendgerichtshilfe, als auch Jugendrichter keine Veränderungen in dieser Hinsicht bestätigen. Für die Streetworker, sowie die Jugendpflege ist die qualitative Entwicklung von Jugendgewalt hingegen nicht abschätzbar.

3. Die Ethnisierung von Jugendgewalt

3.1 Vergleich der Gewaltbelastung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und deutschen Jugendlichen in Hell- und Dunkelfeld

Möchte man die Gewaltbelastung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund und deutschen Jugendlichen auf Basis der PKS-Daten miteinander vergleichen, ist zunächst zu beachten, dass nur die Zahlen von Deutschen und Nichtdeutschen gegenübergestellt werden können (vgl. Bundesministerium des Innern 2008, S.3). Jugendliche mit Migrationshintergrund, aber deutscher Staatsangehörigkeit werden nämlich in der PKS als deutsche Jugendliche mitgezählt und nicht gesondert erfasst (vgl. Walburg 2007, S.243). D.h., die PKS erfasst also lediglich die Staatsangehörigkeit und keine Daten zum Migrationshintergrund der Tatverdächtigen (vgl. Heinz 2008, S.19). Daher lassen sich Jugendliche und Heranwachsende mit Migrationshintergrund, aber deutscher Staatsangehörigkeit nicht von einheimischen Jugendlichen trennen (vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2006, S. 409). Spätaussiedler werden beispielsweise sofort nach ihrer Ankunft in Deutschland eingebürgert und zählen somit zu den deutschen Staatsbürgern (vgl. Bundesministerium des Innern/Bundesministerium der Justiz 2006, S. 412).

[...]


[1] Der Begriff Jugendgewalt wird im Rahmen dieser Diplomarbeit ausschließlich als physische Gewalt definiert. Hierzu zählen Körperverletzungsdelikte, sowie Gewaltkriminalität. Unter Gewaltkriminalität werden folgende Straftaten subsumiert: Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, räuberische Erpressung und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, Körperverletzung mit Todesfolge, Gefährliche und schwere Körperverletzung, Erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme und Angriff auf Luft- und Seeverkehr (Bundeskriminalamt Wiesbaden 2007, S.16)

[2] Polizeiliche Kriminalstatistik

[3] Als Jugendliche werden alle Personen ab 14 bis unter 18 Jahren definiert

[4] Als Heranwachsende werden alle Personen ab 18 bis unter 21 Jahren definiert

[5] siehe Abbildung 1

[6] siehe Abbildung 2

[7] siehe Abbildung 3

[8] siehe Abbildung 4

[9] Abbildung 4 verdeutlicht die Entwicklung der gefährlichen und schweren Körperverletzung

[10] Als Erwachsene werden alle Personen ab 21 Jahren definiert.

[11] Die Verurteiltenziffer (VZ) ist die Zahl der Verurteilten auf jeweils 100.00 der entsprechenden Bevölkerungsgruppe

[12] siehe Abbildung 6

[13] Innenministerkonferenz

[14] Im Rahmen der Studie wurde 1988 eine repräsentative Auswahl von knapp 1600 Schülern / innen aus NRW im Klassenverband befragt. 1996 wurde die Befragung mit identischem Erhebungsinstrument wiederholt (vgl. Mansel/Hurrelmann 1998, S.86ff)

[15] Im Rahmen der Studie wurden Gewalthandlungen wie folgt definiert:

Sachen von anderen absichtlich zerstört oder beschädigt / Jemanden absichtlich geschlagen oder verprügelt / Jemanden bedroht, damit er, bzw. sie tut, was Du willst / Jemandem eine Sache mit Gewalt weggenommen (vgl. Mansel 2001, S.28ff)

[16] siehe Abbildung 7 und 8

[17] Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen

[18] Bundesministerium des Innern

[19] Hierbei handelt es sich um die Städte Schwäbisch Gmünd, Stuttgart, München, Hannover, Kiel, Hamburg, Rostock und Leipzig (siehe auch Abbildung 9 und 10) (vgl. Baier et al. 2009a, S.95)

[20] siehe Abbildung 9 und 10

[21] Unter Gewaltdelikten werden im Rahmen der Studie Körperverletzung, schwere Körperverletzung, Raub, Erpressung, sowie sexuelle Gewalt subsumiert (vgl. Baier et al 2009a, S.62; S.65)

[22] Unter Gewaltdelikten werden im Rahmen der Studie Körperverletzung, schwere Körperverletzung, Raub, Erpressung, sowie sexuelle Gewalt subsumiert (vgl. Baier et al 2009, S.62; S.65)

[23] siehe Abbildung 11

[24] Im Rahmen der Studie wurden zwischen den Jahren 2000 und 2003 in Münster rund 7600 Schüler des 7. bis 10. Jahrgangs befragt, in Duisburg wurden zwischen den Jahren 2002 bis 2005 rund 12400 Schüler / innen der 7. bis 10. Klassen befragt (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.4f)

[25] siehe Abbildung 12 und 13

[26] Unter Gewaltdelikten werden im Rahmen der Studie folgenden Handlungen subsumiert: Raub, Handtaschenraub, sowie Körperverletzung ohne Waffen (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.8f)

[27] Unter schweren Gewalthandlungen werden im Rahmen der Studie folgende Handlungen subsumiert: Raub, Handtaschenraub, sowie Körperverletzung (vgl. Boers/Walburg/Reinecke 2006, S.8f)

[28] Siehe Abbildung 14

[29] siehe Abbildung 15

Ende der Leseprobe aus 162 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung von Jugendgewalt in Deutschland unter Berücksichtigung der Ethnisierungsdebatte
Untertitel
Sowie ursächlicher Entstehungsfaktoren und Maßnahmen der Prävention und Intervention
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Institut für Soziologie)
Note
1,5
Autor
Jahr
2010
Seiten
162
Katalognummer
V153994
ISBN (eBook)
9783640676972
Dateigröße
2051 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jugendgewalt, Jugendkriminalität, Abweichendes Verhalten, Gewaltforschung, Ethnisierung
Arbeit zitieren
Stefan Langbein (Autor:in), 2010, Die Entwicklung von Jugendgewalt in Deutschland unter Berücksichtigung der Ethnisierungsdebatte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/153994

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