Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlage: Der Neorealismus nach Kenneth N. Waltz
2.1 Begriffliche Klärung: System, Struktur und Einheit im Neorealismus
2.2 Drei Annahmen zu den Staaten
2.3 Drei Kriterien zur Bestimmung politischer Strukturen
2.4 Das Prinzip des „Balancing“ und „Bandwagoning” und die Rolle internationaler Organisationen
3 Frankreich und seine Rolle bei der GASP und ESVP - Entwicklung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
3.1 Vorbedingungen und Ausgangslage Frankreichs vor dem Maastrichter Vertrag
3.2 Die Gestaltung der GASP durch den Maastrichter Vertrag im Jahre
3.3 Der „Monsieur PESC (Politique étrangère et de sécurité commune, GASP)“ und die weiteren Entwicklungen durch den Vertrag von Amsterdam im Jahre
3.4 Der Gipfel von St. Malo 1998, Gründung der ESVP und der Nizzaer Vertrag
3.5 Ausblick auf die GASP und ESVP-Entwicklung unter Nicolas Sarkozy
3.6 Zwischenfazit
4 Frankreichs Politik in der GASP und ESVP aus der Sicht des Neorealismus: Aufgabe der gaullistischen Konzeption?
5 Fazit
6 Quellen- und Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Es vergeht momentan kaum eine Woche, in der einem beim Verfolgen der internationalen Nachrichten nicht der Name „Nicolas Sarkozy“ begegnet. Der sechste Präsident der V. Republik Frankreichs, der im Mai 2007 das Amt von Jacques Chirac übernahm, macht sich seither einen Namen als sogenannter „Hyperpräsident“ und füllt sein Amt in nahezu jedem Politikbereich aus (www.welt.de). So ist er neben seinem starken innenpolitischen Engagement auch im Bereich der Außenpolitik in allen Feldern tätig. In der zweiten Hälfte diesen Jahres wird er zudem in der Europapolitik stark in Vorschein treten, da er in diesem Zeitraum den Sitz des Ratspräsidenten in der Europäischen Union innehat (vgl. www.welt.de).
Ergebnisse seiner rastlosen Außenpolitik sind jetzt schon zu erkennen: Am 13.07.2008 konnte Sarkozy sein lange verfolgtes Projekt einer Mittelmeerunion endlich in die Tat umsetzen. Hierbei unterzeichneten 43 Staaten, bestehend aus den 27-EU-Mitgliedern und 16 Anrainern des Mittelmeers eine Erklärung, die die zukünftige Zusammenarbeit zwischen diesen Staaten stärken und verbessern soll (vgl. Die Rheinpfalz 2008: 1).
In dieser Ausarbeitung wird der Fokus jedoch auf einen spezifischen Bereich der französischen Außenpolitik gelegt: Im Mittelpunkt steht die französische Position in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Um die heutige Position Frankreichs und Sarkozys Ambitionen in diesem Bereich zu verstehen, muss man bei einer Analyse einige Jahre zurückgehen, um einen geeigneten Ausgangspunkt zu haben. Hierbei rückt das Jahr 1990 in den Fokus, da hier ein weltpolitischer Umbruch stattfand, der Frankreich dazu zwang, seine gesamte Außen- und Sicherheitspolitik und damit auch seine Europapolitik zu überdenken. Der Zusammenbruch des bis dahin die internationalen Beziehungen dominierenden bipolaren Systems war für Frankreich, wie auch für die restliche Welt, eine fundamentale Neuordnung, die Fragen aufwarf (vgl. Kaim 2007: 90):
- Wie sollte eine politische Neuorientierung im internationalen System aussehen?
- Von welchen Leitlinien und welchem Muster sollte die folgende Außenpolitik des Landes bestimmt sein?
Bevor die Antworten Frankreichs auf diese im Jahre 1990 aufkommenden, latenten Fragen in dieser Arbeit illustriert werden, bedarf es jedoch eines Analyserasters, um die französischen Reaktionen zu verstehen und interpretieren zu können. Als theoretische Grundlage dieser Arbeit wird der Neorealismus nach Kenneth Neal Waltz verwendet. Die Theorie dient als besonders geeignetes Analyseraster, da mit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Veränderung in der Struktur der internationalen Beziehungen stattfand, was im Sinne des Neorealismus auch eine Anpassung des außenpolitischen Verhaltens eines Staates nach sich ziehen sollte.
Nach der Darlegung der theoretischen Grundlage wird anschließend Frankreichs Rolle in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik vorgestellt. Dabei wird zunächst noch einmal die Ausgangslage um 1990 geschildert und das Konzept des Gaullismus kurz aufgegriffen, welches die oft widersprüchliche französische Politik verständlicher machen sollte. Darauf folgend wird die Rolle Frankreichs beim Vertrag von Maastricht erläutert, der die Gründung einer „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ (im Folgenden „GASP“) beinhaltete. Danach werden dann die Ergebnisse des Amsterdamer Vertrags vorgestellt, bevor der St. Malo-Gipfel erwähnt wird, welcher die Gründung einer „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (im Folgenden „ESVP“) nach sich zog, bevor dann die Ergebnisse des Nizzaer Vertrags dargelegt werden. Im letzten Unterpunkt dieses Gliederungsabschnittes wird noch die aktuelle Politik Sarkozys mit einem Ausblick aufgegriffen. Somit soll im gesamten dritten Gliederungsabschnitt deutlich werden, wie Frankreich sich seit 1990 bis heute europapolitisch positioniert hat.
Darauf folgend wird dann untersucht, inwieweit der weltpolitische Umbruch im internationalen System Frankreichs Sicherheits- und Verteidigungspolitik verändert oder auch erneuert hat. Dabei wird insbesondere darauf eingegangen, wie das außenpolitische Verhalten Frankreichs hierbei aus der Argumentation des Neorealismus heraus begründet werden kann. Hierbei wird die zentrale Frage der Arbeit beantwortet:
- Ist die Ideologie des Gaullismus nach wie vor prägend für die französische Außenpolitik oder kann man im Bereich der GASP und ESVP eine Aufgabe der gaullistischen Konzeption erkennen?
Nach dieser Darstellung werden dann noch mal die Ergebnisse im Fazit zusammengefasst vorgestellt. Dabei wird noch die Frage aufgeworfen, warum die Anwendung des Neorealismus in dieser Ausarbeitung problematisch sein könnte.
2 Theoretische Grundlage: Der Neorealismus nach Kenneth N. Waltz
Die Theorie des Neorealismus geht auf den im Jahre 1924 geborenen US-amerikanischen Politikwissenschaftler Kenneth N. Waltz zurück. In seinem 1979 veröffentlichten Hauptwerk „Theory of International Politics” legte er einen Ansatz dar, der internationale Beziehungen und das Verhalten von Staaten anhand der Struktur des internationalen Systems zu erklären versuchte (vgl. Albrecht / Hummel 1990: 94). Diese Vorgehensweise war gegenüber früherer Theorien der Internationalen Beziehungen wie dem klassischen Realismus oder dem Interdependenzansatz neu, da Waltz aus einer neuen Analyseebene heraus – der Ebene des internationalen Systems – Veränderungen und Phasen in der internationalen Politik erklären und beschreiben konnte (vgl. Krell 2003: 111).
1959 unterschied er bereits in seinem Werk „Man, the State and War“ „drei Bilder der Welt“, mit denen man internationale Politik erklären könne: „Die Ebene des Individuums“, die Ebene des politischen Systems eines bestimmten Staates, sowie „die Ebene des internationalen Systems“ (Schieder / Spindler 2006: 68 / vgl. Buzan / Jones / Little 1993: 22). In „Theory of international Politics“ ging Waltz dann insbesondere auf die dritte Ebene ein.
Er lässt sich aufgrund dieser Vorgehensweise der szientistischen Schule der Politikwissenschaft zuordnen, da er in seiner Theorie deduktiv, d.h. auf der Basis weniger zentraler Annahmen die Gesamtheit erfassend und erklärend, arbeitet (vgl. Schieder / Spindler 2006: 67).
2.1 Begriffliche Klärung: System, Struktur und Einheit im Neorealismus
Nach Waltz hat ein System (oder auch das internationale System) zwei elementare Bestandteile, die es definieren: Es besitzt eine Struktur („structure“) und Einheiten („units“), die innerhalb dieses Systems interagieren, oder „aktiv miteinander in Beziehung treten“ (Krell 2003: 111). Seine Theorie wird deshalb auch oft als „struktureller Realismus“ bezeichnet (vgl. Schieder / Spindler 2006: 66).
Weiter definiert er den Begriff der „Struktur“ als die Positionierung der in einem System befindlichen Einheiten. Dabei erklärt er, dass die Muster der gegenseitigen Interaktionen und gegenseitige Abhängigkeiten der Einheiten ausgeblendet und ignoriert werden müssen, da dies schon die strikte und sehr enge Definition vom Begriff der Struktur übersteigen würde. Einzig und allein entscheidend ist ihre Positionierung zueinander:
„To define a structure requires ignoring how units relate with one another (how they interact) and concentrating on how they stand in relation to one another (how they are arranged or positioned.” (Keohane 1986: 71).
Die Einheiten, die die Staaten verkörpern, sind in Waltz’ Verständnis formal gleich, erfüllen die selben Funktionen und werden als „uniforme Akteure“ betrachtet (Schieder / Spindler 2006: 71). Waltz beschreibt die Einheiten im internationalen System folgendermaßen:
„The states that are the units of international-political systems are not formally differentiated by the functions they perform.“ (Keohane 1986: 87).
Somit behandelt er die Staaten in seiner Theorie wie „black boxes“ deren innere Ausgestaltung keine Rolle spielt – egal ob es sich um Demokratien, Monarchien oder Diktaturen handelt (Schieder / Spindler 2006: 71).
2.2 Drei Annahmen zu den Staaten
In der neorealistischen Perspektive lassen sich drei zentrale Annahmen in Bezug auf die Staaten übergreifend festhalten:
1.) Das dominierende Interesse oder die höchste Präferenz jedes Staates im internationalen System ist, das eigene Überleben zu sichern, was sich durch „das Streben nach Erhalt der staatlichen und geographischen Integrität“ veräußert (Schieder / Spindler 2006: 71).
2.) Um das eigene Überleben zu sichern handeln die Staaten im Sinne einer „Zweck-Mittel-Rationalität“, jedoch wirkt die Unsicherheit über die Intentionen anderer Staaten suggestiv auf die eigene Handlungsentscheidung ein (Schieder / Spindler 2006: 71 / vgl. Frankfurter Rundschau 2006).
3.) Es gibt ein Kriterium anhand welchem sich die formal gleichen Staaten unterscheiden lassen: Die Fülle der ihnen zur Verfügung stehenden Machtressourcen („capabilities“), wobei hierunter nicht nur militärische, sondern auch ökonomische und soziale Ressourcen zu verstehen sind (vgl. Schieder / Spindler 2006: 72).
2.3 Drei Kriterien zur Bestimmung politischer Strukturen
Um politische Strukturen näher zu erläutern, zieht Waltz drei Kriterien zu deren Bestimmung heran: 1.) das Ordnungsprinzip, 2.) Eigenschaften der Akteure oder auch Funktionsspezifizierung und 3.) Unterschiede in Bezug auf der den Akteuren zur Verfügung stehenden Machtressourcen (vgl. Krell 2003: 111):
1.) Die einzelnen Nationalstaaten sind „zentralistisch und hierarchisch geordnet, insbesondere hinsichtlich des Gewaltmonopols“ und ihrer verfassungsmäßigen Ordnung (Krell 2003: 112). Das internationale System hingegen zeichnet sich als anarchisches Selbsthilfesystem aus, in dem jeder Staat für sein eigenes Überleben verantwortlich ist (vgl. Krell 2003: 112 / vgl. Lehmkuhl 1997: 80). Eine übergeordnete Gewalt, die das Gewaltmonopol innehat, fehlt wodurch sich jeder Staat darauf einstellt, gewaltbereit zu sein, um sich vor Gewaltanwendung anderer Staaten zu schützen (vgl. Krell 2003: 112).
2.) Das zweite Kriterium behandelt den „Character of the Units“ oder auch den Grad der funktionalen Differenzierung (Keohane 1986: 87 / vgl. Schieder / Spindler 2006: 73). Ein Nationalstaat in sich zeichnet sich durch seine funktionale Ausdifferenzierung, d.h. seiner Arbeitsteilung aus, die Staaten im internationalen System hingegen sind formal nicht voneinander differenziert (vgl. Keohane 1986: 87 / vgl. Buzan / Jones / Little 1993: 41). Sie müssen alle im anarchischen internationalen System das Überleben ihrer Bürger sichern (vgl. Krell 2003: 112).
3.) Das dritte Kriterium, welches politische Strukturen charakterisiert, bezeichnet er als „the Distribution of Capabilities“ (Keohane 1986: 92 / vgl. Lehmkuhl 1997: 81). Hierbei beschreibt Waltz unterschiedliche Konfigurationen der Machtressourcen von Staaten zueinander (vgl. Schieder / Spindler 2006: 73). Aufgrund der Tatsache, dass im internationalen System kein legitimes Gewaltmonopol den Staaten übergeordnet ist, welches die Staaten vor gegenseitigen Übergriffen schützen könnte, „konkurrieren sie um Sicherheit und Macht“ (Krell 2003:114). Aufgrund der verschiedenen Ressourcen von Staaten sind in seiner Theorie drei Machtverteilungen im internationalen System denkbar: Ein unipolares System mit der Vorherrschaft eines Hegemons, der mächtiger ist als alle anderen Staaten, ein bipolares System, in dem zwei Staaten eine deutliche Vormachtstellung gegenüber allen anderen Staaten haben und ein multipolares System, in dem es mehr als zwei Staaten gibt, denen mehr Machtressourcen als anderen zur Verfügung stehen (vgl. Schieder / Spindler 2006: 74).
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