Bedeutung und Funktion der Handarbeitsmotive in den Märchen der Brüder Grimm


Proyecto/Trabajo fin de carrera, 2010

151 Páginas, Calificación: 1,1


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
2.1 Definition des Begriffs Märchen
2.2 Entstehungsgeschichte und Erfolg der KHM
2.3 Die pädagogische Bedeutung der KHM

3 Die handarbeitende Frau im 19. Jahrhundert
3.1 Frauenbild in der der bürgerlichen Gesellschaft
3.2 Bedeutung der Handarbeit als typisch weibliche Tätigkeit
3.3 Mädchenerziehung- Erziehung durch Handarbeiten

4 Die Handarbeitsmotive in den Märchen der Brüder Grimm
4.1 Ursprung und Wesen des Spinnens und Webens
4.2 Bedeutung und Funktion des Spinnens und Webens in den KHM
4.3 Mythologische Vorbilder und übernatürliche Spinnhelfer

5 Wirkung der Märchen

6 Zusammenfassung

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang Märchentexte
8.1 KHM 9: Die zwölf Brüder
8.2 KHM 14: Die drei Spinnerinnen
8.3 KHM 24: Frau Holle
8.4 KHM 37: Daumesdick
8.5 KHM 49: Die sechs Schwäne
8.6 KHM 50: Dornröschen
8.7 KHM 53: Sneewittchen
8.8 KHM 55: Rumpelstilzchen
8.9 KHM 63: Die drei Federn
8.10 KHM 65: Allerleirauh
8.11 KHM 67: Die zwölf Jäger
8.12 KHM 79: Die Wassernix
8.13 KHM 105: Märchen von der Unke
8.14 KHM 156: Die Schlickerlinge
8.15 KHM 128: Die faule Spinnerin
8.16 KHM 161: Schneeweißchen und Rosenroth
8.17 KHM 179: Die Gänsehirtin am Brunnen
8.18 KHM 180: Die ungleichen Kinder Evas
8.19 KHM 181: Die Nixe im Teich
8.20 KHM 188: Spindel, Weberschiffchen und Nadel

1 Einleitung

Die Brüder Grimm sammelten ihre Kinder- und Hausmärchen (KHM) im 19. Jahrhundert, wobei ihr großer Erfolg vor dem kulturhistorischen Hintergrund jener Zeit gesehen werden muss. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Bedeutung und Herkunft der Handarbeitsmotive in den KHM. Anhand ausgewählter Erzählungen, in denen die Heldinnen textile Arbeiten verrichten, soll zum einen veranschaulicht werden, wo diese als typisch weibliche geltende Beschäftigungen ihren Ursprung haben und zum anderen erörtert werden, wie dadurch das vorherrschende Frauenbild des 19.Jahrhundert in den Märchen widergespiegelt wird. So wird zunächst die Entstehungsgeschichte der KHM betrachtet und die Entwicklung zum Erziehungsbuch skizziert, um dann die Frau, als vorrangige Rezipientin der Märchen, und ihr entsprechendes Rollenbild im 19. Jahrhundert zu erörtern. Nachdem die Bedeutung der Handarbeit in der Mädchenerziehung jener Zeit betrachtet wurde, werden verschiedene Märchen angeführt, in denen diese Formen der textilen Beschäftigungen eine große Rolle spielen. Dabei stößt man auf mythologische Ursprünge der Handarbeitsmotive und die verschiedenen Bedeutungen dieser Tätigkeiten sowohl im Märchen als auch die überragende Bedeutung für die Rezipierenden. Schließlich kann man den großen Erfolg der KHM damit begründen, dass das Lesepublikum Parallelen zwischen Realitätselementen im Märchen und ihrer eigenen Lebenswirklichkeit herzustellen vermochten.

2 Di e Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm

2.1 Definition des Begriffs Märchen

Lüthi (1968, 78f.) definiert den Begriff „Märchen“ (vgl. mhd. Maere, fnhd. Märe) als eine „kleine, kurze, berühmte Botschaft, Geschichte“. Es handelt sich dabei um kurze, mündlich überlieferte Erzählung wie bereits die Silbe –chen verrät. Darüber hinaus verweist die Diminuierung auch auf die Unverbindlichkeit oder auch Unglaubwürdigkeit: Märchen entsprechen nicht unserem naturwissenschaftlichen Weltbild, sondern erzählen von Wunderbarem, von Wundern, welche die Naturgesetze außer Kraft setzen (z.B. sprechende Tiere und Pflanzen) und als selbstverständlich gelten. Zitzlsberger (2007, S. 12) erklärt, dass es sich bei dem Wort „Märchen“ um einen Sammelbegriff handelt, der auch andere Geschichten aus dem Volksgut mit einschließen kann. Sie fasst unter diesem Begriff auch „Mythen, Sagen, Legenden, Erklärungsgeschichten (Ätiologien), realistische Geschichten, Tiergeschichten und so genannte Naturvölkergeschichten“ zusammen sowie Mischformen („Sagenmärchen, Tiermärchen, Mythen- oder Legendenmärchen“). Die Autorin erklärt weiter, dass man auch in den Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Brüder Grimm solchen Mischungen begegnet, denn unter den 200 Märchen der KHM zählt nur etwa ein Drittel zu dem, was man landläufig unter Märchen versteht, in denen also „Wunder, Zauber und Magie oder fantastische Elemente regieren. (Zitzlsberger 2007).

2.2 Entstehungsgeschichte und Erfolg der KHM

Rölleke (2004a), der führende Grimm- und Märchenforscher unserer Zeit, hat sich intensiv mit der Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen befasst. Er datiert den Beginn der Entstehungsgeschichte auf die Jahre 1802/1803, denn zu dieser Zeit studierten die Brüder Grimm in Marburg und bekamen dort auch den entscheidenden Anstoß zur Beschäftigung mit der „Volkspoesie“. Das Studium bei dem Rechtshistoriker Friedrich Karl von Savigny (1779-1861) sowie die Bekanntschaft mit dessen Schwager, dem romantischen Dichter Clemens Brentano (1778 - 1842), der sie mit den Bestrebungen der Heidelberger Romantik vertraut machte und die gleichsam initialzündende Begeisterung für die romantische Mittelalter-rezeption, waren die Faktoren, die die Grimms letztendlich zu Märchensammlern machten. In ihren Studienjahren wurden sie durch Savigny im historisch-kritischem Denken methodisch angeleitet und durch die Mitarbeit an der romantischen Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1805-1808) von Achim von Arnim und Clemens Brentano in die Praxis des Sammelns, Bearbeitens und Edierens historischer und volkstümlicher Texte eingeführt.

Im Jahre 1807 beschloss Brentano seine Wunderhorn-Sammlung durch Märchen zu ergänzen und bat die Brüder Grimm um Mithilfe. Brentano empfahl als Vorbild die Märchen des romantischen Malers und Schriftstellers Philipp Otto Runge (1777-1810) („Von dem Fischer und seyner Frau“ und „Van den Machandel-Boom“). Im Jahre 1810 planten die Brüder Grimm eine eigene Veröffentlichung, weil Brentano, trotz des Erhalts der ersten Aufzeichnungen, nichts mehr von sich hören ließ. Die Veröffentlichung der Brüder Grimm sollte sich in Unterschied zu Brentano durch starke Texttreue auszeichnen (Rölleke 2004a, S.31 ff.).

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm zogen nicht übers Land, sondern sammelten die Märchen in Hessen und Westfalen, so dass die mündlichen Überlieferungen hauptsächlich Beiträge von Kasseler Freunden und Verwandten waren. Viele Märchen wurden von jungen Frauen aus den gehobenen Ständen des Bildungsbürgertums beigetragen, die der französischen Sprache mächtig waren oder teilweise sogar französische Herkunft hatten. Rölleke (2004a, S.78) führt darauf zurück, dass sich einige Parallelen zwischen den KHM und denContes de Fées(frz. "Märchen") von Charles Perrault (1628 - 1703) finden lassen.

Auch Weber-Kellermann (1983, S.84) weist darauf hin, dass es vor allem die Frauen waren, die an Winterabenden, versammelt mit Spinnrocken[1]um den Feuerherd eines Hauses, gemeinsam sangen und sich Geschichten zum kurzweiligen Zeitvertreib und zur Arbeitserleichterung erzählten. Zu ihrem Repertoire gehörten Märchen, Ortssagen und auch Hexengeschichten, folglich fungierten diese Frauen als Traditionsvermittler.

Eine der wohl bekanntesten Beiträgerinnen war die Bäuerin Dorothea Viehmann (Abb. 1), die als bevorzugte Gewährsfrau der Brüder Grimm gilt (vgl. Lüthi 1996, S.57 f.). 1813 lernte sie die Brüder kennen und erzählte ihnen über 40 Märchen und Märchenvariationen, zu mindestens 36 Märchen. Wilhelm Grimm schrieb über sie "Einer jener guten Zufälle war es, dass wir aus dem bei Kassel gelegenen Dorfe Niederzwehren eine Bäuerin kennenlernten … Die Frau Viehmännin war noch rüstig und nicht viel über 50 Jahre alt … Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtnis". Besonders beeindruckt waren die Brüder Grimm davon, dass sie die Märchen immer wieder in unveränderter Wortwahl zu erzählen wusste. Der Anmerkung zu dem Märchen„Die faule Spinnerin“(KHM 128, Anhang 8.15), kann beispielsweise entnommen werden, dass diese Erzählung auf die mündliche Überlieferung der Viehmännin zurückgeht (Grimm et al. 2007, S.1074).

Faktisch gesehen trugen zwar mehr Männer (82) als Frauen (27) zur Sammlung der KHM bei, jedoch haben die Frauen erheblich mehr Märchen beigetragen (Sennewald 2004, S.29).

Die Tatsache, dass die ersten Märchenbeiträger fast ausnahmslos junge Frauen waren, die auch in der späteren Geschichte der KHM stets präsent bleiben sollten, spiegelt auf ihre Weise eine wohl seit dem frühen 18. Jahrhundert sich durchsetzende Tendenz: Das Märchenerzählen war in Deutschland zu einer Domäne der Frauen geworden. Dies ist für Auswahl und Art der Tradierung von nicht zu unterschätzender Tragweite (Rölleke 2004a, S.78). Geschlechterstereotypen, Vorstellungen von natürlicher Begabung und lebensvoller Erzählung wurden mit der Märchenerzählerin verbunden (Sennewald 2004, S.29). Sie steht damit für die innige Verbindung zwischen Leben und Narration.

Die Textgestalt der KHM, wie wir sie heute kennen, entstand durch mehrmalige Überarbeitung durch die Brüder Grimm, wodurch es Veränderungen von der ersten Auflage 1812 bis zur letzten Auflage zu Lebzeiten der Brüder Grimm 1857 gab.

So weisen die Brüder Grimm bspw. in der Vorrede des im Jahre 1812 veröffentlichten ersten Bandes auf die Treue der Wiedergabe hin. Ein Vergleich mit den Handschriften zeigt allerdings, dass die Grimms die mündlichen Texte überarbeitet hatten, da sie einen einheitlichen Märchenstil anstrebten. Bei Märchen, die sie in verschiedenen Versionen gehört hatten, versuchten sie zudem eine Urfassung herzustellen.

Allerdings äußerten vor allem gebildete Leute des 19. Jahrhunderts Kritik an diesem ersten Band. Sie sahen durch die ihrer Meinung nach zu dürftige Bearbeitung der Texte ihr ästhetisches Gefühl verletzt. Ebenso beklagten Pädagogen jener Zeit die fehlende Kindertauglichkeit aufgrund der Obszönitäten. Daraus wird ersichtlich, dass sich das Lesepublikum in erster Linie ein (Vor-) Lesebuch für Kinder wünschten. Die erste Ausgabe wird als Zwittergestalt bezeichnet, die das Werk zwischen Kinderbuch und wissenschaftlicher Dokumentation ansiedelt.

Obwohl Jacob Grimm den wissenschaftlichen Charakter der Sammlung beibehalten wollte, schloss sich Wilhelm Grimm der Forderung der Kritiker an (Rölleke 2004a, S.82). So erschien 1819 die zweite Auflage der beiden Bände mit einer veränderten Vorrede, in der es nun hieß, dass die KHM als „Erziehungsbuch“ dienen, da sie für das Kindesalter überarbeitet wurden und es keine anstößigen Motive und Ausdrücke mehr enthielte. Es wird deutlich, dass es den Brüdern zuerst auf „Treue und Wahrheit“ ankam, so betonen sie auch in dieser Vorrede, dass stilistische Elemente zwar von ihnen stammen, sie den Inhalt mit seinen Eigenarten jedoch so wiedergegeben haben wie sie ihn entgegengenommen haben.

Einige Veränderungen gegenüber der ersten Ausgabe sollen zumindest Erwähnung finden. Die Grimms ließen einige Märchen weg, die zu sehr auf die von Perrault hindeuteten und bauten mehr und mehr biedermeierliche Elemente und speziell bürgerliche Vorstellungen ein, z.B. das Bild von liebe – und gemütsvollem Mutter-Kind-Verhältnis, Betonung von kindlichem Gehorsam (z.B. Froschkönig), von Bravheit und Reinheit (Frau Holle). (Rölleke 2004a, S. 88 ff.).

Der Erfolg der KHM setzte jedoch nur langsam ein. Auch die 1825 erschienene, mit 7 Kupferstichen (Abb. 2) von Ludwig Emil Grimm illustrierte Ausgabe, die 50 Märchen umfasste und als sog. „kleine Ausgabe“ bezeichnet wurde ,brachte immer noch nicht den gewünschten Erfolg.

Erst die im Jahre 1837 erschienenen 3. Auflage der „Großen Ausgabe“ brachte durch die veränderten sozialen Gegebenheiten und andere Lese-gewohnheiten den großen Durchbruch (Rölleke 2004a, S. 93 ff.).

Die Rezeption seit der ersten Ausgabe im 19. Jahrhundert ist beachtlich. Die KHM entwickelten sich zum Besteller und wurde wiederholt in ihrer Wirksamkeit und Verbreitung mit der Bibel verglichen (Sennewald 2004, S.13).

Den Erfolg erklärte man sich zunächst dadurch, dass die veränderte „Kleine Ausgabe“ neugierig auf die „Große Ausgabe“ gemacht habe. Gleichzeitig veränderten sich die Rezeptionsbedingungen durch die Entstehung der Kleinfamilie, der Kinderstube und der Rolle der Mutter als Erzieherin. Folglich haben die Mütter geeigneten Lesestoff für ihren Nachwuchs gesucht, wobei auch die Schulpflicht die Attraktivität eines gedruckten Märchenbuches erhöhte. Hinzu kommt, dass die voranschreitende Alphabetisierung zu ungünstigeren Bedingungen für das mündliche Erzählen führte.

Im Jahre 1857 erschien die siebte Auflage der „Großen Ausgabe“, die 200 Märchen und 10 Kinderlegenden umfasst und deren Textgestalt die heutige ist. Die Vielzahl von Bearbeitungsschritten steht der Auffassung entgegen, dass die Märchen auf etwas ganz Früheres zurückgehen, so siedelt man die schließlich veröffentlichten Texte als „Buchmärchen“ zwischen Volks- und Kunstmärchen an.

2.3 Die pädagogische Bedeutung der KHM

Gemäß Hartinger (2001, S.1f.) verfolgten die Grimms ein dreifaches Ziel. Das erste Ziel war derDienst an der Poesie, denn wie andere Gelehrte ihrer Zeit (Hamann, Herder, Bürger, Gleim, der junge Goethe) empfanden auch die Brüder den Kunstbetrieb ihrer Zeit als „kraftlos, degeneriert, gekünstelt, ohne Ideen“ und wollten neue Vorbilder erschaffen. Diese suchte man in Bevölkerungsschichten, denen man ein besonders inniges Verhältnis zur Natur unterstellte, beispielsweise Bauern, Jägern, Hirten und Fischern, denn die Zeit war erfüllt von der Forderung Rousseau’s „Zurück zur Natur!“.

Das zweite Ziel der Brüder Grimm war derDienst an der Geschichte der Mythologie. Sie waren der Überzeugung, dass die von ihnen gesammelten Erzählungen Teile einer die Jahrhunderte überdauernden Überlieferung sind und auf vergangene Kulturzustände zurückweisen, deren Erinnerung nur das Volk, nicht die Gelehrtenwelt bewahrt habe.

Die dritte Absicht der Brüder Grimm bei der Herausgabe der KHM zielt auf diepädagogische Wirkung. Durch Hören oder Lesen der Märchen sollte die Phantasie der Kinder angeregt werden und die „kraftvolle, unverdorbene Poesie“ sollte ihre ästhetische Empfindsamkeit stärken, sodass sie aufnahmebereit gemacht werden für „alles Gute, Wahre und Schöne“. Vor diesem Hintergrund hat vor allem Wilhelm Grimm die Aufzeichnungen aus dem Mund der Gewährspersonen stark umgearbeitet (Hartinger 2001, S.3). Der Erziehungswert der Märchen wurde nicht zu allen Zeiten anerkannt, sondern war sogar lange außerordentlich umstritten. In der Aufklärungszeit standen Pädagogen, unter anderem Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), dem Märchen entschieden feindlich gegenüber. Viele der Gebildeten verachteten die Volkspoesie und verspotteten Märchen als „alberne, dumme und abgeschmackte Geschichten“. Unter dem Einfluss Immanuel Kants (1724-1804), der eindeutig zu den Gegenrednern der Märchen zählte, haben sich viele Erzieher und Schulmänner des 19. Jahrhunderts als Gegner des Märchens bekannt. Kant begründete seine Abneigung folgendermaßen: „Die Einbildungskraft der Kinder ist ohnedies stark genug und braucht nicht durch derartige Erzählungen noch mehr gespannt zu werden. Die Kinder sind nicht in ein Reich der Täuschung, sondern in das der Wahrheit einzuführen, und dieses hat ja des Interessanten und Wunderbaren so viel, dass man nicht zu Märchen seine Zuflucht zu nehmen braucht“ (Bolte 1930/1933, S.620 ff.).

Johann Gottfried von Herder (1744-1803) war der Erste, der den hohen Erziehungswert erkannte. Im Gegensatz zu Kant vertrat er folgende Ansicht: „Im Märchen liegt eine ewige Ernte an Lehren der Weisheit. Keine andere Dichtungsart versteht dem menschlichen Herzen so feine Dinge so fein zu sagen, wie das Märchen (…). Ein Kind, dem Märchen nie erzählt worden sind, wird ein Stück Feld in seinem Gemüt behalten, das in späteren Jahren nicht mehr angebaut werden kann“ (Bolte 1930/1933, S.621). Nach Ansicht einiger gebildeter Männer des 19. Jahrhunderts eigneten sich Märchen demnach vor allem zur ästhetischen Ausbildung des Kindes und sollte eine bevorzugte Stellung im Unterricht der ersten Schuljahre beanspruchen.

Neben den künstlerisch-ästhetischen sind es besonders die ethisch-sozialen Werte, die Märchen zu einem wertvollen Faktor der Erziehung machen würden. Das Kind bekommt den Glauben an eine moralische Weltordnung, denn das Gute siegt immer über das Schlechte. Zudem werden „Treue, Frömmigkeit, Ausdauer und Fleiß, reiner Sinn, Barmherzigkeit und alle die anderen Tugenden“ belohnt und Untreue und Laster werden bestraft (Bolte 1930/1933, S.623). Nachdem Generationen von Pädagogen die Grimm’sche Überzeugung von der Anregungskraft und kreativen Potenz der Märchen für Kinder im Schulalter weitergereicht haben (Geiger 1972, S. 248-257), fehlt nun noch eine konträre Auffassung, wie die von Otto Gmelin (1977). Für Gmelin besteht die wesentliche Aufgabe der Märchen darin, Kinder auf ihre künftige Rolle in der Gesellschaft vorzubereiten. Durch Märchen und andere Geschichten, die Erwachsene ihnen erzählten, sollen die Kinder lernen, wie sie später zu denken und zu handeln haben. Allerdings hält Gmelin (1977) es für problematisch, dass dadurch den Kindern sowohl politische wie moralische Wunschvorstellungen der älteren Generation vermittelt würden. Er weist darauf hin, dass Kinder leicht verführbar sind und jede Geschichte ohne zeitlichen Abstand verstehen und sich mit ihr oder mit einer bestimmten Person, meist mit dem Helden, identifizieren.

Faktum ist, wie Berger und Luckmann (1969) verdeutlichen, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Bildungsraum der bürgerlichen Familie „Kunstpflege“ durch Lese- und Erzählnachmittage, Hausmusik und Laienspiel betrieben wurde und dass Romane, Kinder- und Mädchenbücher die soziale Wahrnehmung modellierten und somit einen wichtigen Teil zu der „gesellschaftlichen Konstruktion“ im bürgerlichen Lebens-zusammenhang beitrugen. Die Mutter sollte, so die herrschende Auffassung des Bürgertums, die Tochter auf die Aufgabe im Haus, in der Familie und bei der Kindererziehung vorbereiten (Ladj-Teichmann 1983, S.100).

Franz (2008, S.75) erläutert den Werdegang des Volksmärchen als Erziehungs- und Bildungsmedium vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Er erklärt, dass zunächst, zur Zeit der Romantik, moralische Kindergeschichten und Lesestücke nicht mehr gefragt waren und dass mit dem Aufkommen einer literarästhetischen Zielsetzung, die entscheidende Lücke für die KHM der Brüder Grimm entstand. Gewünscht wurde in der Literatur nicht fehlende Moral oder Antimoral, aber immer mehr versteckte Moral, die Franz (2008, S.76) als „latente Moral“ oder „Latenz der Moral“ umschreibt. Für ihn erscheint der Aspekt der Moral als entscheidender Auslöser für die schulische Grimm-Rezeption, allerdings zählt auch dazu, dass die von den Brüdern Grimm im Volk gesammelten Märchen- ebenso wie andere „Volkspoesie“- von Anfang an als nationales Kulturgut gesehen wurden. Diese Gedanken gingen schon von Johann Gottfried Herder aus und setzen sich bei den Sammlern und Herausgebern der Romantik fort.

Auch der politische Hintergrund jener Zeit, die Unterdrückung durch Napoleon und die Befreiungskriege beeinflussten die Entwicklung zum Erziehungsbuch. Im 19. Jahrhundert standen immer wieder Großmutter und Mutter als erzählende Mittlerinnen im Vordergrund. Bereits um 1800 ging die paternal, also väterlich bestimmten Erziehung allmählich auf die maternal zentrierte in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts über. Mit der Überantwortung des Märchens an die Mutter als Erzählinstanz erreichten Erzählen und Zuhören eine neue Dimension. Märchen wie die KHM seien „konzipiert als mütterliches Sprechen zu den Kindern oder (…) sie sollen zu Menschen sprechen wie eine Mutter zu (ihren) Kindern (…) spricht, um sie in einem erzieherischen Sinn für Poesie, für deren tiefe Wahrheit und Moralität empfänglich zu machen“ (Steinlein 2000, S.16). Erinnerungen, wie die der Schriftstellerin Margarete Link (1841-1917), lassen erahnen, wie ein biedermeierlicher Vorleseabend ausgesehen haben mag: „Das allerbeste aber war der Sonnabend, den der Vater in einem Verein zubrachte. Während wir sonst unser Butterbrot zeitig bekamen und dann bald ins Bett mussten, durften wir an diesem Abend mit der Mutter am zierlich gedeckten Tische Tee trinken. Dann aber kam das Beste. Neben ihr auf dem Sofa sitzend lauschten wir den allerliebsten Geschichten, die sie erzählte. Ich wollte nur immer den Kohlepeter hören, dessen seltsame Abenteuer wohl aus der Phantasie der Mutter entsprangen. Marie zog die sinnigen Märchen von Grimm und Bechstein vor.“ (Lenk 1911, S.18f.).

Hartinger (2001, S.3) resümiert: „Pädagogische Wirklichkeit, mythologisches Relikt und poetische Schöpfung, das sind die drei Marschrichtungen, auf denen die Brüder Grimm in das Dickicht der Märchenüberlieferung hinein marschierten“. Nach wie vor erfährt die Gesamtheit der Märchen und erfahren einzelne Märchen eine Deutung in den drei Richtungen und das Märchen erweist sich als eine Textsorte zwischen Realität und Poesie. Den einen gilt es als Abbild einer vergangenen oder aber zeitlos gegenwärtigen Realität, den anderen als praktikables Mittel zur Erzeugung einer wünschbaren zukünftigen Realität in der Erziehung und wieder anderen als Ausdruck völlig wirklichkeitsgelöster menschlicher sprachlicher Schöpfungskraft (Hartinger 2001, S.3).

In den durch Übersetzung, Bearbeitung und Herausgabe entstandenen, für die damalige Zeit charakteristischen Texten der KHM spiegelt sich auch das Rollenbild der Frau in dieser Zeit wieder. Die Töchter bürgerlicher Familien hatten ihre Jugend vor allem damit zu verbringen, sich mit Handarbeiten und anderen häuslichen Beschäftigungen auf die spätere Ehe vorzubereiten. Diese antifeministische Auffassung und auf Rousseau zurückgehende Tradition von Mädchenerziehung (Rousseau 1971) wurde auch in den Grimmschen Märchen vermittelt.

3 Die handarbeitende Frau im 19. Jahrhundert

3.1 Frauenbild in der der bürgerlichen Gesellschaft

Das Frauenbild der Brüder Grimm wurde durch das herrschende Frauenbild des 19. Jahrhunderts geprägt. Gemäß Rölleke (2004b, S.199) gingen sie offenbar mit den Idealvorstellungen von der Rolle der bürgerlichen Frauen und Töchter ihrer Zeit konform, denn sie bewerteten Eigenschaften wie bspw. Fleiß, Ordnung, Reinlichkeit und Demut in den Beiträgen sehr positiv, wahrscheinlich sogar ein wenig gesteigert. Demnach scheinen diese zu den von ihnen geforderten und geleisteten Tugenden gehört zu haben. Rölleke (2004a, S.197) vermutet, dass das Bild, das sich die damals 20jährigen bei Beginn ihrer Märchensammlung von der Frau machten, die Idealvorstellungen, die sie entwickelt haben mögen, lediglich durch Mutter, Tante und Schwester bestimmt waren, da beide sehr lange unverheiratet blieben. Im Folgenden soll die Rolle der Frau im 19. Jahrhundert, die mit dem Frauenbild der Brüder Grimm und damit auch der Charakteristik ihrer Märchenheldinnen übereinstimmt, erarbeitet werden sowie die große Bedeutung der textilen Verrichtungen für Frauen des Grimmschen Jahrhunderts erläutert werden. Anschließend wird die Bedeutung der Erziehung durch Handarbeiten näher betrachtet. Zuträgerinnen wie auch Rezipientinnen waren vorrangig gutsituierte bürgerliche Frauen des 19. Jahrhunderts, so liegt der Fokus der Ausführungen eher auf der bürgerlichen Frau.

Bachmann und Mitautoren (1990, S.68f.) beschäftigten sich mit der Funktion und dem Ideal des Frauenbildes des 19. Jahrhunderts, und erklärten, dass die zunehmende Industrialisierung und die Abschaffung der feudalen Strukturen sowie die Auflösung der Großfamilie und die Erarbeitung neuer Gesetzte (Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit) gegen Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer schnellen Veränderung der sozialen und politischen Wertvorstellungen geführt hätten. Diese Entwicklung habe sich unterschiedlich in Arbeiter- und Bürgerfamilien auf das Rollenbild der Frau und ihre Bildungsmöglichkeiten ausgewirkt.

Über das gesamte 19. Jahrhundert erhielt sich auf dem Lande die „Sozialform der gemeinsam wirtschaftenden Haushaltsfamilie“. Die Frauen waren arbeitsteilig und mitverantwortlich in den Arbeitsprozess integriert, so dass sie sich vorrangig mit Haushalt, Stall- und Gartenarbeit beschäftigten (Weber-Kellermann 1983, S.75).

Im Winter trafen sich die ländlichen Frauen in Spinnstuben, um dort zu spinnen und sich auszutauschen (Weber-Kellermann 1983, S.76 f.). Gemäß der Besitzhierarchie gab es Spinnstuben für Bauerntöchter und andere für die Mägde. Spinnstuben dienten, abgesehen als Örtlichkeiten des Fleißes (es musste ein bestimmtes Arbeitspensum absolviert werden), als Orte der „Werbungsbräuche und halböffentlichen Verlobungen“ (Weber-Kellermann 1983, S.76 f.). Die Entscheidung für einen Ehemann hing weniger von tiefen Gefühlen ab, als von der möglichen Vermehrung des Hofbesitzes (Weber-Kellermann 1983, S.80). Auch die Frauen auf dem Lande im 19. Jahrhundert fügten sich in die von Kindheit an als Selbstverständlich erlebter, patriarchalischer Ordnung. So kam es in dieser Bevölkerungs-schicht vor, dass junge Ehefrauen von ihren Gatten wie ein Sachbesitz betrachtet wurden, was häufig tatsächlich der „dörflichen Logik“ entsprach (Weber-Kellermann 1983, S.81).

Die Mädchen des Bürgertums wurden oft sehr jung mit teilweise doppelt so alten Männern in „gesicherter Position“ verheiratet. Für diese Männer übte die naive Kindlichkeit ihrer erst 16-17jährigen Ehefrauen einen besonderen Reiz aus. Ein geistiger Bildungsstand schien nicht nötig und wurde auch nicht vermisst, weil sie direkt von der elterlichen Abhängigkeit in die eheliche überwechselte. Ausschließlich die Eheschließung vermittelte nun dem weiblichen Wesen einen Erwachsenenstatus und befreite es aus dem „Fräulein“-Stand. Für die Biedermeierzeit (1815-1848) galt dies verstärkt als Norm und als Vorbereitung dafür reichten praktische Kenntnisse des Mädchens aus (Weber-Kellermann 1983, S.56). Zu den praktischen Kenntnissen kamen gesellschaftliche Fertigkeiten hinzu, wie Klavierspielen, Singen und Zeichnen (Weber-Kellermann 1983, S.61). Geheiratet werden musste, und der „Brautstand“ war der begehrteste aller Stände. Dabei ging es auch oft vornehmlich um die Versorgung (Weber-Kellermann 1983, S.57).

Für die bürgerliche Frau galt die Erwerbstätigkeit als unangebracht, denn sie sollte ihrer einschränkenden ternären Bestimmung als Mutter, Gattin und Hausfrau folgen, während dadurch die Öffentlichkeit, also die Arbeitswelt und Politik, zur reinen Männerdomäne erklärt wurde. Der Frau wurde eine angeborene „Empfindsamkeit, Intuition, Güte und Gleichmut“ nachgesagt, während man dem Mann entgegengesetzte Wesensmerkmale zuschrieb, wie „Rationalität, Aktivität, Stärke und Aggressivität“. Bachmann und Mitautoren (1990, S.68) stellten fest, dass die „Vervollkommnung und Erfüllung“ dieser „dualen Teile“ in „gegenseitiger Ergänzung“ stattfinden sollte. Sie betonten, dass der absolute Verzicht auf Freiheit und Selbstständigkeit der zukünftigen Ehefrau natürlich nicht angeboren sein kann, sondern ihr durch Vorleben und gezielte Erziehung reizvoll gemacht werden muss.

Habermas (1971) erklärt, dass die „Eroberung der Außenwelt und die Durchsetzung bürgerlicher Rechte“ also unverkennbar dem Mann vorbehalten war, der sich nach getaner Arbeit in seine Familie zurückzog und sich regenerierte. Frauen des Bürgertums hatten höchstens im Salon die Möglichkeit mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu kommen. Vossler (1974, S.16) macht deutlich, dass diese Trennung der „Arbeitsbereiche“ in weibliche und männliche Aufgabenkreise zudem bei der Frau die Entwicklung von Charaktereigenschaften verhindern sollte, die die Männer in der Auseinandersetzung mit den veränderten Produktionsweisen und in Konkurrenz zu anderen Menschen ausprägten. So war es der Mann, der den wachsenden Widerspruch der gesellschaftlichen Realität zu der bürgerlichen Ideologie der Freiheit, der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit wahrnahm. Ladj-Teichmann (1983, S.86 f.) betont, dass die Frauen nun umso moralischer und „sittlicher“ werden sollten, je unmoralischer der Kampf, draußen im „feindlichen Leben“ wurde. So bestimmte man(n), dass die Frau zur „Hüterin der bürgerlichen Moral“ werden sollte. Durch die Sozialisation zur „sittlichen Frau“ sollte sie möglichst allen Verführungen der neuen bürgerlichen Freiheiten und den Möglichkeiten des Lebens ohne einen sie beherrschenden Mann widerstehen wollen und können (Ladj-Teichmann 1983, S.88).

Trotzdem war das beherrschende Prinzip des ganzen Lebens einer bürgerlichen Existenz, Arbeit gepaart mit unablässigem Streben nach erhöhter Leistung (Ladj-Teichmann 1983, S.89) und da eine „sittliche“ Frau sich jedoch nicht in einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit bewähren konnte, musste sie ein Tätigkeitsfeld innerhalb des Hauses finden, das ihr ermöglichte, die bürgerlichen Arbeitstugenden bei paralleler Abordnung schwerer Arbeit an Angestellte fortwährend zu exerzieren und darzubieten. Es musste eine Tätigkeit sein, die nicht den Eindruck erweckte, dass sich die besagte Klasse die „statuserhaltende Freistellung“ ihrer weiblichen Angehörigen von körperlicher Arbeit nicht leisten könne. Der Gesinnung der Bürger entsprach die künstlerische und textile Arbeit, denn das zu verarbeitende Material war relativ billig und nach langwieriger Handarbeit entstand daraus ein repräsentatives oder sogar prachtvolles Objekt. Ladj-Teichmann (1983, S.89) erklärt, dass sich mithilfe der Textilarbeit „das im gesellschaftlichen Bewusstsein dominierende protestantische Leistungsethos mit dem statuserhöhenden Ausschluss von der außerhäuslichen Erwerbsarbeit“ versöhnt hätte. Die Frauen repräsentierten durch ihr Verhalten die gesellschaftliche Position ihrer Familie, imitierten sozusagen den untrennbaren Bestandteil des Verhaltens von Männern und Frauen der feudalen Oberschicht. Die Untersuchungen weiblicher Handarbeiten in bestimmten Werken des 19. Jahrhunderts (Schadow, Begas und Ramboux) durch Blisniewski (2001, S.4), veranschaulichen, welches Frauenbild in jener Zeit vorherrschte. Der Kulturhistoriker stellt fest, dass es sich bei der Darstellung von handarbeitenden Frauen in der Kunst, keineswegs um ein Genremotiv handelt, sondern dass die dargestellten Frauen von den zumeist männlichen Künstlern zur Nachahmung dieses Ideals aufgefordert wurden, also zur Tugendhaftigkeit ermahnt wurden. Demnach kann man auch aus den Kunstwerken des 19. Jahrhundert das Rollenbild der Frau ableiten. So zieht bspw. Weber-Kellermann (1983, S.52) bei ihrer Untersuchung des Frauenlebens im 19. Jahrhundert die zeitgenössische Kunst heran. Sie findet die biedermeierliche Bürgerfrau als kindlich naive Mutter inmitten ihrer braven Kinder stehend vor; ein Baby wie eine Puppe im Arm haltend.

Das Bildnis „Mutter und Kind am Fenster“ von Josef Karl Raabe (1780-1846) stellt die biedermeierlich gekleidete junge Frau als Verkörperung jenes zeitgemäßen Frauenideals dar, von dem gesagt wurde: „diejenigen seien die besten, von denen man am wenigsten spricht“. Folgerichtig erfüllten die so genannten „feinen“ Handarbeiten der Frauen des mittleren und gehobenen Bürgertums verschiedene gesellschaftliche Normen zugleich (Ladj-Teichmann 1983, S.90f.):

- die Demonstration der Freistellung von Lohnarbeit als klassenunterscheidendes Merkmal,
- die Demonstration von beständiger Arbeit und Fleiß (Industriösität) als kapitalistisches Ideal und
- die privilegierte Bildung der Männer durch Erwerbsarbeit als klassenerhaltendes Merkmal

In diesem Zusammenhang äußert Zischka (1978, S.12) kritisch, dass die mühselige und auch qualifizierte „feine“ Handarbeit als „Beschäftigung“ oder „Hausarbeit“ und nicht als Arbeit bezeichnet und betrachtet wurde (und wird), eben weil sie sich nicht über den Markt austauscht. Dies sei ein Problem, das die (Frauen-)Arbeit im Haushalt heute noch entscheidend prägt. Damals wurde am Umfang der standesgemäßen, unbezahlten Textilarbeit die Aktivität der einzelnen Frau gemessen. Ladj-Teichmann (1983, S.172) weist darauf hin, dass die handarbeitende Ehefrau im Biedermeier durchaus auch so genanntes „Nadelgeld“ durch den heimlichen Verkauf der selbstproduzierten „feinen“ Handarbeiten verdienen konnte. Der Begriff „Nadelgeld“ verdeckt jedoch die wichtige Tatsache, dass ihre Tätigkeit Arbeit war und sich von der stofflichen Seite her kaum von der Arbeit der Heimarbeiterinnen unterschied. Müller (1977) ergänzt, dass dieses heimlich erworbene Geld vorrangig für die eigene, teure Garderobe verwendet wurde, weil aufwendige Kleidung zur Demonstration des sozialen Status unabdingbar war. Twellmann (1976, S.27) unterstreicht die Wichtigkeit aufwendiger Kleidung für Töchter bürgerlicher Kreise, weil ihre Heiratschancen in dem Maße stiegen, wie sie durch teure Kleidung signalisieren konnten, dass sie einem wohlhabenden Hause abstammten. Ladj-Teichmann (1983, S.175) fügt hinzu, dass die Frauen des nichtvermögenden Bildungsbürgertums gemeinsam für die teure Ausbildung und Berufslaufbahn eines männlichen Familienmitgliedes aufkamen (z.B. für den Militärdienst als „Einjährig-Freiwilliger“ (seit 1815) in der preußischen Armee). Die Autorin bringt einen weiteren, nicht uninteressanten Gesichtspunkt ein, indem sie die Vermutung äußert, dass die in der Wohnung ausgestellten selbstgemachten, verzierten Gegenständen die Gegenwart von Frauen und ihre Fähigkeit zu nützlicher Arbeit dokumentierten. So sei es durchaus denkbar, dass wohlhabende Frauen sich durch die sinnlich erfahrbare Tätigkeit und ihre Ergebnisse ständig ihrer selbst versicherten („Ich bin da!“).

3.2 Bedeutung der Handarbeit als typisch weibliche Tätigkeit

Der Textilwissenschaftler Blisniewski (2009, S.147) beschäftigt sich mit Handarbeiten kulturhistorisch und veranschaulicht anhand diverser Beispiele, dass die Frau, wenn sie als tugendhaft gelten wollte, seit jeher besondere Fähigkeiten im Bereich des Spinnens, Webens, Stickens, Häkelns und Klöppelns erwerben musste. Er stellt heraus, dass Handarbeiten schon immer untrennbar mit weiblicher Tugendhaftigkeit und Sittsamkeit verwoben wurden, insofern, da alle textilen Techniken große Ausdauer und Geduld und eine hohe Genauigkeit und Gleichmäßigkeit in der Ausführung sowie manuelle Geschicklichkeit erfordern (Blisniewski 2001, S.5).

Mit anderen Worten, ein Mann, dessen Frau sich stets mit Handarbeiten zu beschäftigen wusste, könne sich glücklich schätzen, weil so ein konzentriert arbeitendes Frauenexemplar jeglicher Versuchung entsagen würde und folgerichtig eine treue Lebensgefährtin sein könne.

Grundsätzlich führt eine kulturhistorische Beschäftigung mit dem Thema „Handarbeiten“ deutlich vor Augen, dass das Patriarchat eine ungezähmte Frau nicht dulden kann, weil sie als sexuell selbstbestimmte, also „wilde“ Frau, eine Gefahr für die herrschende Gesellschaftsordnungen darstellen würde (Blisniewski 2009, S.127f.). Das Bild der triebhaften Frau hatte seinen Ursprung bereits im Sündenfall Evas. Der Sündenfall wurde somit schon früh in der Geschichte „als sexuelle Verfehlung der Ur-frau gedeutet (Blisniewski 2009, S.128).

Infolgedessen ist es nicht erstaunlich, dass Männer seit jeher von ihren Ehefrauen fleißiges Handarbeiten erwarteten. Den Sprüchen Salomons im Alten Testament kann man entnehmen, dass „Gottesfurcht und rastloses Arbeiten“ zusammengehören. Auch die Mischna Ketubbot (Heiratsverträge) des Talmuds gehen auf diese Thematik ein. Ebenso stellt der Rabbi Elieser einen Zusammenhang zwischen dem Nichtstun und Unzucht her, sodass folgerichtig eine brave Frau zwangsläufig auch eine arbeitende Frau sein müsse. Im jüdischen, wie auch christlichem Denken herrscht demnach ein (von Natur) aus negatives Frauenbild vor, welches den Mann veranlasst, seine Ehefrau durch Handarbeiten ans Haus zu binden und zu domestizieren (Blisniewski 2009, S.128).

Frauen konnten natürlich nicht permanent von Männern überwacht werden, so dass es am besten war, wenn sie intrinsisch motiviert dem Idealbild der tugendhaften, also handarbeitenden Ehefrau nacheiferten. Man glaubte, dass dies durch eine gezielte Mädchenerziehung (vgl. Kapitel 3.3) erreicht werden könne. Aus der Perspektive der Männer muss es von Vorteil gewesen sein, wenn ihre gläubigen Frauen, Maria, deren Leben „aufs Engste mit der Woll- beziehungsweise Textilarbeit“ verbunden gewesen ist, aus freien Stücken nacheiferten. Maria wird in apokryphen Evangelien als die tugendhafteste Frau des Christentums beschrieben. Wer sie als Idealbild für sich entdeckte, wird ein Leben als keusche, fleißige und demütige Hausfrau angestrebt haben (Blisniewski 2009, S.138 f.).

Blisniewski (2001, S.6f.) liefert noch weitere Belege für die Verbindung von Tugendhaftigkeit und Wollarbeit, die auch aus der Antike überliefert wurden. Der Autor merkt jedoch an, dass Frauen durchaus auch erkennbare „Freude und Lust an manuellem Tun und am Gestalten mit Wolle und Flachs“ haben können (Blisniewski 2009, S.126).

Neben der Bedeutung für Tugendhaftigkeit und Sittsamkeit gab es aber auch pragmatische Gründe für das Handarbeiten. Frauen, die auf dem Bauernhof lebten und arbeiteten, spannen entweder für die Kleidung der Familie oder für die eigene Brautausstattung. Wenn sie als Teil des Lohnes ein kleines Flachsfeld zu eigen hatte, dann spannen sie für die Brautausstattung oder sie mussten als Teil ihrer Dienstverpflichtung auf dem Hof spinnen (wöchentlich im Winter z.B. 12 Stück Flachs =12 Bund zu 60 Faden zu ca. 5 Fuß (hochl) (Weber-Kellermann 1983, S.75).

Nicht zu vergessen sei, dass Frauen aktiv, aber eher im Hinterhalt, durch ihre Wollarbeiten bei einer politischen (Um-)Gestaltung, mitwirken konnten (Blisniewski 2009, S.126) Abgesehen von den unterschiedlichen Gründen, warum Frauen sich der Handarbeit widmeten, sei auf die Vorteile dieser manuellen Tätigkeiten verwiesen, denn Handarbeiten sind in der Regel „saubere und leise durchführbare Tätigkeiten“, bei denen die Frau sich gleichzeitig noch um ihren Nachwuchs kümmern konnte (Blisniewski 2001, S.5).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Handarbeit untrennbar mit der „Geschichte der Geschlechterverhältnisse sowie der Rollenerwartung“ verbunden ist (Blisniewski 2009, S.125). Frauen beschäftigten sich vorwiegend mit dieser Tätigkeit, um die Erwartung ihrer Männer zu befriedigen, also um das Patriarchat nicht zu gefährden.

Bechthold (1988, S.295) weist darauf hin, dass Frauen in der Hinwendung zu textilen Handarbeiten in gewisser Weise in geistiger Passivität verharren, weil sie auf Bildungsmöglichkeiten durch Lektüre und Teilhabe an öffentlicher Kommunikation verzichten. Das Patriarchat behielt die Oberhand, weil Frauen des 19. Jahrhunderts zunächst nicht die gleiche Bildung wie Männer erhielten und durch Handarbeiten weiterhin domestiziert wurden.

Um den Erfolg der Grimm’schen Märchen erklären zu können, muss das Frauenbild jener Zeit erfasst werden, denn so ist es begreiflich, warum sich die Rezipientinnen durchaus gut mit den handarbeitenden Heldinnen der Erzählungen identifizieren konnten, und warum man die KHM erfolgreich als Erziehungsbuch vermarkten konnte.

3.3 Mädchenerziehung- Erziehung durch Handarbeiten

Bachmann und Mitautoren (1990, S.68) erklären, dass der Verzicht auf öffentliche Teilnahme der Frau durch eine auf ihre Aufgabe vorbereitete Erziehung antrainiert werden musste. Man sah es demnach als notwendig an, bei der Mädchenerziehung durch eine spezielle Belehrung Charaktereigenschaften auszuprägen, die zu denen der Männer im Gegensatz standen und als „Geschlechtscharaktere“ begriffen wurden (Hausen 1976). Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der, dass manche Gelehrten die Natur der Frau als triebhaft einstuften (vgl. Kapitel 3.2), so dass die entscheidende Sozialisationsfunktion manueller Tätigkeiten in der Unterwerfung des Körpers unter einer regelmäßigen Bewegung lag (Treiber und Steinert 1980, S.112).

Treiber und Steinert (1980) zeigen auf, dass die „mechanische, sich stets wiederholende Verrichtung bei der zugewiesenen Hand-Arbeit (…) direkt auf ihr klösterliches Vorbild: auf die monotone Arbeit des Mattenflechtens“ verweisen. Die Autoren entwickeln den Disziplinierungseffekt der Handarbeiten dahingehend weiter, dass sie Strick- und Nähnadeln „als äußere Stützen legitimierter Gewalt“ interpretieren, durch die ein Bezwingungsvorgang vollzogen werden kann (Treiber und Steinert 1980, S.104). Der von „außen angetragene Zwang“ führte in der Regel zu einem freiwilligen Mitmachen oder sogar zu einem inneren Bedürfnis der Bezwungenen. Demzufolge herrschte der Gedanke, dass die „feineren“ Handarbeiten ebenso zur Unterdrückung der sexuellen Bedürfnisse der Frau dienlich seien, in der bürgerlichen Welt des sexualfeindlichsten Jahrhunderts vor. (Ladj-Teichmann 1983, S.196). Folglich wurde Keuschheit im 19. Jahrhundert zum „heiligsten Gut“ der Frau erklärt.

Der Schriftsteller, Pädagoge und Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) war durch seine Schriften, u.a. dem Erziehungsroman „Emile oder über die Erziehung“ (Rousseau 1971) maßgeblich an dem Idealbild, welches man sich von der Frau machte, beteiligt. 1762 erschien sein Roman und es ist verwunderlich, dass selbst inmitten der Aufklärung das Frauenbild der Handarbeitenden noch tradiert und als wünschenswert propagiert wird. Als wichtiges Detail in der Erzählung ist hervorzuheben, dass Sophie (die versprochene Frau für Emile) alle diese Tätigkeiten mit Vergnügen verrichtet, die Arbeit für sie also keine Qual darstellt, sondern ihr sogar Spaß bereitet. In seiner Nachfolge zum Ausgang des 18. Jahrhundert, wurde das Ideal zur Bestimmung des Weibes weiterentwickelt (Ladj-Teichmann 1983, S.87). Man suchte bei der Erziehung der folgenden Generation Mädchen dieses Idealbild, welches die soziale und häusliche Position der Frauen und Männer neu prägte, zu erreichen.

In diesem Zusammenhang sei auch auf die Mädchenbildungstheorie von Campe (1791) hingewiesen, der in seiner Schrift „Väterlicher Rath für meine Tochter“ eine Theorie der Mädchenbildung, die nach dem gesellschaftlichen Stand differenzierte, erstellte (Ladj-Teichmann 1983, S.87). Mädchen und Jungen aus der Unterschicht beispielsweise sollten in den Industrieschulen, die im späten 18. Jahrhundert in Deutschland entstanden, die Geschicklichkeit der Hand lernen und über Gewerbefleiß zur „Industriösität“ gelangen (Ladj-Teichmann 1983, S.87). Der Name der Industrieschulen ging auf das Lateinische industria (Fleiß) zurück und ist nicht mit der industriellen Fertigung im Sinne von Fabrikarbeit zu verwechseln (Blisniewski 2001, S.10).

Für die Mädchen der Mittelschicht entstanden im Jahre 1795 ähnliche Institutionen, so auch die Schule in Brieg in Schlesien, in der u.a. Moral, Rechnen, Naturgeschichte, Geschichte usw. gelehrt wurde. Einem veröffentlichen Bericht der besagten Schule aus dem Jahre 1798 kann man entnehmen, dass textile Fertig- und Fähigkeiten der Schülerinnen zu den bedeutendsten Erziehungszielen zählten (Schmid 2001, S.69). Eine schulische Erziehung der besseren Bürgermädchen war, wenn auch auf weibliche Tugenden wie „sinniger Ernst“ und spezifische Kenntnisse doch nur in Grenzen gründlich (Weber-Kellermann 1983, S.32). Unterricht und Bildung eines Mädchens im Biedermeier waren nach wie vor beschränkt. Wohlhabende Eltern schickten ihre Töchter in Pensionate oder ließen sie weiterhin neben den Brüdern von Privatlehrern unterrichten. Bachmann und Mitautoren (1990, S.39) stellten fest, dass schulische Bildung zum Machtfaktor für Männer wurde, weil „das sich ausbreitende Verwaltungsgefüge“ viele gut ausgebildete Fachkräfte mit einem Grund- und Spezialwissen brauchte und Frauen an dessen Erwerb keinen Anteil mehr haben. Für die jungen Frauen stand es folgerichtig schlecht um die Ausbildung des Verstandes, denn meist beschränkte sich die bürgerliche Mädchenerziehung auf jene Fertigkeiten, deren Beherrschung man von der künftigen Hausfrau erwartete. Das war also neben den Handarbeiten vom Strickstrumpf bis zur feinen Stickkunst Ordnung und Sauberkeit (Weber-Kellermann 1983, S.55). Hingewiesen sei an dieser Stelle auch darauf, dass sich Jungenschulen auf Kosten der Mädchenschulen schnell realisierten und erst 50(!) Jahre später, nach mühseliger Auseinandersetzung, die erste öffentliche Mädchenbürgerschule (1855) eröffnet wurde (Bachmann et al. 1990, S.69).

Die Handarbeitstechniken dienten ursprünglich der Selbstversorgung und wurden innerhalb der Familien weitergegeben. Während sie im Mittelalter als kunstvolle Handwerke in den Klöstern und als Beruf durch die Zünfte vermittelt wurden, setzte sich die Handarbeit ab dem 18. Jahrhundert als Schulfach in den sog. Armenschulen durch. Mit der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts übernahm die Handarbeit die Aufgabe, Knaben auf die industrielle Arbeit vorzubereiten. Der obligatorische Handarbeitsunterricht für die Mädchen dagegen qualifizierte diese zu Hausfrauen (Hausarbeit) (Spiess 2007).

Die jungen Mädchen der Biedermeierzeit erlernten die textilen Techniken unter anderem auch um ihre Aussteuer anfertigen zu können (Weber-Kellermann 1983, S.61). In der ländlichen Bevölkerung kochten die Frauen für ihre Familie und bewältigten den gesamten textilen Bereich des Haushalts vom Flachsanbau über das Spinnen und Weben bis zum Nähen der Gebrauchsgegenstände. Durch Zusehen und Mitmachen wuchs ihr Nachwuchs in die entsprechenden zukünftigen Rollen hinein (Weber-Kellermann 1983, S.75).

Handarbeiten spielten also in der Erziehung der Mädchen des 19. Jahrhunderts eine überaus große Rolle. Ungeachtet dessen, ob sie in urbaner Umgebung oder ländlich lebten, war es für die Frauen unerlässlich die oben genannten textilen Techniken zu erlernen. Der Nachweis dieser Fähigkeiten kann durchaus als Eheprobe interpretiert werden. Frauen gehobener Gesellschaftsschichten eigneten sich eher die „feinen Handarbeitstechniken“ an (Bachmann et al. 1990, S.4), während die Bauernfrauen und ihre Mägde vorwiegend spannen.

4 Die Handarbeitsmotive in den Märchen der Brüder Grimm

Weil sie in Frankreich und Deutschland zur Eheprobe gehörten, spielten unter den häuslichen Arbeiten der Märchenleute Tätigkeiten wie Kochen, Spinnen, Stricken und Weben eine große Rolle (Bolte 1930/33, S. 108). Märchenheldinnen, die sich selbst erniedrigen, verrichten oft Arbeiten in ihrer Stellung als Magd, wie diese für das alte Deutschland üblich waren.

In Abbildung 3 wird deutlich, dass der höchste Anteil häuslicher Tätigkeiten in den KHM dem „Spinnen“ zukommt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.3: Häufigkeit ausgewählter Handarbeitsmotive in 20 KHM

Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Handarbeitsmotive, die ausführenden Märchenfiguren sowie die entsprechenden Konsequenzen in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Häufig ist die Konsequenz der Tätigkeiten (insbesondere beim Spinnen) der „soziale Aufstieg“ durch die Eheschließung von Personen verschiedener Stände, was in der Realität des 19. Jahrhunderts eher unüblich war. In der Regel heiratet ein mittelloses, junges und außergewöhnlich schönes Mädchen einen Mann des Adels und musste sich fortan nicht mehr sorgen.

Tab. 1: Übersicht über die weiblichen Künste in den KHM

(Eigene Darstellung)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Erziehung und Reifung: Märchenheldinnen, wie„Dornröschen“(KHM 50, Anhang 8.6) oder„Sneewittchen“(KHM 53, Anhang 8.7) sind gemäß den aus der psychologischen Märchenforschung kommenden Autoren Diergarten und Smeets (1987, S.64) zunächst nicht reif für eine Partnerschaft. So demonstriert der Spindelstich, der Dornröschen in einen hundertjährigen Schlaf versetzt, dass sie noch nicht die notwendige Entwicklung durchgemacht hat. Weiterhin verweisen die Autoren darauf, dass Spinnen und Weben wichtige Symbole für die erworbene frauliche Reife seien. Hingegen würde Sneewittchen während ihrer Reifephase „nähen und stricken“ sowie weitere Hausfrauentätigkeiten kennenlernen. Insgesamt veranschaulicht vor allem das populäre Grimm’sche Märchen mit dem Titel „Sneewittchen“, welches Idealbild die heranwachsenden, sich noch in der Entwicklung befindlichen, bürgerlichen Mädchen hatten. Schön sein, innerlich wie auch äußerlich, und Tugendhaftigkeit, demonstriert durch hausfrauliche Tätigkeiten, das war oberstes (Erziehungs-)Ziel.

Das folgende Kapitel beschäftigt sich neben dem Handarbeitsmotiv Spinnen vornehmlich mit dem Weben, da dieses zum einen eng mit der Tätigkeit des Spinnens verbunden ist und zum anderen die Tätigkeit des Webens in den KHM handlungsrelevanter als bspw. das Nähen oder Stricken ist, welches eher schmückendes Beiwerk darstellt.

4.1 Ursprung und Wesen des Spinnens und Webens

Da die meisten Naturfasern, wie Wolle oder Baumwolle nur wenige Zentimeter lang sind, Muss man sie zunächst zu langen Fäden zusammenzwirbeln, wenn man damit nähen oder Stoffe weben will (Ballhausen und Kleinelümern 2008, S. 64). Dieser als „Spinnen“ (Abb. 4) bezeichnete Vorgang ist, wie das „Weben“, eine der ältesten Techniken der Menschheit (Kohl 1858; Volkmann 2008, S.109; Wikipedia 2010a).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Definition „Spinnen“ nach Jacob und Wilhelm Grimm (DWB 1971, Band 16, Spalten 2515 - 2533).

Nach Volkmann (2008, S.9) ist Spinnen ein Handwerk, mit dem man Unordnung in Ordnung bringt. Die Autorin beschreibt, dass diese Handarbeit „aus einer wirren Menge Grundmaterial einen „gezähmten“, zur Weiterverarbeitung aufbereiteten Faden“ herstellt. Somit gelingt es „ungestaltetes Naturmaterial zu einem nutzbaren Produkt“ zu veredeln (Volkmann 2008, S.9).

Das Spinnen war demnach eine der frühesten kulturstiftenden Leistungen der Menschheit und kam von Anfang an den Frauen zu (Volkmann 2008, S.13). Das Alte Testament berichtet im Buch Genesis davon, wie die Urfrau (Eva) vom Teufel in Form einer Schlange verführt wird, die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis zu essen (Die Bibel, Gen 3,1-16). Gott bestraft sie und Adam für dieses Vergehen, indem er sagt: „Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach deinem Mann; er aber wird über dich herrschen“ (Die Bibel, Gen 3,16).

So ist es nicht erstaunlich, dass das Spinnmotiv häufig mit den ersten Arbeiten Adams und Evas in der Kunst verbunden wird (Reygers 1978, Zick 1978). Eva spinnt und ist also folgerichtig mit der Herstellung von Bekleidung betraut, während Adam mühevoll den Acker bearbeiten muss.

Mit der Entdeckung der Ur-Tätigkeit „Spinnen“, konnte der frühe Mensch also textilen Flächengebilden sog. Gewebe herstellen, mit dem er sich wärmen, schützen und auch schmücken konnte. Gewebe ist ein Begriff, der sowohl Tuche (umgangssprachlich: "Stoff") als auch andere Produkte umfasst wie beispielsweise gewebte Teppiche oder Tapeten (Volkmann 2008, S.9, Wikipedia 2010a). Das älteste bisher gefundene Gewebe wird auf ca. 25.000 Jahre geschätzt. Das Weben ist somit auch eine der Urkünste der Menschheit. Als der Mensch das Weben erlernte, bezwang er eine erste Stufe gehobener Kultur, denn nun konnte er Kleidung selbstfertigen und musste nicht mehr Tierhäute zum Schützen und Wärmen präparieren (Volkmann 2008, S.109).

DasWebenist bereits sehr früh „zu einer hohen Vollkommenheit gebracht worden“, denn schon in vorchristlicher Zeit kannte man prächtige Teppiche und Gewänder aus Babylon. Auch die Ägypter waren bekannt für ihre meisterliche Spinn- und Webkunst; so wurden bspw. gut erhaltene Mumienbänder gefunden, die aus feinster Leinwand gearbeitet waren (Kohl 1858, S. 2-3).

Das Weben hatte nicht nur einen hohen Nützlichkeitswert, sondern repräsentiert auch eine sinnfällige Symbolik, da durch das Weben „Horizontales“ mit „Vertikalem“ sowie unterschiedlichen Materialien vernetzt und verknüpft werden. Darüber hinaus hat das schmückende und bildhafte, welches hinein gewebt wird, den „zeichenhaften Charakter von Kunst“ (Volkmann 2008, S.109).

Während das Spinnen bis in die frühe Neuzeit weitgehend (weibliche) Heimarbeit außerhalb der Zunftordnung blieb, erreichte das Weben hingegen früher einen höheren Grad von Technologie und gehörte schon bald zu den regulären (männlichen) Handwerksberufen (Volkmann 2008, S.111). Weben wurden also zu einem Gewerbe, in dem die Männer dominierten und bald auch arbeitsteilig den wachsenden Bedarf an Textilien in den aufkommenden Städten zu befriedigen suchten. Der spezialisierte Berufsstand des Webers war wenig einträglichen; somit hatten Weber ein niedriges Ansehen in der Bevölkerung. Das Weberhandwerk stand in den industriell entwickelten Ländern Mitteleuropas vom späten Mittelalter bis in die Neuzeit exemplarisch für die Schattenseiten der industriellen Revolution mit ihren frühkapitalistischen Wirtschaftsmethoden (Volkmann 2008, S.118-120).

Die folgende Tabelle 2 gibt einen exemplarischen Überblick über die wichtigsten technologischen Entwicklungen des Spinnens und Webens. Die Erfindung von Maschinen: Handspindel, Flügelspinnrad, Tretspinnrad, von Frauen im Hausfleiß betätigt, schafften bis ins 18. Jahrhundert die Garne herbei, die von Männern, zum größten Teil schließlich in städtischen Manufakturen , an den herkömmlichen, von Hand betätigten Webstühlen verwebt wurden. Durch die Erfindung des automatischen Weberschiffchens durch John Kay im Jahre 1733 stieg die Produktivität (Volkmann 2008, S.121). Mit den beschleunigenden Webmethoden wurde der „Garnhunger“ der Maschinen noch größer. Es ist bezeichnend für das Textilgewerbe seit der frühen Neuzeit, dass die beiden „Säulen“, das Spinnen und das Weben, mit ihren sehr andersgearteten Arbeitsgängen und technologischen Herausforderungen an den menschlichen Erfindergeist sich in zeitlich verschobenen Innovationsphasen entwickelt haben. So gab es Verwerfungen und Brüche im industriellen Wachstumsprozess. Mit den beschleunigten Webverfahren hatte der Druck noch einmal gewaltig zugenommen, endlich auch das Spinnen dem weiblichen Handfleiß zu entziehen, das Spulen und das Fadendrillen in einem Arbeitsgang zu vervielfältigen etc. – Maschinen also, die „ohne Finger“ spinnen können. Die „Spinning Jenny“, noch immer handgetrieben, bedeutete da einen gewissen Durchbruch; nach ihrer Weiterentwicklung führte sie mehrere Spindeln und konnte bald mehr als einen Weber mit Garn versorgen. Das Spinnen an diesen technisch komplizierten Maschinen wurde nun zunehmend zur Haupttätigkeit von Männern. Frauen (wie auch Kindern!) fielen in den Manufakturen und sich mit der Zeit entwickelnden kleinen Industriebetrieben lediglich untergeordnete Arbeiten zu (Volkmann 2001, S.122-123).

Tab. 2: Chronologische Übersicht über wichtige technologische

Entwicklungen des Spinnens und Webens

(Eigene Darstellung nach Ballhausen und Kleinelümern 2008,

S. 64, 116-117; Volkmann 2008, S.121, Wikipedia 2010a,b)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Entwicklung der nächsten Generation von Spinn- und Webmaschinen ab dem frühen 19. Jh. war durch zunehmende Spezialisierung der Arbeitsgänge gekennzeichnet. Antriebe mit der neu erfundenen Dampfmaschine, später mit Elektromotoren bis zu den vollautomatisch gesteuerten Arbeitsprozessen der Gegenwart – ein Weg zu feineren, festeren, dem jeweiligen Bedarf angepassten Kett- und Schussfäden, zu Fäden aus den unterschiedlichsten Materialmischungen, auch zu Rundum-Gewirken, an Ringspinnmaschinen hergestellt, nahtlos, also gänzlich ohne Seitennähte. Eine Naht wurde in frühen Zeiten als Notbehelf angesehen, ihr formendes und zierendes Potenzial wurde erst später entdeckt. Maria habe nach einer Legende das Jesuskind in ein von ihr gewebtes, nahtloses Gewand gekleidet. Auch in Märchen wird dem Helden die Herstellung eines nahtlosen Rockes als unlösbare Aufgabe gestellt, die nur mit Hilfe außerirdischer übernatürlicher Hilfe zu bewältigen ist (vgl. Kapitel 4.3). Ein Wunder schien also mit der Ringspinnmaschine wahr geworden. Ein Faden wird von Hand eingefädelt, vollautomatisch laufen alle weiteren Arbeitsgänge ab, bis z.B. der fertige Strumpf von der Maschine „ausgespuckt“ wird (Volkmann 2008, S.123). Tuche, Leinwand, Baumwoll- und auch Seidenstoffe wurden mit zunehmender Mechanisierung und Automatisierung ihrer Herstellungsverfahren zur Massenware – zwar von unterschiedlicher Qualität, aber doch in den unteren und mittleren Preislagen für jedermann erschwinglich. Stickereien, komplizierte Nähtechniken, feine Webbordüren, Gobelin-, Samt- und Atlasweberei, all die Erzeugnisse fortgeschrittenen Textilkönnens vermag die Maschine so gut wie „handlos“ zu fabrizieren. Die althergebrachten Techniken, Gewebe herzustellen und mit Ornamenten zu versehen, sind zum Nischengewerbe geworden. (Volkmann 2008, S.123).

Das Spinnen und das Weben wanderten also nach und nach aus dem häuslichen Bereich in die Fabriken ab (Volkmann 2008, S.8). Doch das Anfertigen der in der Familie benötigten Kleidung sowie der Aussteuer der Töchter – vom Spinnen des Basismaterials bis zum Nähen und Besticken – blieb daneben noch für lange Zeit dem Hausfleiß überlassen. Im ländlichen Raum zumal blieb das Spinnrad, wie ausführlich erläutert wurde, bis im 20. Jh. im Einsatz (Volkmann 2008, S.123).

Erzählungen über das Spinnen besitzen oft zwei narrative Ebenen: eine, die Spinnen als obligatorische Aufgabe für Frauen ansieht, und eine andere, die vermittelt, wie die Frau unter dem ständig anstrengenden leidet (Brednich et al. 1977, S. 1063).

Die als „Morgenspinnerinnen“[3]bezeichneten Frauen waren laut Volkmann (2008, S.29) „kein lohnendes Personal für Literatur“, so dass man nur in den Märchen einiges über sie in Erfahrung bringen kann. Die Autorin nennt in diesem Zusammenhang bspw. den Leistungsdruck und Spinnzwang der Frauen sowie deren Träume von Strategien, um diesem zu entgehen. Das Märchen gibt gemäß Volkmann (2008, S. 29) „drastische Beispiele, wie zumindest in Wunschphantasien die bäuerlich-bürgerliche Arbeitsmoral, das Ideal der unermüdlichen schaffenden Weiblichkeit listig zu unterlaufen wären.“.

Blisniewski (2001, S.16f.) stellt fest, dass es Brauch ist, die mühseligen Arbeit des Spinnens mit Tugendhaftigkeit in Verbindung zu setzen. Spinnen stellte also häufig sowohl in der Realität als auch im Märchen eine Eheprobe dar und ist damit ein Pendant zu den Freierproben der jungen Männer (vgl. Kapitel 3.3). Laut Volkmann (2008, S.28) „erspinnen“ sich die Mädchen ihren Mann regelrecht. Die Märchen der Brüder Grimm zeugen auch davon indirekt in abwechslungsreicher Weise.

4.2 Bedeutung und Funktion des Spinnens und Webens in den KHM

Laut Volkmann (2008, S.8 f.) spiegeln Märchen die zeittypische Realität wieder. Märchen und Sagen zeugen davon, dass der Alltag von Frauen aller sozialen Schichten aus Weben und Spinnen bestand, weil diese Tätigkeiten als angemessene weibliche Beschäftigung galten und von Männern auch verlangt wurden (vgl. Kapitel 3.2).

So heißt es im Grimm’schen Märchen„Die ungleichen Kinder Evas“(KHM 180, siehe Anhang 8.18) gleich zu Beginn: „Als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben waren, so mussten sie auf unfruchtbarer Erde sich ein Haus bauen und im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen. Adam hackte das Feld und Eva spann Wolle.“ (Brüder Grimm 1957).

[...]


[1]Der Spinnrocken ist ein meist stabförmiges Gerät, an dem beim Spinnen die noch unversponnenen Fasern befestigt werden (Wikipedia 2010d).

[2]Die neolithische Siedlung Sesklo wurde nach dem gleichnamigen Ort in der Nähe der Ausgrabungsstätte benannt. Sesklo liegt ungefähr 10 km westlich von Volos in Thessalien, Griechenland. Aufgrund umfangreicher Keramikfunde dient der Name Sesklo auch zur Bezeichnung einer neolithischen Periode im Bereich Griechenlands. Die Sesklo-Kultur ist in das 6./5. Jahrtausend v. Chr. einzuordnen und steht am Anfang des keramischen Neolithikums in Griechenland (Wikipedia 2010c).

[3]Sprichwort: „Spinnen am Morgen, Kummer und Sorgen“

„Spinnen am Mittag, Glück am dritten Tag“

„Spinnen am Abend, erquickend und labend“

Wenn sich die Frau nach der anstrengenden Tagesarbeit ans Spinnrad setzen konnte, so war das eine Feierabendbeschäftigung, die wenig Mühe erforderte und oft dann Anlaß zu geselligem und fröhlichem Beisammensein gab. Mußte die Frau jedoch bereits am Morgen spinnen, bedeutete es größte Armut, denn sie versuchte durch diese Arbeit den ganzen Tag über etw. dazuzuverdienen. Sie mußte das Garn verkaufen, statt es für den eigenen Haushalt zu verwerten (Röhrig 1991).

Final del extracto de 151 páginas

Detalles

Título
Bedeutung und Funktion der Handarbeitsmotive in den Märchen der Brüder Grimm
Universidad
University of Cologne
Calificación
1,1
Autor
Año
2010
Páginas
151
No. de catálogo
V155040
ISBN (Ebook)
9783640678280
ISBN (Libro)
9783640678365
Tamaño de fichero
959 KB
Idioma
Alemán
Notas
80 seitiger Anhang mit Märchentexte!
Palabras clave
Bedeutung, Funktion, Handarbeitsmotive, Märchen, Brüder, Grimm, Thema Märchen
Citar trabajo
Manuela Käßmair (Autor), 2010, Bedeutung und Funktion der Handarbeitsmotive in den Märchen der Brüder Grimm, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155040

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