Leseprobe
Inhaltverzeichnis
Einführung
0. Der historische Hintergrund
0.1 Die Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert
0.2 Francis Bacon
1. Chandos vor der Krise: Das ganze Dasein als eine große Einheit
1.1 Die Frühwerke
1.2 Die literarischen Pläne
2. Die Krise: Es zerfiel mir alles in Teile
2.1 Die Gründe der Krise
2.2 Das Ausmaß der Krise
3. Chandos’ Leben mit der Krisenerfahrung
3.1 Die guten Augenbli>3.2 Die ideale Sprache
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Einführung
Hugo von Hofmannsthals Ein Brief[1], auch Chandos-Brief genannt, wurde seit seiner Erstveröffentlichung in der Berliner Zeitung „Der Tag“ im Jahre 1902 zum Gegenstand zahlreicher literaturwissenschaftlicher Untersuchungen und gab Anlass zu den unterschiedlichsten Interpretationen. Häufig wurde der fiktive Brief, in dem Lord Chandos 1603 seinen Verzicht auf literarische Betätigung vor seinem einstigen Meister Francis Bacon rechtfertigt, auf die Biographie Hofmannsthals bezogen und in Chandos’ Sprachkrise eine ähnliche Störung des jungen Hofmannsthal in seinem Verhältnis zur Sprache gesehen. Die vorliegende Arbeit will diese biographische Einengung überwinden und eine Deutung des Chandos-Briefes auf textimmanenter Ebene unternehmen.
Um den Text verstehen zu können, ist es notwendig, den historischen Rahmen und dessen Bedeutung für das Werk zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck werden zunächst einmal Chandos’ geschichtliche Zeit, die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, und der Empfänger des Briefes, die historische Persönlichkeit Francis Bacon, einer näheren Beleuchtung unterzogen (0.). Die Analyse des Textes folgt daraufhin einer systematischen Dreiteilung des Werkes: Zunächst wird auf Chandos’ Vergangenheit, sein Leben vor der Krise (S. 45/ Z. 20. – S. 48/ Z. 7), einzugehen sein, wobei mittels einer Untersuchung seiner Frühwerke und literarischer Pläne der Frage nach seinem vorkrisenhaften Welt- und Sprachverständnis sowie nach seiner Erkenntnisweise nachzugehen sein wird (1.). In der Betrachtung der Krise (S. 48/ Z. 8. – S. 50/ Z. 11) wird die Tragweite Chandos’ literarischer Pläne im Bezug auf seine Krisis analysiert und deren Ausmaß aufgezeigt (2.). Im dritten Teil wird anschließend Chandos gegenwärtiger Zustand, sein Leben mit der krisenhaften Erfahrung (S. 50/ Z. 12 – S. 54/ Z. 40), unter die Lupe genommen, wobei mit Hilfe einer Gegenüberstellung der alten und neuen Erkenntnisweise, die sich in den guten Augenblicken manifestiert, untersucht wird, inwieweit es sich bei Chandos’ neuer Verfassung um einen beklagenswerten Zustand oder doch um eine Verfassung gesteigerten Glücks handelt (3.). Vor dem Hintergrund der mit „herkömmlicher Sprache“ unbeschreibbaren Momente wird außerdem der Versuch unternommen, den scheinbaren Widerspruch zwischen Chandos’ Schreibfähigkeit auf der einen und seiner schwerwiegenden Sprachkrise auf der anderen Seite zu erklären. In einer Schlussbetrachtung werden die gesammelten Ergebnisse schließlich zusammenzufassen sein.
0. Der historische Hintergrund
0.1 Die Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert
Lord Chandos’ abschließende Datierung seines Briefes (A.D. 1603, diesen 22. August, S. 55/ Z. 7) steckt die historische Zeit des Textes ab, die im Folgenden näher betrachtet werden soll, da sie als Phase des enormen Umbruchs keine unerhebliche Rolle für Chandos’ Krise spielt (Näheres dazu in 2.1). Die Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ist Bestandteil des Zeitalters der großen Entdeckungen[2], das in vielerlei Hinsicht tiefgreifende Veränderungen mit sich brachte. Entdecker wie Christoph Kolumbus (1451-1506), Vasco da Gama (1469-1524), oder Ferdinand Magellan (1480-1521)[3] sorgten durch ihre Entdeckungen (1492 Amerika, 1497 Indien, etc.) für eine beispielslose Ausweitung des geographischen Wissens und revolutionierten die Vorstellung von der Größe und Gestalt der Erde. Doch damit nicht genug. Das bereits angeknackste Weltbild wurde durch astronomische Erkenntnisse, durch Kopernikus’ (1473-1543)[4] Theorie von der Zentralstellung der Sonne im Universum in ihren Grundfesten erschüttert. Die Lebensdaten der Anhänger der heliozentrischen Lehre Johannes Kepler (1571-1630) und Galileo Galilei (1564-1642) stehen symbolisch für die Zeit der Jahrhundertwende, in der das alte Weltbild trotz krampfhafter Verteidigung durch die kirchliche Obrigkeit in Auflösung begriffen war und die Menschen in Folge des Verlustes der Weltordnung in eine tiefe Sinnkrise gestürzt wurden.
Auch in politischer Hinsicht kann in dieser Zeit eine Umbruchsstimmung festgestellt werden. So ging mit dem Tod der Königin von England Elisabeth І.[5] 1603, dem Jahre des Chandos-Briefes, das Elisabethanische Zeitalter zu Ende. Der neue König Jakob І. konnte die klaffende Lücke, die Elisabeth hinterlassen hatte, nicht schließen, so dass man seine ersten Regierungsjahre auch als Zeit zwischen zwei Welten[6] bezeichnet. Abgelaufen war das goldene Zeitalter, das England u.a. Francis Bacon (1561-1626) bescherte, was mich zum zweiten Teil des historischen Hintergrunds überleitet.
0.2 Francis Bacon
Es muss festgestellt werden, dass Hofmannsthal im Gegensatz zur fiktiven Gestalt des Briefabsenders Lord Chandos[7] als Empfänger eine historische Persönlichkeit wählt: Francis Bacon. Auf diesen weist der Autor in der dem Brief vorangestellten Einleitung explizit hin (S. 45/ V. 2) und lässt dessen Namen den Briefschreiber selbst noch ein weiteres Mal am Ende des Briefes nennen (S.55/ V. 2). Da Hofmannsthal auch für den Schreiber eine frei erfunden Persönlichkeit hätte aufbauen können, ist davon auszugehen, dass Bacons Name wohl nicht ohne Bedeutung ist, dass durch seine historische Person auf etwas hingewiesen werden soll.[8] Aber wer war dieser Francis Bacon bzw. was ist das (für den Chandos-Brief) Wichtige an ihm?
Francis Bacon[9] war ein englischer Naturwissenschaftler und Philosoph, der als Wegbereiter des Empirismus und somit als einer der Begründer der modernen Wissenschaft gilt. Er konzipierte ein neues Wissenschaftssystem, in dem Naturbeobachtung und Experiment (empirisches Vorgehen) die einzig gültigen Methoden des Erkenntnisgewinns darstellten. Dem aristotelischen begrifflich-deduktiven Verfahren setzte Bacon das induktive Vorgehen entgegen, das bei den Dingen selbst ansetzt und mit dem er glaubte, alles erklären zu können, worauf seine Auffassung „Wissen ist Macht“ verweist. Seinem neuen System lag das Ziel der allgemeinen Anwendbarkeit der Erkenntnisse (scientia operativa) zu Grunde, zu dessen Zweck allerdings zunächst einmal die der sachgerechten Forschung im Wege stehenden, menschlichen Vorurteile (Idole) durchschaut und abgebaut werden müssen. Die Lehre von den Idolen beschreibt Bacon im ersten Teil (Novum Organum Scientiarum) seines als Enzyklopädie in sechs Teilen geplanten, aber unvollendeten Riesenwerks Instauratio Magna. Er nennt vier Kategorien der so genannten Trugbilder: Erstens die idola specus, Täuschungen in den versponnenen Ideen der philosophischen Systeme, zweitens die idola tribus, Trugbilder des menschlichen Verstandes, die diesem von Natur aus durch seine anthropozentrische Sicht anhaften, drittens die idola mentis/ theatri, die Irrtümer aus überlieferten Dogmen oder Meinungen einer Autorität und viertens die idola fori, Täuschungen des Sprachgebrauchs. Das zuletzt genannte Trugbild des Marktes beschreibt die Gewohnheit der Menschen an die Stelle der Dinge Worte zu setzen, wobei sie die konventionellen Zeichen für die Dinge mit den Dingen selbst verwechseln, oder in linguistischer Terminologie nach de Saussure[10] gesprochen: sie sind sich des Verweischarakters des Significant nicht bewusst, glauben im Significant bereits das Signifié zu fassen. Dieses Vorurteil verweist auf Bacons Forderung nach einer exakten analytischen Sprache und wird als Horizont für die Untersuchung von Chandos’ Sprachkrise von Bedeutung sein.
1. Chandos vor der Krise: Das ganze Dasein als eine große Einheit
1.1 Die Frühwerke
Nach den einleitenden kommunikativen Worten an Bacon beginnt Chandos seinen Brief mit Erinnerungen an seine Zeit als Dichter, eine Reminiszenz an die eigenen Werke und damaligen literarischen Pläne, wobei dieses Kapitel zunächst seine vollendeten Werke behandeln (S. 45/ Z. 20 – S. 46/ Z. 14), bevor das folgende auf seine Zukunftspläne (S. 46/ Z. 15 – S. 48/ Z. 7) eingehen wird.
Im Alter von neunzehn Jahren verfasst Chandos zunächst drei Schäferspiele, jenen „neuen Paris“, jenen „Traum der Daphne“ [und] jenes „Epithalamium“ (S. 45/ V. 21f.), Werke, die ganz dem Geist der Renaissance verhaftet sind[11], indem sie sich zum einen der antiken Gattung der bukolischen Dichtung bedienen und zum andern antike Vorbilder thematisieren, die Chandos lediglich mit neuen Komponenten anreichert, ohne jedoch etwas innovativ neues zu schaffen. Interessant ist dabei, dass er über Paris schreibt, den Trojaner, der durch seinen Richtspruch im Schönheitsstreit der Göttinnen als Inbegriff der menschlichen Urteilsfähigkeit gilt, die gerade Chandos später abhanden kommen soll. In der Form von Schäferspielen, die der konventionellen Gesellschaftspoesie[12] angehören, verwendet Chandos sein literarisches Talent darauf mit seiner sprachlichen Virtuosität, die er vor dem Hintergrund seiner krisenhaften Erfahrung als Prunk ihre Worte (S. 45/ Z. 23) bezeichnet, seine Leser und sich selbst zu erfreuen.
Auch in dem Traktat in lateinischer Sprache (S. 46/ Z. 1)), das der junge Dichter mit neunzehn Jahren verfasst, lässt sich Chandos’ primäres Interesse der ästhetischen Gestaltung erkennen. Wenngleich die generelle Form eines Traktates auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einer Fragestellung hinweist, nennt Chandos kein Thema, sondern erwähnt lediglich seine Faszination für den formellen Aufbau der lateinischen Sprache (S. 45/ Z. 27f.: jenes Gefüge lateinischer Perioden [...] dessen geistiger Grundriss und Aufbau ihn im Innern […] entzückte). Auch wenn sein Traktat also nicht mehr auf das Erfreuen ausgerichtet ist, sondern die Form in den Mittelpunkt gerückt wird, befindet sich Chandos noch in einem Zustand, in dem seine Dichtung sich innerhalb von Sprache bewegt, sei es was deren kreatives Potential oder formellen Aufbau angeht, und noch keinen Bezugspunkt zur Wirklichkeit und zum Erkenntnisgewinn aufweist.[13] Dieser Idee widmet sich Chandos in seinen literarischen Plänen, auf die im Folgenden einzugehen sein wird.
[...]
[1] Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Derselbe. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. XXXІ. Erfundene Gespräche und Briefe. Hrsg. Ellen Ritter. Frankfurt am Main. 1991. S. 45-55. Im Folgenden werden bei Zitaten aus dieser Ausgabe nur noch die Seiten- und Zeilenzahlen in Klammern angegeben.
[2] Ploetz Geschichtslexikon. Weltgeschichte von A bis Z. Hrsg. Verlag Ploetz. Freiburg/ Würzburg 1986. S. 133.
[3] Informationen zu den Entdeckern und deren Entdeckungen aus: Lexikon der Geschichte. Welt- und Kulturgeschichte. Epochen, Fakten und Hintergründe in 20 Bänden. Bd. 17, 18. Hrsg. Zeitverlag. Hamburg 2006.
[4] Informationen zu den Naturwissenschaftlern aus: Lexikon der Naturwissenschaftler. Astronomen, Biologen, Chemiker, Geologen, Mediziner, Physiker. Hrsg. Spektrum Akademischer Verlag. Heidelberg/ Berlin 2000.
[5] Lexikon der Geschichte (s. 2)
[6] Pauget, Michèle: Der Brief des Lord Chandos in seinem Verhältnis zum mythischen Denken. In: Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts: Französische und österreichische Beiträge. Hrsg. Sigurd Paul Schleichl, Gerald Stieg, René Girard, u.a. Innsbruck 1986. S. 102.
[7] Untersuchung zur Fiktionalität Lord Chandos’ in: Schultz, Hans Stefan: Hofmannsthal and Bacon. The Sources of The Chandos Letter. In: Comparative Literature. Jg. 1961. S. 12f.
[8] Wunberg, Gotthart: Francis Bacon, der Empfänger des Lord-Chandos-Briefes von Hugo von Hofmannsthal. In: German Life and Letters. Jg. 1962. S. 195.
[9] Informationen zu Bacon aus: Metzler-Philosophen-Lexikon. von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen. Hrsg. Bernd Lutz. Stuttgart/ Weimar 2003. S. 51-53.
[10] Significant (Bezeichnendes): das sprachliche Zeichen, das ein Objekt der Realität beschreibt
Signifié (Bezeichnetes): das Objekt der Realität, das durch das sprachliche Zeichen beschrieben wird
[11] Bomers, Jost: Der Chandosbrief – Die Nova Poetica Hofmannsthals. Stuttgart 1991. S. 23.
[12] Göttsche, Dirk: Aufbruch der Moderne. Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief im Kontext der Jahrhundertwende. In: Interpretationen zur neueren deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. Thomas Althaus, Steafan Matuschek. Münster 1994. S. 182.
[13] Morton, Michael: Chandos and His Plans. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Jg. 1988. S. 522f.