Fremd- und Selbstevaluation von sozialen Projekten unter konstruktivistischer Sicht

Inhaltsanalyse nach Mayring, Philipp


Diplomarbeit, 2007

110 Seiten, Note: 1,4


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Konstruktivismus als Grundlage der Evaluation
2.1 Überblick des zweiten Kapitels
2.2 Erste Annäherung
2.3 Realität und Wirklichkeit
2.4 Philosophische Wurzeln
2.5 Naturwissenschaftliche Einsichten
2.5.1 Codieren und Decodieren?
2.5.2 Die Relativitätstheorie Einsteins
2.5.3 Die Autopoiesis nach Maturana und Varela
2.6 „Neuere“ philosophische Einsichten
2.6.1 Kybernetik und Konstruktivismus
2.6.2 Die nichttriviale Maschine
2.6.3 Unterscheiden und Benennen
2.6.4 Ernst von Glasersfeld und Viabilität
2.6.5 Sozialkonstruktivismus und. symbolischer Inter-aktionismus

3. Kriterien für konstruktivistische Auswertungen

4. Qualitative Auswertungsmethoden
4.1 Geschichtliche Wurzeln
4.1.1 Aristotelisches Wissenschaftsverständnis
4.1.2 Descartes und Vico
4.1.3 Hermeneutik
4.2 Meinungen anderer Autoren zu qualitativer Auswertungsmethodik
4.3 Die klassischen Auswertungsschritte
4.3.1 Güterkriterien für die qualitative Datenerhebung
4.3.2 Datenbewältigung
4.3.3 Wahl des Materials
4.3.4 Kategoriesystem und Gegenstandserschließung
4.3.5 Kodierung
4.3.6 Reduktion und Vergleich
4.3.7 Darstellung der Ergebnisse

5. Einblick in die Geschichte der Evaluation in der Sozialen Arbeit in der Bundesrepublik
5.1 Vorgeschichte
5.2 Nachkriegsdeutschland und die Reformära
5.3 Nüchternheit der 80er Jahre
5.4 Heutige Situation
5.5 Konstruktivismus versus Positivismusin der Evaluationsforschung
5.6 Ein vielleicht hilfreicher Blick über den großen Teich
5.7 Versöhnung und Blick in die Zukunft
5.7.1 Zukunft der Evaluation inInstitutionen der Sozialen Arbeit
5.7.2 Zukunft der Evaluation in den Tätigkeitsfelder sozialer Arbeit
5.7.3 Bedeutung der Evaluation für die Zukunft der Sozialen Arbeit

6. Evaluation: Definitionen und Umsetzung am help!-Projekt
6.1 Begriffsbestimmung Evaluation?
6.2 Auftraggeberfreundlichkeit
6.3 Unabhängigkeit des Evaluators
6.4 Auswahlkriterien
6.5 Verallgemeinerung der Ergebnisse
6.6 Formativ versus Summativ undProspektiv versus Retrospektiv
6.7 Interne und externe Evaluation
6.8 Dimensionen der Evaluationsforschung
6.9 Die Rolle des Evaluators

7. Evaluation Planungsfragen
7.1 Literaturrecherche
7.2 Meine Vorannahmen
7.3 Erste Projektbeurteilung
7.4 Synchronisierung von Maßnahmeverlauf und Evaluationsverlauf

8. Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
8.1 Zusammenfassende Inhaltsanalyse
8.2 Gründe für die Wahl
8.3 Das Gruppeninterview
8.4 Ablauf der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring
8.4.1 Festlegung des Auswertungsmaterials
8.4.2 Analyse der Entstehungssituation
8.4.3 Formale Charakteristika des Materials
8.4.4 Fragestellung der Analyse
8.4.5 Ablaufmodell der Analyse
8.5 Interpretation der Ergebnisse

9. Fazit meiner Diplomarbeit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Welche Kriterien muss Evaluation erfüllen, um im Sozialen Bereich[1] erfolgreich zu sein? Meine These lautet: ´Eine begleitete Selbstevaluation ist für soziale Einrichtungen zur Prozess- und Ergebnisevaluation geeigneter als reine Selbstevaluation oder ausschließliche Fremderhebung.

Das Evaluieren im Sozialen Bereich ist für mich geprägt durch Maßnahmen, an denen immer Menschen beteiligt und betroffen sind. Der ´Untersuchungsgegenstand´ Mensch macht aber eine besondere Auswertungshaltung notwendig. Für diese Auswertungshaltung suche ich in der vorliegenden Arbeit nach geeigneten Kriterien.

Das Projekt ´help! Ihre Erfahrung zählt´ beim Landesverband des Badischen Roten Kreuzes soll als Beispiel aus der Praxis eine begleitete Selbstevaluation darstellen und meine These stützen. Das Projekt ist finanziert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Programm: Generationen übergreifende Freiwilligendienste.

Aus meiner Sicht wächst der Evaluations- und Qualitätsmanagement-anspruch, der an soziale Dienstleister herangetragen wird zunehmend. Allein in der Zeit meines Studiums konnte ich dies am Curriculum beobachten. Dort waren von Semester zu Semester mehr empirische und ökonomische Fächer aufgeführt. Gerade die Frage der Wirtschaftlichkeit treibt die Evaluationsdiskussion im Sozialen Bereich voran. So stellte Maja Heiner bereits 1988 folgendes fest:

„(…) angesichts der zunehmenden finanziellen Knappheit der Kommunen und der andauernden Kürzungen im sozialen Bereich bei gleichzeitiger Zunahme der Probleme sehen sich viele Einrichtungen gezwungen, ihre finanziellen Ressourcen und die Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter gezielter und selektiver einzusetzen.“ (Heiner 1988: 9)

Von kaum jemandem wird noch bestritten:

„SozialarbeiterInnen[2] und SozialpädagogInnen müssen heute stärker als früher ihr Handeln gegenüber der Gesellschaft, den Klienten und nicht zuletzt auch gegenüber sich selbst begründen können.“ (Jakob und von Wensierski 1997: 7)

Deshalb möchte ich herausfinden, welche Technik für Evaluation von Projekten im sozialen Bereich aus heutiger wissenschaftstheoretischer Sicht geeignet ist.

Nach Kruse kann meine Arbeit am ehesten als analytische Sachdarstellung bezeichnet werden, da ich einen Sachverhalt unter der Verwendung von wissenschaftlichen Theorien behandeln möchte. (vgl. Kruse 2000: 125)

Auf der Suche nach einer geeigneten wissenschaftlichen Lehre für Antworten auf meine Frage nach adäquaten Untersuchungstechniken für Projekte im sozialen Bereich, fand ich im Konstruktivismus gute Quellen. Deshalb bildet dieser Denkansatz im zweiten Kapitel den theoretischen Schwerpunkt meiner Suche nach einer geeigneten Evaluationsmethodik. Nach einer ersten Annäherung an den Begriff Konstruktivismus, spüre ich den philosophischen Wurzeln nach. Hier lassen sich einige Anfänge späterer Erkenntnisse finden. Ziel meiner Betrachtungen im zweiten Kapitel ist es, Kriterien zu finden, die eine Auswertung von Projekten im sozialen Bereich erfüllen muss.

Die neueren philosophischen Einsichten des Konstruktivismus stelle ich mit Arbeiten von Helmut Willke, Heinz von Foerster, George Spencer Brown, Gregory Bateson, Ernst von Glasersfeld und Niklas Luhmann dar.

In diesem Kapitel werde ich auch konstruktivistische Beiträge aus eher naturwissenschaftlichen Betrachtungen anführen. Mit einem Modell der Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela soll das Gedankengebäude des Konstruktivismus für diese Arbeit vervollständigt werden. Ihre Richtung nennt sich radikaler Konstruktivismus, weil sie die Theorie am fundamentalsten herleitet und am weitesten denkt.

Neben dem radikalen Konstruktivismus fand ich auch im Sozialkonstrukti-vismus und symbolischen Interaktionismus wichtige Bausteine für meine Kriterienliste.

Mit der Auflistung von Kategorien befasse ich mich in Kapitel 3. Dort fasse ich alle wichtigen Kriterien für die Untersuchung von sozialen Projekten zusammen.

Die, in meinen Augen, dazu geeignete Auswertungstechnik stelle ich im darauffolgenden Kapitel 4 vor. Hier leite ich mit einer kleinen Historie zum Thema ein und stelle dann die wesentlichen Schritte dieses Auswertungs-verfahrens vor. Hierbei zeige ich, wo meine konstruktivistischen Kriterien in den Auswertungsregeln erfüllt werden.

Eine spezielle Form qualitativer Auswertungsverfahren stellt die Evaluation dar. Diese ist auf die Begleitung und Beurteilung von Projekten spezialisiert. Deshalb wurde sie für mich zum Instrument der Wahl. Im fünften Kapitel zeige ich die Entstehung und Entwicklung von Evaluation in der Bundesrepublik auf.

Im nächsten, dem Kapitel 6, vertiefe und erläutere ich die verschiedenen Aspekte von Evaluation heute. Mit dieser Struktur stelle ich auch das Projekt help! vor.

Kapitel 7 skizziert die Planung von Evaluation und stellt parallel dazu das Vorgehen meiner Projektbegleitung dar.

Schließlich stelle ich in Kapitel 8 die qualitative Auswertungstechnik vor, mit der ich das konkrete Projekt evaluieren will. Auch hier bildet das konkrete Projekt den Mittelpunkt der Darstellung – während die theoretischen Überlegungen flankieren.

2. Konstruktivismus als Grundlage der Evaluation

Mein Vorhaben ist es, eine geeignete Untersuchungshaltung und -technik zu finden, um Maßnahmen im sozialen Sektor so zu evaluieren, dass sie dem Untersuchungsgegenstand gerecht werden. Um etwas untersuchen zu können, muss es beobachtet werden. Eine philosophische Strömung, die sich sehr stark mit Beobachtung und damit zusammenhängenden Phänomenen beschäftigt, ist die Theorie des Konstruktivismus. Deshalb suche ich in dieser Lehre nach Grundlagen für mein praktisches Vorgehen.

2.1 Überblick des zweiten Kapitels

In diesem Kapitel soll die Theorie des Konstruktivismus[3] dargestellt werden. Nach einem kleinen Experiment für den Leser erfolgt eine erste gedankliche Annäherung. Eine Definition schlage ich unter 2.3 vor. Zur philosophischen Hinführung werde ich unter 2.4 die historischen Quellen in der abendländischen Philosophie skizzieren, die, aus heutiger Sicht, konstruktivistisch genannt werden können. Insgesamt stellt der Konstruktivismus eine philosophische Strömung dar, dessen Ursprünge bereits im platonischen Weltbild zu finden sind. (vgl. von Amseln 2004: 23)

Im Abschnitt 2.5 folgt eine Darstellung der naturwissenschaftlichen Einsichten, die die Aussagen des Konstruktivismus bestätigen beziehungsweise neue Prämissen formulieren.

Unter dem Punkt 2.6 ist die neuere philosophische Entwicklung des Konstruktivismus zusammengestellt, die in Bezug auf geeignete Kriterien der Evaluation wichtigen Erkenntnisse ergeben. Mit Aussagen zur Theorie des Sozialkonstruktivismus und des Symbolischen Interaktionismus schließe ich die Liste meiner Kriterien für Untersuchungsmerkmale ab.

2.2 Erste Annäherung

Einleitend ein gutes Beispiel für die menschliche Beobachtungsleistung: Entfernen Sie diese Seite bitte circa 30 cm von Ihrem Gesichtsfeld nach vorne. Schließen Sie nach dem Lesen des Absatzes Ihr linkes Auge und richten Sie den Blick Ihres rechten Auges kontinuierlich auf den Stern. Sobald Sie das Blatt auf gleicher Höhe langsam hin und her bewegen, dabei weiter nur den Stern anvisieren, kommen Sie früher oder später an eine Position, in der der Punkt unsichtbar wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 Versuch mit dem ``blinden Fleck``

Die Ursache, für das unsichtbar werden des Punktes, ist der sogenannte blinde Fleck in der Netzhaut des menschlichen Auges. An diesem zentralen Punkt verlässt der Sehnervenstrang die Netzhaut nach hinten in das Gehirn und vereitelt an dieser Netzhautstelle die Aufnahme von visuellen Reizen. Es entsteht ein Wahrnehmungsloch.

Das Experiment funktioniert auch mit dem offenen linken Auge bei geschlossenem rechten und der Fixierung auf den Punkt. Jetzt verschindet der Stern.

Weshalb sehen wir sonst ohne Löcher die Welt? Die Antwort: Nicht die Augen helfen sich gegenseitig aus, sondern das Gehirn behilft sich, indem es die Beobachtungen vervollständigt. Hierbei dient unserem Gehirn das Wissen aus Erfahrung über das spezielle Objekt oder allgemeine Objekterfahrungen die Lücken zu schließen. (vgl. von Ameln 2004: 5)

So zeigt das obige Beispiel eindrücklich, dass menschliche Wahrnehmung ein aktiver Prozess ist. Unser Gehirn ist beim Sehen aktiv an der Bilderzeugung beteiligt.

Der Kern aller konstruktivistischen Theorien ist die Maxime, dass ein Subjekt nicht zu einer objektiven Wahrnehmung fähig ist. Auch mit Hilfe von vermeintlich objektiven Mess- und Forschungsinstrumenten kann dies nicht gelingen. Instrumente sind nur der verlängerte Arm der menschlichen Subjektivität, so der Einwand der konstruktivistischen Idee. Die weiteren Ausführungen konkretisieren das Bild vom Konstruktivismus, welches für meine Arbeit wichtig ist.

2.3 Realität und Wirklichkeit

Als Erklärungsmodell wird oft mit den Begriffen Realität und Wirklichkeit gearbeitet. Dabei haben Realität und Wirklichkeit folgende Bedeutungen.

Mit Realität wird die vorhandene[4] objektive Welt bezeichnet. (vgl. von Ameln 2004: 3) In der Realität leben und existieren alle möglichen Seinsformen[5]. Aus der lebenswichtigen Notwendigkeit mit der Umwelt in Verbindung zu treten (vgl. Maturana und Varela 1987), hat jeder Organismus die Möglichkeit zu interagieren. Da der Organismus an dieser Interaktion maßgeblich durch Energieaufwand und seine Wahrnehmungsorgane beteiligt ist, behauptet der Konstruktivismus, dass diese Interaktion kein passiver Vorgang, sondern ein aktiver ist. Aus der strukturellen Beschaffenheit der Wahrnehmungsorgane erschließt sich dem Individuum eine ganz eigene Repräsentanz[6] der Realität. Diese subjektive Wahrnehmung der Realität wird als Wirklichkeit bezeichnet. (vgl. von Ameln 2004: 3)

2.4 Philosophische Wurzeln

Die philosophischen Wurzeln des konstruktivistischen Denkens reichen bis in die Antike. Einer der bekanntesten Vertreter des ´frühen Konstruktivismus´ ist Platon (427 v.u.Z bis 347 v.u.Z). In meinen Augen entwarf er mit seinem Höhlengleichnis bereits ein Model von der bedingten Wahrnehmung der Realität. Mit seiner bekannten Ideenlehre prägte er die philosophische Nachwelt und fixierte sie damit, meiner Meinung nach, auf die Suche nach den Urbildern, ohne das dessen universelle Existenz in Frage gestellt wurde.

Dennoch gab es Skeptiker. Diese machten das Zweifeln zur ersten Disziplin des Denkens und stellten in diesem Rahmen auch die Fähigkeit des Menschen zu wirklicher und wahrhaftiger Erkenntnis in Frage. (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Skeptizismus am 27.11.06) Einen leuchtenden Schlusspunkt überlieferter Vertreter der skeptischen Schule bildet Sextus Empiricus. Er lebte im 2. Jahrhundert unserer Zeit und behauptete, „dass der Mensch für seine Urteile keinerlei Anspruch auf Wahrheit erheben könne und deshalb feste, auf Wissen begründete Überzeugungen unmöglich, ja sogar schädlich seien.“ (ebd.) Die Schädlichkeit von zu festen, starren Vorannahmen wird uns später noch begegnen.

Eine sehr radikale Position vertritt der Solipsismus. Etymologisch hergeleitet aus dem Lateinischen solus = allein und ipse = selbst, beschreibt diese philosophische Strömung einen Rückzug auf das Selbst als einzig sichere Erkenntnis.

Der bekannteste Vertreter einer solchen Philosophie hieß René Descartes (1596-1650). (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Solipsismus am 27.11.06) Er teilt die Welt in das eigene Ich und – salopp gesagt – den Rest. Vom eigenen Ich aus einen Zugang zur restlichen Welt zu finden hält, Descartes für problematisch und vermutet, dass die anderen Individuen und die Umwelt nur Vorstellungen in unserem Bewusstsein sind. (ebd.) Er kommt zwar zu dem Schluss, dass es eine vom Menschen unabhängige Welt geben muss. Er erkennt aber gleichzeitig, dass diese durch den „denkend-seienden“ Menschen nur subjektiv wahrgenommen wird. Deshalb bezweifelt er alles, was außerhalb seiner Selbst ist.

Das Einzige, was für Descartes sicher ist, ist seine eigene Existenz im Moment des Zweifels als ein Ausdruck seines Denkens – „cogito ergo sum“. (vgl. von Ameln 2004: 11) Später greift Arthur Schopenhauer (1788-1860) diese Gedanken auf; mit seinem ersten Hauptsatz seiner Philosophie „Die Welt ist meine Vorstellung“. (Schopenhauer zitiert in: http://de.wikipedia.org/wiki/Solipsismus am 27.11.06) Gleichzeitig hebt er die rigide Trennung von Subjekt und Objekt auf. „Es gibt für ihn nichts Beobachtetes ohne Beobachter, kein Objekt ohne ein Subjekt.“ (ebd.) Diese Verknüpfung von zwei bisher als unabhängig gedachten Begriffen ist wichtig für meine Frage nach geeigneten Auswertungstechniken, weil sie Interdependenzen darstellt.

Erkenntnistheoretisch steuert der englische Philosoph und Staatstheoretiker John Locke (1632-1704) etwas zu konstruktivistischen Ansichten bei. Er vermutet, dass die menschlichen Sinneswahrnehmungen im optischen, olfaktorischen und gustatorischen Bereich sehr subjektiv sind. Einigen Eigenschaften spricht er allerdings übersubjektive Bedeutung zu. So sind nach Locke geometrische und dynamische Eigenschaften von Objekten unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung real. (von Ameln 2004: 12)

Vermutlich ist hier die Wirkung des damaligen Aufbruchs in das mechanistische Zeitalter auf Locke sehr stark. (vgl. Capra 1988: 107 ff) Mit ihm lebt kein Geringerer als Isaac Newton und mit dessen Veröffentlichungen zur Physik und Mathematik wird das Prinzip der Ursache-Wirkungs-Verknüpfung zur Maxime der Weltsicht. (vgl. Schwanitz 1999: 138)

Aber schon David Hume (1711-1776) distanziert sich von den objektivistischen Ansichten Lockes. Für ihn ist klar, dass menschliche Vorstellungen eines Objektes nicht durch die den Objekten eigenen Qualitäten, sondern durch das Verknüpfen der menschlichen Ansichten über das Objekt zustande kommen. (vgl. von Glasersfeld 1998: 11) Alle darauf aufbauenden kognitiven Leistungen sollen aus diesen Verknüpfungen menschlicher Ansichten konstruiert sein und nicht aus objektiven Zuständen. (vgl. von Ameln 2004: 12) Somit ist nachvollziehbar, dass menschliche Ansichten nur subjektiv entstehen. Aus dem bisher Dargestellten verdichtet sich ein erstes Kriterium. Ich nenne es Subjektivität. Menschen nehmen die Welt subjektiv wahr. Deshalb muss in Untersuchungen, in denen Meinungen und Wertungen von Menschen erhoben werden, Raum für diese Subjektivität sein. An den Forscher richtet sich dieses Kriterium als ein Gebot von Unvoreingenommenheit. Nur mit einer Offenheit für Unerwartetes kann neues Wissen hinzugewonnen werden.

George Berkeley (1685-1753) erweitert diesen Subjektivismus, indem er behauptet, dass es nichts gibt, ohne dass es wahrgenommen wird. Alles bestehe aus Wahrnehmen und Wahrgenommen werden. (vgl. von Ameln 2004: 13) Dies ist eine sehr provokante These, da ich annehme, dass die Schwalbe im Sommer auch zwitschert, wenn ich sie nicht höre. Allerdings gibt es noch andere wahrnehmende Menschen und darauf kommt es, denke ich, an: andere zur Wahrnehmung fähige Organismen, für die der Gesang eigentlich bestimmt ist. Vielleicht genügt schon die Luft als Wahrnehmendes, um die Schwingungen aufzunehmen.

Einen einstweiligen Höhepunkt konstruktivistischer Sicht markiert Giambattista Vico (1668-1744). Vico unterstellte der menschlichen Erkenntnis nur das zu finden, was sich der Mensch vorher selbst in Gedanken zusammengebaut hat. (vgl. von Ameln 2004: 13) Für die Sinneswahrnehmungen proklamiert Vico die Aktivität des Wahrnehmenden.

„…wenn die Sinne (aktive) Fähigkeiten sind, so folgt daraus, daß wir die Farben machen, indem wir sehen, die Geschmäcke, indem wir schmecken, die Töne, indem wir hören, das Kalte und Heiße, indem wir tasten.“ (Giambattista Vico: de antiquissima Italorum sepientia, 1710. Neapel 1858, Kapitel VII, § 3, in: Glasersfeld 1998, S. 30)

Im 20. Jahrhundert knüpft Ernst von Glasersfeld daran an. Dadurch, dass Vico die Aktivität beim Wahrnehmen betont, erleichtert er die Vorstellung, dass Wahrnehmung ein subjektives Produkt ist.

Eine ausführliche Darlegung aller bisherigen Annäherungen an das heutige Modell des Konstruktivismus leistet Immanuel Kant. Er leitet die Philosophie der Neuzeit wieder auf die Bahnen des Konstruktivismus zurück. Kant markiert einen Wendepunkt, indem er mit der Überzeugung bricht, dass zwischen Subjekt und Objekt eine klare Grenze zu ziehen ist. Er erkannte, dass eine Beobachtung von den Einstellungen des Beobachters abhängt. (vgl. Regenbogen; Meyer 1998: 638) Mit dieser Behauptung festigt sich auch mein zweites Kriterium, die Subjektivität des Beobachters.

Von Ameln zufolge, stellt Kant die Kategorien Verstand und Vernunft auf. Verstand sei der Sitz und die menschliche Art, Dinge zu erkennen. Hier spielen die sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen eine zentrale Rolle. Die Vernunft hingegen ist nach Kant die Fähigkeit des Menschen aus diesen Erkenntnissen einen größeren Zusammenhang zu formen und damit auch verstandesmäßige Einsichten vorwegzunehmen. Damit proklamiert auch Kant, dass Erkennen ein aktiver Prozess ist. Gleichzeitig erklärt er damit, wie es kommt, dass Empiriker immer nur das erkennen, was sie schon vermuten. Sie bilden eine vernünftige Hypothese und experimentieren solange, bis sich diese erfüllt. (vgl. von Ameln 2004: 14) Unsere Vermutungen bilden sich demnach aus unseren Vorstellungen von der Welt. Diese Vorstellungen bilden und manifestieren sich in jedem erkennenden Menschen durch seine sinnlichen Erfahrungen in der Welt. Der Mensch subsumiere diese in sogenannten Substanzkategorien. Über diese Kategorien wird die Wirklichkeit aufgebaut. Aufgrund dieser menschlichen Zusammensetzung der Welt sei es dem Menschen unmöglich, die Welt so zu sehen, wie sie ist. Er kann sich nur sein eigenes sinnliches Bild von der Welt machen – was er dann in seinen Experimenten bestätigt findet. (vgl. von Ameln 2004: 14)

„Als Galilei seine Kugel die schiefe Ebene mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen [ließ], oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ (…): so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt,...“ (Kant zitiert in von Ameln 2004: 14)

Für mein Vorhaben ist diese Ansicht ernüchternd. Sollte sich aus meinem zweiten Kriterium der Subjektivität des Beobachters ein Dilemma entwickeln? Sollte ich am Ende nur finden, was ich mir vorher schon gedacht habe?

Auch ein in Freiburg, bis zum Umsichgreifen des nationalsozialistischen Wahnsinns, lehrender Philosoph machte sich für die Entwicklung der konstruktivistischen Denktradition verdient. Seine Lehre untermauert das Subjektivitätskriterium des Untersuchten. Husserl bahnt in seiner Phänomenologie der Vorstellung den Weg, dass der Mensch sich seine Wirklichkeit aufgrund von Beobachtung schafft. Die Phänomene, die der Mensch beobachtet, bilden sein Bewusstsein. Das menschliche Bewusstsein ist damit laut Husserl in der Lage, sich scheinbar etwas außerhalb seines Selbst zu schaffen, was er dann als Wirklichkeit erlebt. (vgl. von Ameln 2004: 16)

2.5 Naturwissenschaftliche Einsichten

Aus der Reihe von bisher genannten Konstruktivisten wird deutlich, dass sich nicht nur Forscher aus der Philosophie konstruktivistischen Einsichten näherten. Mit der Idee und den Auswirkungen des Konstruktivismus befassten und befassen sich Vertreter der Kunst, der Mathematik, der Physik, der Psychologie, der Sprach- und Literaturwissenschaft. (vgl. Regenbogen; Meyer 1998: 358)

Mehr ein Nebenprodukt, als Antrieb für das erkenntnisleitende Interesse, sind die konstruktivistischen Einsichten die aus der naturwissenschaftlichen Forschung stammen. Zunächst stützten die naturwissenschaftlichen Disziplinen (Mathematik, Physik, Chemie, Biologie) eine Wissenschafts-tradition, die davon ausging, die Realität so wie sie ist, entdecken zu können – erwiesen sich ihre Ergebnisse doch als wiederholbar und über längere Zeit stabil. Aber spätestens seit Albert Einsteins Entdeckung der Relativität von Raum und Zeit arbeitet die Naturwissenschaft quasi den Konstruktivisten in die Arme. Mit Einsichten aus der Neurobiologie dachte man die Funktionsweise der Sinnesorgane und die Verarbeitung ihrer Impulse neu. Heinz von Foerster gewinnt daraus neue Einsichten und Erklärungen unseres Erkennens. In nächsten Abschnitt sind auch Foersters prinzipiellen Gedanken zum Konstruktivismus eingebaut, da sie den Grundstock des neueren Konstruktivismus bilden. Da ich die Relativitätstheorie als Beleg der neuen Physik anführe, führe ich die Kernaussage kurz aus. Mit Maturana und Varela stelle ich eine biologisch hergeleitete konstruktivistische Theorie vor, die viele andere Zweige des Konstruktivismus inspirierte. Ihr Modell der Autopoiesis gehört zu den Klassikern des Konstruktivismus.

2.5.1 Codieren und Decodieren?

Wie kommt die Farbe blau in unsere Vorstellung? Entgegen der alltäglichen Erfahrung sehen wir nicht eine Farbe blau, sondern nehmen Lichtreize über unser Auge auf. Dort bewirken die Lichtwellen, wenn ich dieses physikalische Modell verwenden darf, eine Erregung der Nervenzellen auf der Netzhaut. Diese Erregung ist allerdings nicht qualitativer Natur, sondern nur quantitativer. Das heißt bei der Weitergabe des Reizes ist noch nicht klar, um was es sich handelt. Erst in unserem Gehirn wird eine entsprechende Zuordnung zu diesem Reiz gemacht. Der Reiz bekommt eine qualitative Eigenschaft. Entscheidend dafür ist die Beobachtung, dass es auf den Nervenbahnen keine Unterschiede in der Impulsstärke durch den einzelnen Impuls[7], sondern nur durch eine vermehrte Aussendung ein und desselben Impulses gibt. Um dieses Modell zu erfinden, wurden Nervenfasern mit Elektroden versehen, die die transportierten Impulse messen konnten. Über eine Darstellung der Impulse wurde deutlich, dass die Amplituden, die durch Reize verursacht werden, in der Höhe alle gleich waren. Das bedeutet, der Reiz hat keinen Einfluss auf die Beschaffenheit eines Impulses. Das einzige, was sich bei einem äußerlichen Mehr an Reiz verändert, ist die Häufigkeit der Impulsweitergabe. In der neueren Musik gibt es dafür den Ausdruck ´mehr beats per minute´. Es wird also nicht der Ausschlag des Impulses erhöht, sondern die Frequenz. Aus dieser Art von Quantität formt unser Gehirn dann seine Qualität des Reizes. (vgl. von Foerster 1998: 56 f)

„Die Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur die Intensität, aber nicht die Natur der Erregungsursache. Codiert wird nur: ´Soundsoviel an dieser Stelle meines Körpers´, aber nicht ´Was´“ (von Foerster 1998: 58)

Das führt unweigerlich zu der Frage: Wie entsteht dann unser Bild von der Realität, wenn keine qualitativen Informationen aufgenommen werden? Wie kommt es zu der prächtigen Vielfalt und gleichzeitigen Beständigkeit unserer Wahrnehmung?

Für von Foerster ist die Antwort die kombinierte und gleichzeitige Wahrnehmung der Realität über mehrere Sinnesorgane. Vor allem die Verknüpfung von Sensorik und Motorik, von Aktion und die aktive Wahrnehmung der sich damit ergebenden Veränderungen in der Welt erzeugen ein vielseitiges Bild von der Welt. (vgl. von Foerster 1998: 58 f)

Anschaulich wird diese Behauptung durch mehrere Beispiele. Die Frage wie aus der großen Flut von unqualifizierten rein quantitativen Reizen eine qualitative Information entsteht, beantwortete der Mathematiker Henri Poincaré (1854-1912) sehr plastisch. Poincaré fragte sich, wie wir aus der Zweidimensionalität unserer Netzhaut und der durch sie Aufgenommenen Reize ein dreidimensionales Weltbild erzeugen. Für ihn ist diese menschliche Wahrnehmungsleistung nur durch die räumlichen Erfahrungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers zu vollbringen. Diese sind der innerliche Lage- und der äußerliche Tastsinn. Sobald ich einen zweidimensional sichtbaren Körper berühre, seine Dreidimensionalität mit den Händen ertaste und seine Ausbreitung mit dem Lagesinn erforsche, habe ich seine dritte, für uns vorerst vollständige, Dimension erkundet. Dies wird auch anschaulich sobald wir versuchen die oft als vierte Dimension bezeichnete Zeit zu verstehen. Da wir geometrisch eine vierte Dimension nicht erleben können, bleibt die Zeit eine Vorstellung mit entsprechend wagen Begriffen und sehr subjektiver Empfindung. Ähnlich könnte es einem nur zur zweidimensionalen Wahrnehmung bestimmten Organismus gehen, der einen Würfel verstehen soll. Etymologisch hat sich dieses Wissen in dem Ausdruck ´etwas begreifen´ für wirkliches Verstehen kondensiert. (vgl. von Foerster 1998: 67 f)

Diese Verknüpfung kognitiver Leistungen mit den Bedingungen unseres Körpers zeigt die Wichtigkeit einer ganzheitlichen, neben dem Geist auch den Körper und das Herz einbeziehenden Bildung ebenso auf, wie die Grenzen des Erfahrbaren. Von Foerster ergänzt diese Hypothese, in dem er die gegenseitige Bereicherung der Sinneswahrnehmungen beschreibt. Da man zum Beispiel nicht tasten kann, was man schmeckt, werden über verschiedene Sinnesorgane aufgenommene Reize nicht verglichen, sondern in Beziehung zueinander gesetzt. Sie ergänzen sich zu einem Gesamtbild des Wahrgenommenen. Dabei wird wieder der aktive Erfahrungsprozess deutlich. „Die vom Motorium erzeugten Änderungen im Sensorium sind wiederum für Veränderungen im Motorium verantwortlich usw.“ (von Foerster 1998: 68) In Anlehnung an von Foersters Gedanken stellt sich für mich die Umwelterschließung grafisch wie folgt dar:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Wirklichkeitskonstruktion

Wie sich der Organismus im Laufe seiner Lernkarriere verändert, kann, vor allem bei einem vielfältigen Organismus wie dem Menschen, niemals determiniert werden. Es kommt hingegen verbreiteter Alltagstheorie auch nicht zu einem Abschluss des Lernens. (vgl. Bauer 2004)

Die grundsätzliche Kritik der Konstruktivisten wird hier noch einmal deutlich. Der radikale Konstruktivismus greift die Suche nach der Wahrheit, der sich der abendländische Wissenschaftsbetrieb verschrieben hat, an. Dieses Suchen sei illusorisch. Wenn man sich einer Wahrheit annähere, dann müsse man eine Vorstellung davon haben oder zumindest an die Findbarkeit einer solchen glauben. Beides ist jedoch nach konstruktivistischen Vorstellungen nicht möglich. Denn die Außenwelt wird uns nur durch unser Erleben zugänglich. Unser Erleben allerdings wird hauptsächlich von unseren inneren Zuständen bestimmt. (vgl. von Foerster 1998)

Heinz von Foerster rechnet vor, dass wir 100 000-mal stärker von inneren Reizen beeinflusst werden. Für diese Feststellung vergleicht er die Zahl der inneren Nervenenden, den sogenannten Synapsen mit der Anzahl der Nervenendungen an unseren Körperaußengrenzen. Das Verhältnis ist 100000 : 1. Daraus folgert von Foerster, dass wir wesentlich stärker von unseren inneren Zuständen beeinflusst werden. Auch unsere Sinneswahrnehmungen werden von diesen inneren Zuständen geprägt. Demnach sollen wir mit einer Wahrnehmung wenig bis nichts über „die Welt da draußen“ erfahren sondern nur mehr über uns; mit unseren Wahrnehmungsverzerrungen und Wahrnehmungsunmöglichkeiten. (vgl. von Foerster 1998: 53) Eine dieser Wahrnehmungsunmöglichkeiten, selbst in uns, an und für sich, zugänglichen Sinneswelten, wurde im abgebildeten Eingangsbeispiel dargestellt.

2.5.2 Die Relativitätstheorie Einsteins

Eine der großen naturwissenschaftlichen Untermauerung der konstruktivistischen Maxime, das die Welt objektiv nicht so ist, wie sie uns erscheint, brachte kein geringerer als Albert Einstein (1879-1955). Mit seiner allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie erschütterte er die seit Newton geltenden Vorstellungen von „Raum“ und „Zeit“. Eine Kernaussage von Einsteins Theorie besagt, dass Raum und Zeit in einem Zusammenhang stehen und ein Körper je nach seiner Masse eine sogenannte Krümmung in dieser vierdimensionalen „Raumzeit“ verursacht. (vgl. von Ameln 2004: 18) Diese, durch Versuche rekonstruierbare Erscheinung, ist soweit von unserer Alltagserfahrung entfernt, dass die Diskrepanz von Wahrnehmung und Realität ins Auge sticht.

2.5.3 Die Autopoiesis nach Maturana und Varela

Humberto Maturana hat seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach einer Erklärung des Lebendigen aus sich selbst heraus gesucht. Francisco Varela, seit 1965 zuerst Schüler von Maturana, schloss sich dem Forschungsvorhaben an. Ihre ersten Ergebnisse in den 70er Jahren inspirierten viele, auch in dieser Arbeit zitierter, Konstruktivisten. 1987 fassten sie ihre bisherigen Erkenntnisse in dem Buch ´Der Baum der Erkenntnis´ zusammen. Aus dieser Publikation heraus stelle ich nun ein zentrales konstruktivistisches Motiv vor, die Idee der Autopoesis. Der Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist die Feststellung, „daß alles Erkennen ein Tun des Erkennden ist und daß jedes Erkennen von der Struktur des Erkennenden abhängt.“ (Maturana und Varela 1987: 40) Als Biologen leiten sie die Entstehung von Lebewesen aus den Anfängen der Erdgeschichte her. Als Kohlenstoffmoleküle entstehen, beginnt für Maturana und Varela das Leben, wie wir es heute kennen. Diese Moleküle haben nämlich die Eigenschaft, sich zu vernetzen. Diese Netzwerke haben die Möglichkeit, die Moleküle zu bilden aus denen sie selbst bestehen. Um diese Vervielfältigung zu bewerkstelligen, muss das Netzwerk gleichzeitig eine Abgrenzung gegenüber dem umliegenden Raum vollziehen. Damit sind die beiden konstituierenden Merkmale von Lebewesen schon benannt: sich selbst produzieren und abgrenzen. (vgl. Maturana und Varela 1987: 46) Da wir Menschen aus vielen Kohlenstoffverbindungen bestehen, mutmaßen Maturana und Varela mit changierender (vgl. von Ameln 2004) Gewissheit, dass auch die Einheit Mensch diesen Gesetzen unterliegt. (vgl. Maturana und Varela 1987: 100) Im Folgenden schließe ich mich dieser Interpretation von biologischen Phänomenen an.

Aussagen über Unterscheidung als konstituierend für Beobachtung und Beschreibung finden sich auch bei Maturana und Varela. Sie verknüpfen Unterscheidung mit dem Begriff der Einheit.

„Eine Einheit {Entität, Wesen, Objekt} ist durch einen Akt der Unterscheidung definiert. Anders herum: Immer dann, wenn wir in unseren Beschreibungen auf eine Einheit Bezug nehmen, implizieren wir eine Operation der Unterscheidung, die die Einheit definiert und möglich macht.“ (Maturana und Varela 1987: 46)

Zur Erklärung der veränderlichen und unveränderlichen Bestandteile einer Einheit führen Maturana und Varela die Begriffe Struktur und Organisation ein. Mit Organisation ist das Unveränderliche gemeint, damit eine Einheit mit anderen Einheiten, als zu einer Gruppe gehörend, definiert werden kann. Mit Struktur ist die Verwirklichung der Organisation gemeint. Um sich nicht selbst aufzulösen, muss ein Lebewesen diese Organisation respektieren und erhalten. Diese Verwirklichung kann in ihrer Struktur aber sehr unterschiedlich ausfallen. Je komplexer eine Organisation, desto vielfältiger die strukturellen Erscheinungsmöglichkeiten.

Zur Veranschaulichung ein Beispiel. Eine Einheit, die die Organisation einer Tasse aufweist, erkennen wir als solche, weil bestimmte Relationen passen: eine Vertiefung, die Flüssigkeiten aufnehmen kann, eventuell ein Griff zum Halten und vielleicht die Möglichkeit, die Tasse auf einer Ebene abzustellen. Über die Struktur ist noch nichts gesagt. Diese ist maximal variabel. Die Tasse kann aus den unterschiedlichsten Materialen sein und die abgefahrensten Formen aufweisen, solange sie die Organisation als Tasse nicht verliert. (vgl. Maturana und Varela 1987: 49 f)

Der Schritt zu lebendigen Organisationen besteht für Maturana und Varela nun darin, dass lebendige Organisationen innerhalb ihrer Einheit Transformationen bewerkstelligen, die als Ergebnis, die Bestandteile aus denen die Einheit besteht, erzeugen. Hinzu kommt, dass ein Teil dieser Bestandteile dazu dient, die Einheit zu begrenzen und damit erst zu bilden. Das Besondere an dieser Begrenzung ist, dass sie kein Produkt der Einheit ist, sondern an der Produktion der Einheit elementar mitwirkt. Diese sich selbst erzeugende Einheit bezeichnen sie als Autopoiese – von griechisch auto = selbst und poiein = machen. (vgl. Maturana und Varela 1987: 51 ff) Diesen Vorgang bezeichnen die Autoren als etwas Wesentliches einer lebendigen Organisation: die Feststellung, „daß das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, …“ (Maturana und Varela 1987: 56)

An die Grenze lebender Einheiten wird eine besondere Anforderung gestellt. Einerseits muss sie stabil genug für eindeutige Begrenzung und andererseits durchlässig für Interaktionen sein. Denn ohne Interaktion mit ihrer Umwelt, kann keine lebende Einheit bestehen. Um die inneren Prozesse Aufrecht erhalten zu können, muss ein Austausch von Ionen und Molekülen möglich sein. (vgl. Maturana und Varela 1987: 58 ff) Durch diese Interaktionen wird die Einheit immer wieder mit neuen Eindrücken konfrontiert. Für die Struktur bedeutet dies die ständige Reaktion auf die Einflüsse. Da diese Reaktion aber den Gesetzmäßigkeiten der eigenen Struktur folgt, handelt es sich nicht um einen passiven Prozess. Vielmehr spiegelt sich aktiv das aktuelle Interaktionsvermögen der Struktur wieder. Da es sich nicht um eine bewusste Beeinflussung handeln kann, sprechen Maturana und Varela von einer Störung, Perturbation. Nicht die Perturbation, sondern die Struktur entscheidet die Reaktionsweise der Organisation. Durch die von Interaktionen ausgelösten Störungen werden aber auch Veränderungen im Zustand der Struktur aktiviert. Dadurch ist die Struktur von lebendigen Einheiten ständig im Wandel: entweder durch Perturbationen von außen aktiviert oder durch ihre innere Veränderungensdynamik. Diese innere Determiniertheit wird operationale Geschlossenheit genannt. (vgl. Maturana und Varela 1987: 60) Maturana und Varela betonen allerdings auch, dass aus der Determiniertheit keine Vorhersehbarkeit abgeleitet werden kann. (vgl. Maturana und Varela 1987: 135) Das Modell Foersters von der nicht-trivialen Maschine, das später noch vorgestellt wird, erklärt die Unvorhersehbarkeit der Entwicklung komplexer Systeme (siehe 2.6.2).

Eine dauerhafte Interaktion einer Einheit mit seiner Umgebung nennen die Autoren eine strukturelle Koppelung. Dabei wird die Reaktion auf eine Perturbation zur nächsten Perturbation für den Interaktionspartner. Maßgeblich ist, dass jede Einheit weiterhin nach ihren eigenen Strukturen funktioniert, sie sich aber aufeinander beziehen. (vgl. Maturana und Varela 1987: 84 ff) Hierdurch kann eine gemeinsame Sinnfindung stattfinden. Für meine Auffassung von Verstehen ist hier einfach und eindrucksvoll zugleich beschrieben, wie Verstehen möglich ist. Ein Erklären oder Erkennen des Gegenübers ist ausgeschlossen. Nur der Versuch mit Hilfe seiner eigenen Konstrukte die Konstrukte des anderen zu verstehen ist gangbar. Durch strukturelle Koppelung im Gespräch können wir erreichen, dass die Perturbation ´Sprache´ uns hilft, unseren Gedanken einen Sinn zu geben und den Sinn von Gesagtem zu verstehen. Kommunikation wird hier nicht als das betrachtet was gesagt wird, sondern als das, was sie im Empfänger auslöst. Für unsere Vorstellung von Kommunikation bedeutet Maturanas und Varelas Bild von der operationalen Geschlossenheit, dass jede „Person sagt, was sie sagt, und hört, was sie hört, gemäß ihrer eigenen Strukturdeterminiertheit.“ (Maturana und Varela 1987: 212) Hier ist die Subjektivität von Untersuchten und Beobachter biologisch erklärt.

2.6 „Neuere“ philosophische Einsichten

Durch die bisherigen Ausführungen bin ich auf der Suche nach einem adäquaten Umgang mit Subjektivität. Erkenntnisse aus der Regelungstechnik machen im folgenden Kapitel entscheidende Einflüsse auf den Konstruktivismus deutlich. Ebenso brachte der Philosoph von Foerster ein hilfreiches Begriffspaar in die Theorie ein. Hier wird die Subjektivität zur humanistischen Einstellung erklärt. Schließlich stelle ich einige konstruktivistische Ergebnisse der Mathematiker George Spencer Brown und Gregory Bateson dar, weil hier die Notwendigkeit von Subjektivität aufgezeigt wird. Ein wichtiger philosophischer Vertreter des Konstruktivismus der neueren Zeit ist Ernst von Glasersfeld. Seine Gedanken werde ich am Ende dieses Kapitels aufgreifen. Glasersfeld veranschaulicht mit guten Metaphern den Weg menschlicher Erkenntnis und entlastet die Wissenschaft von der Wahrheitsfindung.

2.6.1 ybernetik und Konstruktivismus

Aus der Kybernetik kamen viele Impulse für die philosophische Weiterentwicklung des Konstruktivismus. Zur Interpretation von Beobachtungen höchst relevant sind die Aussagen des Kybernetikers Helmut Willke. Er behauptet, dass bei komplexen Systemen keine Zuordnungen nach dem Schema, dieser Input = dieses Resultat, möglich sind.

Ebenfalls aus der Kybernetik leitet sich das sogenannte Emergenz-phänomen ab. Hier wird von einer selbstständigen Entwicklung eines Systems aufgrund der Komplexität jenes Systems ausgegangen. Der Begriff Emergenz wird in der Botanik für die Bezeichnung eines Auswuchses bei Pflanzen benutzt. Hier dagegen soll es heißen, dass sobald ein System eine gewisse Größe und Komplexität erreicht hat, die Eigenschaften des Systems nicht mehr aus den Eigenschaften der Einzelteile erklären können. Das System bekommt Auswüchse, die nicht wie in der Botanik negativ sein müssen und über das berechenbare Wachstum hinausgehen können. Der bekannte Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ wird hier präzisiert: „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile“. (von Ameln 2004: 27) Für die Erhebung von Projekten ab einer gewissen Größe und bei der Beteiligung von Menschen, ist dieses Prinzip erkenntnisleitend. Erstens, weil Menschen an sich schon ein komplexes System darstellen und zweitens, weil Gruppen ein komplexes System darstellen. Der Versuch einer Erklärung nach einfachen Mustern muss scheitern. Für die Untersuchung von Projekten mit menschlicher Beteiligung bedeutet dies, dass der Fokus nicht auf die zugrundeliegenden Strukturen jedes einzelnen Beteiligten gelegt werden muss. Antworten auf die Wirkmechanismen findet man eher in der Betrachtung des gesamten Systems.

Nach Willke kann nur der Mensch beobachten, weil ausschlaggebend dafür, ein Erkennen von Veränderung in der Zeit nötig ist. Möglich macht dies die menschliche Fähigkeit zu erinnern. Ich teile diese Ansicht nicht vollständig, da auch ein Huhn das Korn, welches es picken will, vom Boden unterscheiden muss und kann. Allerdings stimme ich zu, dass komplexere Zustände über eine Gedächtnisfunktion verglichen werden müssen. Eine Funktion mit der wir Menschen vermutlich am häufigsten agieren. Willke begründet die Bedeutung des Gedächtnisses damit, dass zum Vorher-Nachher-Vergleich das vergangene Vorher irgendwo festgehalten werden muss, damit es mit dem Jetzt verglichen werden kann. Die Grenzen der menschlichen Unterscheidungsfähigkeit beschreibt Willke folgendermaßen:

„Beobachten läßt sich all das, was in der Form irgendeiner Differenz vorliegt oder in diese Form gebracht werden kann, vorausgesetzt, daß die Form der Differenz für den Beobachter einen Sinn macht.“ (Willke 1994: 17)

Willke betont auch, dass der bei Evaluationen üblicherweise gesetzte Schwerpunkt auf die Untersuchung der Handlungsebene falsch liegt. Viel wichtiger ist es zu suchen, wo und welche Unterschiede der untersuchte Organismus macht. (vgl. Willke 1994: 19) Das dabei der Beobachter die entscheidende Rolle spielt, ist für Willke selbstverständlich.

„…nicht erst die Tatsache, daß das beobachtete System ein komplexes ist, schließt eine direkte Beobachtung dieses Systems aus; schon daraus, daß der Beobachter als Mensch ein nicht-triviales, (für sich und andere) nur schwer durchschaubares psychisches System ist, folgt, daß eine unmittelbare und unvermittelte Beobachtung fremder Systeme nicht möglich ist.“ (Willke 1994: 24)

Hier tauchen mehrere Begriffe auf, die ich in den folgenden Abschnitten klären muss. Was zum Beispiel bedeutet nicht-triviale Maschine?

2.6.2 Die nichttriviale Maschine

Die emergenten und nicht-linearen Eigenschaften von komplexen Systemen erläutert Heinz von Foerster mit seinem Modell über die triviale und nichttriviale Maschine. Er sorgte damit für eine eher technisch-mathematische Herleitung des Konstruktivismus, die die Akzeptanz konstruktivistischer Gedanken in technisch-wissenschaftlichen Kreisen erhöht haben dürfte. Die mathematische Herleitung soll hier nicht abgebildet werden. Vielmehr tragen seine Erkenntnisse zum Verständnis der komplexen Systeme Mensch und Gesellschaft bei.

Eine triviale Maschine ist so konzipiert, dass definierbare Ursachen zu definitiven Wirkungen führen – und zwar immer die gleichen Wirkungen aufgrund bestimmter Ursachen. Dieses eintönige Schema veranlasst von Foerster zur Namensgebung „trivial“ was im Synonymwörterbuch unter anderem mit „einfallslos [und] gewöhnlich“ (Duden Synonymwörterbuch 2004: 871) beschrieben wird. (vgl. von Foerster 1998: 60 ff)

Von Foerster definiert triviale Maschinen als:

„synthetisch determiniert;
analytisch determiniert;
vergangenheitsunabhängig;
voraussagbar.“ (von Foerster 1998: 62)

Synthetisch determiniert bedeutet hier so viel wie künstlich begrenzt. Diese Abgrenzung ist zur Untersuchung notwendig. Analytisch determiniert heißt, dass durch einfaches Notieren der Eingangs- und Ausgangswerte eine Beschreibung der Wirkmechanismen erhalten werden kann. Mit vergangenheitsunabhängig ist gemeint, dass vergangene Arbeiten der Maschine keinen Einfluss haben auf die aktuellen Ergebnisse. Schließlich sind die weiteren Ergebnisse einer solchen Maschine vorhersehbar.

Als das Weltbild in früheren Gesellschaften noch mehr in solchen trivialen Kategorien gefasst war, vermuteten Wissenschaftler auch, dass durch genügend Informationen und Verarbeitungskapazitäten früher oder später alle Phänomene erklärt werden können: „Die Welt: eine triviale Maschine!“ (von Foerster 1998: 62)

[...]


[1] Mit Sozialem Bereich oder Sozialem Sektor meine ich Arbeitsbereiche, in denen Sozialarbeiter und Sozialpädagogen tätig sind.

[2] Zur Erleichterung des Leseflusses verwende ich, natürlich abgesehen von wörtlichen Zitaten, einheitlich die maskuline Formulierung von Personen, die sich dennoch auf beide Geschlechter gleichermaßen bezieht.

[3] Ich verwende den etablierten Begriff, Auch wenn Watzlawick mit guten Argumenten für den Begriff „Wirklichkeitsforschung“ wirbt. (Watzlawick 2000: 10)

[4] Die philosophische bzw. neurophysiologische Frage, ob es überhaupt eine Realität gibt, oder eine solche nur in uns Menschen imaginiert wird, möchte ich in dieser Diplomarbeit nicht thematisieren. Vielmehr geht es mir um die Unterscheidung von „objektiver“ Wirklichkeit (was dem hier verwendeten Begriff der Realität entspricht) und „subjektiver“ Wirklichkeit.

[5] hier: im Sinne von allen materiellen Daseinsformen. „Das seiende: das, was ist; das, von dem ausgesagt wird, dass es ist.“ (regenbogen; Meyer 1998: 594)

[6] „Vertretung“ (Duden Fremdwörterlexikon 1997: 701)

[7] Bateson definiert impuls für die beschreibung neuraler prozesse mit „Nachricht von einem Unterschied“ (Bateson 1999: 583)

Ende der Leseprobe aus 110 Seiten

Details

Titel
Fremd- und Selbstevaluation von sozialen Projekten unter konstruktivistischer Sicht
Untertitel
Inhaltsanalyse nach Mayring, Philipp
Hochschule
Evangelische Fachhochschule Freiburg
Note
1,4
Autor
Jahr
2007
Seiten
110
Katalognummer
V155604
ISBN (eBook)
9783640686377
ISBN (Buch)
9783640686278
Dateigröße
699 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konstruktivismus, Evaluation
Arbeit zitieren
Christian Gotz (Autor:in), 2007, Fremd- und Selbstevaluation von sozialen Projekten unter konstruktivistischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/155604

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