Diese Magisterarbeit widmet sich einem in der Historiographie des Kalten Krieges selten diskutierten Widerspruch: Warum unterstützte ausgerechnet die Sowjetunion, die selbst kein Nationalstaat, sondern ein Vielvölkerreich war, mehr als jeder andere Staat im 20. Jahrhundert die Auflösung der europäischen Kolonialreiche und inspirierte nationalistische Politiker in vielen Ländern der Dritten Welt? War die Sowjetunion nicht selbst, wie viele in den postsowjetischen Staaten heute behaupten, das letzte europäische Kolonialimperium?
Diese Fragen verweisen auf das Verhältnis zwischen Nation und Vielvölkerreich innerhalb der Sowjetunion, das in den letzten Jahren ein Schwerpunkt der Forschung zur sowjetischen Geschichte war. Gleichzeitig wirft die Arbeit ein neues Licht auf die Beziehungen der Sowjetunion zur Dritten Welt in der Epoche der Dekolonisation. Die Arbeit schließt an neuere Geschichten des Kalten Krieges an, die jenseits der politischen Ereignisgeschichte auch die sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergründe von Außenpolitik in den Blick nehmen.
Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle der Sowjetrepubliken in Zentralasien, die ab den fünfziger Jahren von sowjetischen Politikern als Vorbild für die neuen Nationalstaaten der Dritten Welt angepriesen wurden. Die zentralasiatischen Republiken sollten als Beispiel dafür dienen, wie Sozialismus und Nationsbildung im “unterentwickelten Orient” miteinander verbunden werden konnten. Zahlreiche Delegationen aus der Dritten Welt reisten nach Zentralasien und umgekehrt wurden zentralasiatische Muslime als vorbildliche Repräsentanten einer angeblich postkolonialen sowjetischen Ordnung in die Dritte Welt geschickt. Sogar als Pilger in Mekka sollten Usbeken und Tadschiken der islamischen Welt die Vorzüge des sowjetischen Sozialismus nahebringen. Diese im Geist des sowjetischen “Internationalismus” stattfindenden Begegnungen waren oft weniger harmonisch als es sowjetische Propaganda behauptete. Gerade im Kontakt mit den neuen Eliten der Dritten Welt wurden die Spannung zwischen Nation und Imperium im sowjetischen Selbstverständnis sichtbar.
Die Arbeit beruht nicht nur auf Sekundärliteratur und veröffentlichten Quellen, sondern bezieht an vielen Stellen auch unpubliziertes Material aus russischen Archiven ein. Sie leistet damit nicht nur einen konzeptionellen Beitrag zu einer Globalgeschichte der Sowjetunion, sondern erschließt auch Quellen, die als Grundlage für weitere Arbeiten in diesem Feld dienen könnten.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Nation und Vielvölkerreich in der Sowjetunion
- Der Dekolonisationsprozess und die sowjetische Außenpolitik
- Zwischen "sowjetischem" und "ausländischem” Orient: Die zentralasiatischen Sowjetrepubliken als Vorbild für die Dritte Welt.
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Magisterarbeit untersucht die Rolle der zentralasiatischen Sowjetrepubliken in der sowjetischen Außenpolitik während der Dekolonisation. Dabei werden die Herausforderungen und Möglichkeiten beleuchtet, die sich aus der sowjetischen Vielvölkerstruktur und dem Dekolonisationsprozess für die sowjetische Außenpolitik ergaben. Die Arbeit analysiert, wie die Sowjetunion das Selbstbild eines multiethnischen Staates nutzte, um Einfluss in der Dritten Welt zu gewinnen und die eigene Legitimität als Modell für die postkoloniale Weltordnung zu etablieren.
- Die sowjetische Vielvölkerstruktur und ihr Einfluss auf die Außenpolitik
- Die Sowjetunion als Modell für die Dritte Welt
- Die Rolle der zentralasiatischen Sowjetrepubliken im Dekolonisationsprozess
- Die sowjetische Strategie des "sozialistischen Internationalismus" und ihre Anwendung in der Dritten Welt
- Die Darstellung der sowjetischen Geschichte und die Konstruktion nationaler Identitäten in den zentralasiatischen Republiken
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Einleitung stellt anhand eines Beispiels der Weltjugendfestspiele in Moskau 1957 den "sozialistischen Internationalismus" der Sowjetunion als Kern einer neuen Weltordnung vor. Sie führt in die zentralen Themen der Arbeit ein, indem sie die sowjetische Perspektive auf die Dekolonisation und die Bedeutung der Vielvölkerstruktur der Sowjetunion beleuchtet.
- Nation und Vielvölkerreich in der Sowjetunion: Dieses Kapitel beleuchtet die Geschichte der sowjetischen Vielvölkerstruktur, die Herausforderungen der Integration und die sowjetische Konstruktion nationaler Identitäten. Es stellt dar, wie die Sowjetunion die Idee der "Völkerfreundschaft" als ideologisches Fundament für ihre multiethnische Struktur nutzte.
- Der Dekolonisationsprozess und die sowjetische Außenpolitik: Das Kapitel analysiert die sowjetische Reaktion auf die Dekolonisation und die Rolle der Sowjetunion in der Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Es setzt sich mit den sowjetischen Strategien auseinander, die darauf zielten, Einfluss in der neu entstandenen Dritten Welt zu gewinnen.
- Zwischen "sowjetischem" und "ausländischem” Orient: Die zentralasiatischen Sowjetrepubliken als Vorbild für die Dritte Welt.: Dieses Kapitel fokussiert auf die Rolle der zentralasiatischen Sowjetrepubliken in der sowjetischen Außenpolitik. Es untersucht, wie die Sowjetunion das Selbstbild der zentralasiatischen Republiken nutzte, um den "sozialistischen Internationalismus" als Modell für die Dritte Welt zu präsentieren und die eigene Legitimität zu unterstreichen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Schlüsselbegriffen sowjetischer "sozialistischer Internationalismus", Dekolonisation, Vielvölkerstaat, zentralasiatische Sowjetrepubliken, nationaler Identität und sowjetische Außenpolitik. Die Untersuchung analysiert die sowjetische Konstruktion von Geschichte und nationaler Identität im Kontext des Dekolonisationsprozesses und die Rolle der zentralasiatischen Republiken als Modell für die postkoloniale Weltordnung. Die Arbeit beleuchtet die spezifischen Herausforderungen und Möglichkeiten, die sich aus der sowjetischen Vielvölkerstruktur und der Dekolonisation für die sowjetische Außenpolitik ergaben.
- Arbeit zitieren
- Moritz Deutschmann (Autor:in), 2009, Die zentralasiatischen Sowjetrepubliken und die sowjetische Außenpolitik in der Dritten Welt während der Entstalinisierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/156643