Auf den ersten Blick scheinen die Begriffe Elternschaft und Familie Kennzeichen eines „normalen“ Lebenslaufes zu sein. Auf Grund der demographischen Entwicklung in Deutschland ist es sogar erwünscht Nachkommen zu zeugen, die dann die Fortführung des Generationsvertrages gewährleisten. In Verbindung mit geistiger Behinderung scheinen Elternschaft und Familie jedoch das Gegenteil zu sein: unerwünscht, paradox.
on einer solchen Sichtweise konnte ich mich während meines Fremdpraktikums im JA (Jugendamt) selbst überzeugen. Meine Beobachtungen und Erfahrungen mündeten schließlich in der Frage, was Eltern mit geistiger Behinderung sowie deren Kinder offenkundig zu schwierigen Fällen werden lässt. Wertvolle Anregungen hierzu fand ich unter anderem in dem überaus instruktiven Buch von S. Ader „Was leitet den Blick? Wahrnehmung, Deutung und Intervention in der Jugendhilfe“.
Die vorliegende Bachelorarbeit greift einige Kerngedanken, Untersuchungsergebnisse sowie Untersuchungsmethoden auf und konkretisiert diese im Hinblick auf die Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung. Die zentrale Fragestellung lautet: Was lässt Eltern mit geistiger Behinderung sowie deren Kinder zu schwierigen Fällen werden, welche Risikofaktoren haben Anteil an diesen Fallverläufen und welche Konflikte und Herausforderungen ergeben sich für die Soziale Arbeit.
Um diese komplexe Fragestellung beantworten zu können, widmet sich das zweite Kapitel zunächst der Diskussion um die Begriffe „geistige Behinderung“ und „Lernbehinderung“ so-wie „elterliche Kompetenz“. Im Zentrum steht dabei das PSM (Parental Skills Model), vor dessen Hintergrund ausführlich die gängigen Mythen über Eltern mit geistiger Behinderung diskutiert werden.
Anknüpfend an diese Ausführungen beschäftigt sich das darauffolgende Kapitel mit dem methodischen Zugang zum Einzelfall. Zunächst gibt das dritte Kapitel einen kurzen Einblick in die Forschungsmethode der Aktenanalyse. Im Anschluss werden die Kennzeichen schwieriger Fallverläufe in Form von Risikofaktoren im Hilfe- und Klientensystem beleuchtet. Diese Ausführungen bilden die Grundlage für das vierte Kapitel, in welchem mittels Analyse der Jugendhilfeakten herausgestellt werden soll, wie aus Familie Schulz ein schwieriger Fall wurde.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung
2.1 Geistige Behinderung und Lernbehinderung
2.1.1 Begriffsbestimmung geistige Behinderung
2.1.1.1 Ursachen
2.1.1.2 Soziologische Sichtweise
2.1.1.3 Die ICD-10
2.1.2 Einordnung der Lernbehinderung
2.2 Kennzeichen elterlicher Kompetenz
2.2.1 Das Parental Skills Model
2.2.1.1 Lebenspraktische Fähigkeiten
2.2.1.2 Familiärer Hintergrund
2.2.1.3 Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten
2.2.1.4 Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung
2.2.2 Das erweiterte Parental Skills Model
2.3 Vorurteile gegenüber der Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung..
2.3.1 Vererbung der geistigen Behinderung
2.3.2 Hohe Kinderzahl
2.3.3 Missbrauch der Kinder
2.3.4 Vernachlässigung der Kinder
2.3.5 Unangemessenes Elternverhalten
3. Methodischer Zugang zum Fall
3.1 Grundlagen der Aktenanalyse
3.2 Kennzeichen „schwieriger“ Fälle - Risikofaktoren
3.2.1 Risikofaktoren im Hilfesystem
3.2.1.1 Mangelnde Kooperation der Hilfesysteme
3.2.1.1.1 Kooperation zwischen den Hilfesystemen
3.2.1.1.2 Kooperation innerhalb der Hilfesysteme
3.2.1.2 Dominanz der Interessen der Hilfesysteme
3.2.1.2.1 Minimaler Eingriff
3.2.1.2.2 Ausgrenzung
3.2.1.2.3 Orientierung an verfügbaren Hilfen
3.2.1.2.4 Kurzsichtigkeit
3.2.1.3 Mangelnde Selbstreflexion
3.2.1.4 Symptomorientierung
3.2.1.5 Unreflektierte Identifikation mit dem Klientensystem
3.2.1.6 Ausblendung des „subjektiven Faktors“
3.2.1.7 Fehlende Partizipation der Klienten
3.2.1.8 Mangelnde Fachlichkeit
3.2.2 Risikofaktor „geistige Behinderung der Eltern“?
4. Wie aus Familie Schulz ein schwieriger Fall wurde - Analyse der Jugendhilfeakten
4.1 Überblick über den Hilfeverlauf
4.2 Darstellung und Analyse der Lebens- und Hilfegeschichte
4.2.1 Familiärer Hintergrund der Kindesmutter
4.2.2 Beginn und Verlauf der ersten Hilfe (11/2001 bis 02/2004)
4.2.2.1 Der erste Hilfeplan: Beginn der Hilfe
4.2.2.2 Der zweite Hilfeplan: Reflexion und Konkretisierung
4.2.2.3 Der dritte Hilfeplan: Konflikte und Krisen
4.2.2.4 Der vierte Hilfeplan: Fortführung der Hilfe
4.2.2.5 Der fünfte Hilfeplan: Wechsel der Familienhelfer
4.2.2.6 Der sechste Hilfeplan: neuer Helfer neue Ängste
4.2.2.7 Die Geburt des zweiten Kindes
4.2.3 Änderung der Hilfeart und Umzug (02/2004 bis 06/2004)
4.2.3.1 Gründe für die stationäre Betreuung der Familie
4.2.3.2 Beginn der stationären Hilfe (03/2004)
4.2.3.3 Abbruch der Hilfe von Seiten der Kindesmutter
4.2.3.4 Erneute Aufnahme der Familie in die Einrichtung
4.2.4 Das Leben in B-Stadt (07/2004 bis 02/2006)
4.2.4.1 Die sozialstrukturelle Situation im Hilfeverlauf
4.2.4.2 Die Familiensituation
4.2.4.2.1 Die Entwicklung der Tochter
4.2.4.2.2 Die Entwicklung des Sohnes
4.2.4.3 Das soziale Umfeld der Familie
4.2.4.4 Ressourcen der Kindesmutter
4.2.5 Umzug und Leben in E-Stadt (03/2006 bis 07/2007)
4.2.5.1 Familiendiagnose
4.2.5.2 Der erste Hilfeplan in E-Stadt
4.2.5.3 Fortführung der Hilfe im Haushalt des Vaters
4.2.5.4 Fortführung der Hilfe in der neuen Wohnung
4.2.5.5 Antrag auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf das Jugendamt
4.2.5.6 Vorbereitung eines erneuten Umzuges
4.2.6 Umzug und Leben in A-Stadt (07/2007 bis 02/2008)
4.2.6.1 Beginn der neuen Hilfe
4.2.6.2 Die ersten Wochen in der neuen Wohnung
4.2.6.3 Der weitere Verlauf der Hilfe (12/2007 bis 02/2008)
4.2.6.3.1 Die Wohnsituation
4.2.6.3.2 Die Lebenssituation der Kindesmutter
4.2.6.3.3 Die Beziehung der Kindesmutter zum Partner
4.2.6.3.4 Die Situation der Kinder
4.2.6.3.5 Das Hilfeplangespräch
4.2.7 Zuspitzung des Hilfeverlaufs und Eskalation (03/2008 bis 06/2008)
4.2.7.1 Der Hilfeverlauf bis 05/2008
4.2.7.1.1 Die alltägliche Lebensführung
4.2.7.1.2 Soziales Netzwerk
4.2.7.1.3 Psychische Belastungen
4.2.7.2 Abbruch der Hilfe von Seiten des Trägers (06/2008)
4.2.7.2.1 Gründe für den Abbruch der Hilfe
4.2.7.2.2 Klärung der Perspektive der Familie
4.2.8 Das Leben der Familie seit 07/2008
4.2.8.1 Die Entwicklung der Tochter
4.2.8.2 Die Entwicklung des Sohnes
4.3 Ergebnisse der Analyse
5. Zusammenfassung
6. Bibliographie
7. Internetquellen
8. Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Das Parental Skills Model
Abb. 2: Das erweiterte Parental Skills Model
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Klassifikation nach der ICD-10
Tab. 2: Einordnung geistige Behinderung und Lernbehinderung anhand der IQ-Werte
Tab. 3: Überblick über den Hilfeverlauf
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Auf den ersten Blick scheinen die Begriffe Elternschaft und Familie Kennzeichen eines „normalen“ Lebenslaufes zu sein. Auf Grund der demographischen Entwicklung in Deutschland ist es sogar erwünscht Nachkommen zu zeugen, die dann die Fortführung des Generationsvertrages gewährleisten. In Verbindung mit geistiger Behinderung scheinen Elternschaft und Familie jedoch das Gegenteil zu sein: unerwünscht, paradox.
Von einer solchen Sichtweise konnte ich mich während meines Fremdpraktikums im JA (Ju- gendamt) selbst überzeugen. Meine Beobachtungen und Erfahrungen mündeten schließlich in der Frage, was Eltern mit geistiger Behinderung sowie deren Kinder offenkundig zu schwie- rigen Fällen werden lässt. Wertvolle Anregungen hierzu fand ich unter anderem in dem über- aus instruktiven Buch von S. Ader „Was leitet den Blick? Wahrnehmung, Deutung und Inter- vention in der Jugendhilfe“.
Die vorliegende Bachelorarbeit greift einige Kerngedanken, Untersuchungsergebnisse sowie Untersuchungsmethoden auf und konkretisiert diese im Hinblick auf die Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung. Die zentrale Fragestellung lautet: Was lässt Eltern mit geistiger Behinderung sowie deren Kinder zu schwierigen Fällen werden, welche Risikofaktoren haben Anteil an diesen Fallverläufen und welche Konflikte und Herausforderungen ergeben sich für die Soziale Arbeit.
Um diese komplexe Fragestellung beantworten zu können, widmet sich das zweite Kapitel zunächst der Diskussion um die Begriffe „geistige Behinderung“ und „Lernbehinderung“ so- wie „elterliche Kompetenz“. Im Zentrum steht dabei das PSM (Parental Skills Model), vor dessen Hintergrund ausführlich die gängigen Mythen über Eltern mit geistiger Behinderung diskutiert werden.
Anknüpfend an diese Ausführungen beschäftigt sich das darauffolgende Kapitel mit dem me- thodischen Zugang zum Einzelfall. Zunächst gibt das dritte Kapitel einen kurzen Einblick in die Forschungsmethode der Aktenanalyse. Im Anschluss werden die Kennzeichen schwieriger Fallverläufe in Form von Risikofaktoren im Hilfe- und Klientensystem beleuchtet. Diese Aus- führungen bilden die Grundlage für das vierte Kapitel, in welchem mittels Analyse der Ju- gendhilfeakten herausgestellt werden soll, wie aus Familie Schulz ein schwieriger Fall wurde.
Dabei wird zunächst ein Überblick über den Hilfeverlauf gegeben. Daran anknüpfend wird die Lebens- und Hilfegeschichte der Familie Schulz erörtert, anhand derer nachvollzogen werden soll, welche Risikofaktoren in diesem Einzelfall zu einem schwierigen Fallverlauf beigetragen haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Herausstellung von Risikofaktoren im Hilfesystem. Abschließend werden die wesentlichsten Befunde herausgestellt, die zu dem schwierigen Fallverlauf beigesteuert haben.
In einer Zusammenfassung der Arbeit soll schließlich transparent gemacht werden, welche Konflikte und Herausforderungen sich aus der Untersuchung der Fragestellung ableiten las- sen. Dabei soll insbesondere der Bezug zur gegenwärtigen Praxis der Sozialen Arbeit herge- stellt werden.
2. Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung
Die Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung ist scheinbar ein recht neues Gebiet in der Forschung. Jedoch zeigt die historische Entwicklung, dass diese Thematik seit circa 100 Jahren zur Diskussion steht (vgl. Prangenberg 2008, S. 25). Vordergründig lässt sich für die historische Entwicklung der Wandel der Frage, ob Menschen mit geistiger Behinderung Eltern werden dürfen, zu der Frage, wie sie unterstützt werden können, beschreiben (vgl. ebd., S. 37f.).
Infolge der Normalisierung sowie der Empowermentbewegung konnte für Menschen mit geistiger Behinderung das Recht auf Sexualität und Elternschaft eingeräumt werden (vgl. ebd., S. 36). Mit dem 1992 geänderten Betreuungsgesetz wurde schließlich eine gesetzliche Grundlage geschaffen, durch welche die Sterilisation gegen den Willen der Betroffenen sowie bei Minderjährigen, nicht mehr verwirklicht werden konnte (Onken 2008, S. 53ff.). Damit wurde dann das Recht auf Sexualität und Elternschaft für Menschen mit geistiger Behinde- rung geltend gemacht. Neuere Forschungen in Deutschland wurden seit etwa 20 Jahren in zwei bundesweiten Studien, durch das Bremer Forschungsteam Pixa-Kettner, Bergfrede und Blanken, durchgeführt.
Folglich sind wir gegenwärtig bei der zweiten Teilfrage angelangt. Im Hinblick auf die lang- jährigen Diskussionen stellt sich jedoch die Frage, ob die Argumente gegen die Elternschaft, die scheinbar bis zur gesetzlichen Anerkennung im Jahr 1992 galten, heute noch zur Debatte stehen.
Zunächst werde ich den Begriff der „geistigen Behinderung“ betrachten. Dabei werden die Ursachen, eine soziologische Definition sowie die ICD-10 (International Classification of Deseases) beleuchtet. Im Anschluss daran soll die „Lernbehinderung“ eingeordnet werden. Darüber hinaus betrachte ich die Begrifflichkeit der „elterlichen Kompetenz“ unter Heranzie- hung des PSM von McGaw und Sturmey sowie des erweiterten PSM von Prangenberg. Ab- schließend gehe ich auf bestehende Vorurteile gegenüber der Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung ein, welche in Verbindung mit den elterlichen Kompetenzen stehen.
2.1 Geistige Behinderung und Lernbehinderung
Um den Begriff der Lernbehinderung einordnen zu können, besteht zunächst die Notwendigkeit, den Terminus „geistige Behinderung“ transparent zu machen. Mit Hilfe der ICD-10 soll eine Einordnung beider Begrifflichkeiten veranschaulicht werden.
2.1.1 Begriffsbestimmung geistige Behinderung
Im Jahr 1958 wurde der Terminus „geistige Behinderung“ bei der Gründung der Elternvereinigung für das geistig behinderte Kind e.V. erstmals offiziell verwendet (vgl. Speck 2007, S. 136). Diese Vokabel beinhaltet unterschiedliche Aspekte und ist daher sehr komplex (vgl. ebd., S. 137). Einerseits wird von einer psycho-physischen Schädigung des Gehirns ausgegangen (vgl. ebd., S. 137). Andererseits werden sowohl die Umweltbedingungen, als auch Entwicklungsprozesse mit einbezogen (vgl. ebd., S. 137). Daher stellt sich zunächst die Frage nach den Ursachen einer geistigen Behinderung.
2.1.1.1 Ursachen
Im Hinblick auf die Frage nach den Ursachen einer geistige Behinderung, kann zunächst gesagt werden, dass diese einerseits nach dem Zeitpunkt der Entstehung einer Schädigung unterteilt werden (vgl. Frühauf 2007, S. 374). Eine geistige Behinderung kann daher prä-, perioder postnatal entstehen (vgl. ebd., S. 374).
Andererseits können die Ursachen einer geistigen Behinderung nach qualitativen Aspekten, wie beispielsweise exogenen Schädigungen oder chromosomalen Besonderheiten, gegliedert werden (ebd., S. 374). Eine biologisch-organische Beeinträchtigung in Form eines klinischen Syndroms bzw. einer Hirnschädigung bildet den Ausgangspunkt (vgl. Speck 2007, S. 137).
Pränatal kann eine geistige Behinderung beispielsweise durch Genmutationen oder Infektio- nen hervorgerufen werden (vgl. ebd. S. 137). Perinatale Ursachen sind z.B. Geburtstraumata (vgl. ebd., S. 137). Ebenso kann eine geistige Behinderung bei Frühgeburten perinatal verur- sacht werden (vgl. ebd., S. 137). Zudem kann eine geistige Behinderungen während der Ge- burt beispielsweise durch Sauerstoffmangel sowie bei einer Zangengeburt herbeiführt werden (vgl. Frühauf 2007, S. 374). Postnatal kann eine geistige Behinderung durch Hirntraumata sowie durch Hirntumore verursacht werden (vgl. Speck 2007, S. 137). Weitere postnatale Ursachen können Infektionen sowie Umweltgifte sein, die entzündliche Erkrankungen im Gehirn hervorrufen (vgl. Frühauf 2007, S. 374).
In Anlehnung an die verschieden Ursachen der Entstehung einer geistigen Behinderung, werde ich nun eine Definition der Begrifflichkeit vornehmen. Dabei habe ich mich für eine soziologische Sichtweise entschieden. Im Gegensatz zu anderen Definitionen, wie später mit Hilfe der ICD-10 exemplarisch aufgezeigt wird, ist der Blick auf die Ressourcen gerichtet sowie das soziale Umfeld als wesentlicher Kontextfaktor mit einbezogen.
2.1.1.2 Soziologische Sichtweise
Cloerkes definiert den Begriff „geistige Behinderung“ aus soziologischer Sicht wie folgt: „Ein Mensch ist ‚behindert’, wenn erstens eine unerwünschte Abweichung von wie auch immer definierten Erwartungen vorliegt und wenn zweitens deshalb die soziale Reaktion auf ihn ne- gativ ist“ (Cloerkes 2007, S. 8). Anhand dieser Definition wird sichtbar, dass einerseits eine Abweichung von einer nicht klar dargelegten Norm vorliegen muss (vgl. ebd., S. 7f.). Ande- rerseits wird mit der Und-Verknüpfung verdeutlicht, dass auf diese Abweichung eine negative soziale Reaktion folgen muss.
Um die Auswirkungen der Definition außer Kraft zu setzen, müsste ein Teil der Und- Verknüpfung verändert werden. Bei der Betrachtung der Ursachen der Entstehung einer geis- tigen Behinderung wird deutlich, dass diese hingenommen werden muss, da sie körperlich begründbar sein oder durch die Sozialisation eines Menschen hervorgerufen werden kann. Die negativen sozialen Reaktionen von Seiten der Gesellschaft können jedoch geändert werden. Daher kann festgehalten werden, dass Menschen durch die Gesellschaft behindert werden und damit die Folgen der Abweichung oder Schädigung ausschlaggebend für den Einzelnen sind (vgl. ebd., S. 9).
Eine ähnliche Sichtweise ist bei Frühauf zu finden, der den Begriff wie folgt definiert: „Eine Person ist nicht behindert, sie wird erst behindert durch das Zusammenwirken von subjektiven Merkmalen, gesellschaftlichen Zuschreibungen und entwickelten Partizipationsangeboten“ (Frühauf 2007, S. 374).
In Anlehnung an diesen Blickwinkel kann die internationale Debatte gesehen werden, in der die WHO (Weltgesundheitsorganisation) mit der ICF (International Classification of Functio- ning, Disability and Health) ein neueres Verständnis von Behinderung zu Grunde legt (vgl. Frühauf 2007, S. 374). In dieser im Jahr 2001 hervorgebrachten Klassifikation werden „[…] traditionelle individuumorientierte Defizitzuschreibungen […]“ (Pixa-Kettner 2008, S. 1) vermieden und an dieser Stelle die Funktionsfähigkeiten bzw. Ressourcen in den Vordergrund gestellt (vgl. Frühauf 2007, S. 374). Beispielsweise werden in dieser Klassifikation „[…] die Abhängigkeit einer Behinderung von gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen sowie von den ökologischen, materiellen und sozialen Lebensbedingungen einer Person […]“ (ebd., S. 374) mit einbezogen.
Zieht man nun die Wertehaltungen sowie die Einstellungen der Gesellschaft gegenüber der Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung in Betracht, so kann festgestellt werden, dass diese Eltern immer noch mit Vorurteilen konfrontiert werden (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 7). Wie in der soziologischen Definition von Cloerkes sichtbar wurde, müssten die negativen sozialen Reaktionen und daher auch die Vorurteile verschwinden, damit die Menschen nicht mehr durch die Gesellschaft behindert werden. Welche gängigen Vorurteile gegenüber der Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung bestehen, werde ich im Abschnitt 2.3 beleuchten. Zunächst werde ich die ICD-10 betrachten, um den Begriff der geistigen Behinde- rung mit Hilfe von IQ-Werten in den unterschiedlichsten Abstufungen der Intelligenzmin- derung zu veranschaulichen.
2.1.1.3 Die ICD-10
Um später die Lernbehinderung einordnen zu können, ist nun eine Übersicht notwendig, in welcher veranschaulicht wird, wie eine „geistige Behinderung“ untergliedert wird. Die ICD- 10 ist eine Klassifikation, welche Krankheiten und Gesundheitsprobleme transparent macht (vgl. Wallner-Rübeling 2006, S. 119). Mit Hilfe von IQ-Werten, wird der Terminus „geistige Behinderung“ dargelegt (vgl. ebd., S. 119).
Einen allgemein anerkannten IQ-Grenzwert einer geistigen Behinderung gibt es zwar nicht, jedoch bietet diese Klassifikation einen gewissen Richtwert, mit dem später auch eine Einord- nung der Lernbehinderung stattfinden kann (vgl. ebd., S. 119). In der folgenden Tabelle sind die Abstufungen der Intelligenzminderung sowie die dazugehörigen IQ-Werte nach der ICD- 10 aufgelistet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 1: Klassifikation nach der ICD-10 (vgl. Remschmidt/Schmidt/Poustka 2009, S. 304)
Nach der ICD-10 liegt eine leichte Intelligenzminderung bei einem IQ von 69 bis 50 vor (vgl. Remschmidt/Schmidt/Poustka 2009, S. 304). Eine mittelgradige Intelligenzminderung ist im IQ-Bereich von 49 bis 35 anzusiedeln (vgl. ebd., S. 304). Bei einem IQ-Wert von 34 bis 20 wird die Intelligenzminderung als schwere und bei einem IQ-Wert, der unter 20 liegt als schwerste Intelligenzminderung bezeichnet (vgl. ebd., S. 304).
Sicherlich ist die eher defizitorientierte Sichtweise anhand von IQ-Werten in der ICD-10 nicht ausschlaggebend für die individuelle Situation eines jeden Menschen. Jedoch dienen die IQWerte zur überblicksartigen Einordnung des Schweregrades einer geistigen Behinderung. Daher werde ich im folgenden Abschnitt die Begriffe der „geistige Behinderung“ und der „Lernbehinderung“ sowie weitere Abstufungen tabellarisch gegenüber stellen.
2.1.2 Einordnung der Lernbehinderung
Eine Einordnung der Lernbehinderung ist notwendig, da diese in der ICD-10 nicht als separate Kategorie erfasst wird (vgl. Dt. Ges. f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie 2006 [Abruf: 20. Mai 2009]). Zudem ist die Elternschaft bei Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung meist im Grenzbereich zu einer Lernbehinderung anzusiedeln (vgl. Prangenberg 2003, S. 61 [Abruf: 30. Mai 2009]).
In der folgenden Tabelle habe ich gegenübergestellt, in welchen IQ-Bereichen eine durch- schnittliche Leistungsfähigkeit, eine Lernstörung, eine Lernbehinderung sowie eine geistige Behinderung zu finden sind. Alle Angaben beziehen sich dabei auf Vorgaben, die in Deutsch- land gelten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 2: Einordnung geistige Behinderung und Lernbehinderung anhand der IQ-Werte (vgl. Wallner-Rübeling 2006, S. 119)
Wie in der Tabelle sichtbar wird, gestaltet sich die Abgrenzung der geistigen Behinderung zur Lernbehinderung schwierig, da die IQ-Werte nicht exakt einer Bezeichnung zugeordnet wer- den können. Dennoch kann gesagt werden, dass eine durchschnittliche Leistungsfähigkeit in dem Bereich der IQ-Werte von 110 bis 90 vorliegt, eine Lernstörung bei einem IQ von 90 bis 80, eine Lernbehinderung im IQ-Bereich zwischen 75 und 60 bis 55 und die obere Grenze einer geistigen Behinderung bei einem IQ-Wert von 60 bis 55 liegt (Wallner-Rübeling 2006, S. 119).
Eine Lernbehinderung kann ebenso wie eine geistige Behinderung in den Bereich der leichten Intelligenzminderung nach der ICD-10 eingeordnet werden. Daher stellt sich nun die Frage, wodurch eine leichte Intelligenzminderung gekennzeichnet ist. Folgender Auszug aus der ICD-10 soll dies verdeutlichen:
„Leicht intelligenzgeminderte Personen erwerben Sprache verzögert, jedoch meist in einem für die täglichen Anforderungen, für eine normale Konversation und für ein klinisches Inter- view ausreichenden Umfang. Die meisten dieser Personen erlangen eine volle Unabhängigkeit in der Selbstversorgung […] und in praktischen und häuslichen Tätigkeiten, wenn auch das Entwicklungstempo deutlich langsamer ist als normalerweise üblich. Die Hauptschwierigkei- ten treten bei der Schulausbildung auf; viele Betroffene haben besondere Probleme beim Le- sen und Schreiben. […] In einem soziokulturellen Umfeld, in dem wenig Wert auf schulische Ausbildung gelegt wird, stellt ein gewisses Ausmaß an leichter Intelligenzminderung an sich kein Problem dar. Wenn zusätzlich eine deutliche emotionale Unreife besteht, werden die Konsequenzen der Behinderung offenkundig; beispielsweise können die Betreffenden dann den Anforderungen einer Ehe oder der Kindererziehung nicht nachkommen, ebenso wenig wie sie sich an kulturelle Überlieferungen und Erwartungen anpassen können. […] Sprachver- ständnis und Sprachgebrauch sind oft in unterschiedlichem Ausmaß verzögert, und Probleme beim Sprechen, welche die Entwicklung zur Selbstständigkeit behindern, können bis ins Er- wachsenenalter andauern. Eine organische Ursache ist bei einer Minderheit der Betroffenen festzustellen“ (Remschmidt/Schmidt/Poustka 2009, S. 306f.).
Wie sich letztendlich herausgestellt hat, muss eine leichte Intelligenzminderung nicht organisch verursacht sein. Ursachen können ebenso in der Sozialisation eines Menschen liegen. Daher muss eine leichte Intelligenzminderung nicht unbedingt statisch sein.
Abschließend ist im Hinblick auf die Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung festzuhalten, dass die Mütter meist niedrigere IQ-Werte aufweisen als die Väter (vgl. Pran- genberg 2003, S. 61 [Abruf: 30. Mai 2009]). Weiterhin kann die Präsenz einer „nicht- behinderten“ erwachsenen Person in der Familie förderlich für die kindliche Entwicklung sein (vgl. ebd., S. 62).
In Verbindung mit der Klärung der Begriffe „geistige Behinderung“ und „Lernbehinderung“ werde ich im nächsten Abschnitt beleuchten, was elterliche Kompetenz ist. Auf Grund der Tatsache, dass „nicht-behinderte“ Personen im familiären Umfeld von Eltern mit geistiger Behinderung positive Auswirkungen sowohl auf das elterliche Handeln, als auch auf die kind- liche Entwicklung haben, ist zu diskutieren, inwieweit die elterliche Kompetenz in Verbin- dung mit einer Intelligenzminderung steht. Zunächst steht nur fest, dass der IQ im Hinblick auf die elterlichen Kompetenzen keine Rolle spielt, solange der Wert nicht unter 60 bis 50 liegt (vgl. ebd., S. 72).
2.2 Kennzeichen elterlicher Kompetenz
Elterliche Kompetenz kann subjektiv betrachtet unterschiedlich interpretiert werden. Daher kommt zunächst die Frage auf, was Menschen tun müssen bzw. was Menschen können müs- sen, um gute Eltern zu sein (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 8). Pixa-Kettner beschreibt drei As- pekte, die auf allgemeiner Ebene darlegen sollen, was elterliche Kompetenz beinhaltet (vgl. ebd., S. 8). Diese drei Aspekte sind die körperliche Seite, die psychologische Seite sowie die soziale Seite (vgl. ebd., S. 8).
Der körperliche Aspekt beinhaltet, dass Eltern ihr Kind pflegen und versorgen sowie einen Rahmen von Sicherheit und Schutz bieten (vgl. ebd., S. 8). Hinzu kommt der psychologische Aspekt, welcher mit einschließt, dass das Kind auf intellektueller Ebene durch die Eltern angeregt wird sowie emotionale Zuwendung erfährt (vgl. ebd., S. 8). Schließlich enthält der soziale Aspekt die notwendige Unterstützung beim Hineinwachsen des Kindes in die Gesellschaft durch die Eltern (vgl. ebd., S. 8).
Eine präzise Darstellung gelingt durch diese allgemeingehaltene Definition von elterlicher Kompetenz nicht, da jeder der drei Aspekte im spezifischen Kontext der jeweiligen Familie gesehen werden muss (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 29 [Abruf: 25. Mai 2009]). Kulturelle, sozi- ale und religiöse Faktoren sowie die Erfahrungen der Eltern während ihrer eigenen Sozialisa- tion verhindern die Konkretisierung der Ziele auf jeder Ebene (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 29 [Abruf: 25. Mai 2009]). Diese Definition reicht folglich nicht aus, um allgemeingültige Merkmale elterlicher Kompetenz darzustellen. Aus diesem Grund werde ich nun das PSM beleuchten, welches in den Bereich der Konzepte alltagsorientierter Unterstützung eingeordnet werden kann (vgl. Pixa-Kettner 1999, S. 68ff.).
2.2.1 Das Parental Skills Model
Im Jahr 1994 veröffentlichten Sue McGaw und Peter Sturmey ihr eigens entwickeltes Modell der elterlichen Fähigkeiten, das PSM (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 9). Mit Hilfe des PSM wird transparent, „[…] dass [sich] elterliche Kompetenzen […] aus verschiedenen Faktoren zusammensetzen, die miteinander zusammenhängen“ (ebd., S. 9).
„Sue McGaw ist Begründerin des Special Parenting Service (SPS) in Cornwall, England, einer Einrichtung, die seit ca. 1987 ambulante Betreuungsangebote für Eltern mit geistiger Behinde- rung bereitstellt und nach eigenen Angaben in einem Zeitraum von 10 Jahren mit annähernd 1000 Fällen entsprechender Elternschaften zu tun hatte“ (Pixa-Kettner 2006, S. 27f. [Abruf: 25. Mai 2009]).
Ausgangspunkt für das PSM ist die Annahme, „[…] dass Probleme von Eltern mit einer geis- tigen Behinderung vor allem gängige Alltagsprobleme von Menschen mit geistiger Behinde- rung sind, die sich auch auf dessen Rolle als Eltern auswirken können“ (Prangenberg 2003, S. 78 [Abruf: 30. Mai 2009]). Auf das elterliche Handeln wirken verschiedenen Faktoren ein, welche als Parent’s live skills, Family history und Support & resources bezeichnet werden (vgl. ebd., S. 78). Wie in der Abbildung 1 sichtbar wird, ist die Schnittmenge der Kreise mit Child care & development betitelt, womit das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren, also die Auswirkungen des elterlichen Handelns auf die Versorgung und Entwicklung des Kindes, gemeint sind (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 10). In Anlehnung an die Abbildung 1 werde ich nun das PSM näher beleuchten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Das Parental Skills Model (Pixa-Kettner/Sauer 2006, S. 235)
2.2.1.1 Lebenspraktische Fähigkeiten
Zunächst betrachte ich den Faktor der Parent’s life skills, womit die allgemeinen Fähigkeiten der Eltern im lebenspraktischem Bereich gemeint sind (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 9). Diese lebenspraktischen Fähigkeiten hängen nicht direkt damit zusammen, dass die Eltern in der Lage sind ihre Kinder zu versorgen (vgl. ebd., S. 9). Daher umfassen die Parent’s life skills beispielsweise den Bereich der Haushaltsführung, die Fähigkeiten im sprachlichen und sozia- len Bereich, die Mobilität, sowie das Beherrschen von Kulturtechniken (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 87). Weiterhin sind mit den allgemeinen Lebensfertigkeiten auch die Selbstständig- keit bei der Haushaltsführung und der Versorgung sowie berufliche Tätigkeiten gemeint (vgl. Pixa-Kettner 1999, S. 69).
Ein minimales Maß dieser Kompetenz reicht bei den Eltern aus, damit sie ihre Kinder versorgen können (vgl. Prangenberg 2003, S. 79 [Abruf: 30. Mai 2009]). Diesbezüglich stellt Prangenberg heraus, dass die Eltern in dem Bereich der Parent’s life skills häufig überfordert zu sein scheinen (vgl. ebd., S. 79). Daher kann festgehalten werden, dass Defizite im lebenspraktischen Bereich Überforderungen hervorrufen können (vgl. ebd., S. 80).
2.2.1.2 Familiärer Hintergrund
Ein weiterer Faktor der elterlichen Kompetenz ist der familiäre Hintergrund sowie die Kind- heit der Eltern, welcher im PSM als Family history bezeichnet ist (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 10). Einerseits kann aus dem familiären Hintergrund erschlossen werden, welche Erfahrungen die Eltern in ihrer Kindheit mit den eigenen Eltern und deren Verhalten gesammelt haben und inwieweit sie darauf zurückgreifen können (vgl. ebd., S. 10). Diesbezüglich stellen sich die Fragen, wie die Eltern das Familienleben in der Herkunftsfamilie erfahren haben und inwie- weit sie ihr gegenwärtiges Handeln daran orientieren können (vgl. Prangenberg 2003, S. 81 [Abruf: 30. Mai 2009]).
Andererseits geben die familiären Hintergründe Aufschluss darüber, welche Verbindung zur Herkunftsfamilie besteht und ob bei Bedarf auf Unterstützung durch dieses Netzwerk zurück- gegriffen werden kann (vgl. Pixa-Kettner 1999, S. 69). Weiterhin zählen zu der Family history Rituale in der Familie, Erfahrungen mit Geschwistern, gegebenenfalls Unterbringun- gen in Heimen oder Ersatzfamilien sowie ein ständiger Wechsel von Wohnformen (vgl. Pixa- Kettner 2008, S. 10).
2.2.1.3 Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten
Ein dritter Faktor kennzeichnet den Zugang der Eltern zu Unterstützungsmöglichkeiten und ist im PSM als Support & resources bezeichnet (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 10). Die zuverläs- sige und erreichbare Unterstützung der Eltern schließt nicht nur den Bereich der sozialen Netzwerke, wie beispielsweise Angehörige der Familie oder Freunde, sondern auch die pro- fessionelle Hilfe mit ein (vgl. ebd., S. 10). Im Hinblick auf die Unterstützung wurde bereits herausgestellt, dass die Anwesenheit eines „nicht-behinderten“ Erwachsenen positive Aus- wirkungen auf die kindliche Entwicklung haben kann (vgl. Prangenberg 2003, S. 62 [Abruf: 30. Mai 2009]).
Hingegen besteht jedoch die Möglichkeit, dass sich die Netzwerke nicht besonders förderlich auf die Familie auswirken können, wenn diese als Störfaktoren empfunden werden (vgl. ebd., S. 83). Zu diesen Störfaktoren zählen insbesondere Ämter sowie professionelle Dienste (vgl. ebd., S. 83). Beispielsweise werden den Eltern Hilfen aufgedrängt, die bereits von vornherein eine Mitwirkungsbereitschaft ausschließen, wenn dies gegen den Willen der Eltern geschieht (vgl. ebd., S. 83). Folglich entwickeln die Eltern Misstrauen gegenüber professionellen Hilfesystemen, was dann wiederum beispielsweise zu Drohungen der Wegnahme des Kindes von Seiten des JA führen kann (vgl. ebd., S. 83).
An dieser Stelle wird die Verbindung zu dem bereits aufgeführten familiären Hintergrund sichtbar (vgl. ebd., S. 83). Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Eltern in ihrer Kindheit Erfahrungen mit Unterstützungsangeboten hatten (vgl. ebd., S. 83).
Alle drei genannten Faktoren überschneiden sich in einem Bereich, welcher als Child care & development bezeichnet ist (vgl. Pixa-Kettner 1999, S. 69f.). Damit sind die Auswirkungen der drei Faktoren auf die Versorgung und Entwicklung des Kindes gemeint (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 10).
2.2.1.4 Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung
In dem Bereich Child care & development sind die Betreuung und Versorgung eines Kindes sowie die Förderung der Entwicklung des Kindes mit eingeschlossen (vgl. ebd., S. 10). Näher betrachtet beinhaltet Child care die Fähigkeiten, „[…] die im engeren Sinn für die Versor- gung und Erziehung eines Kindes erforderlich sind, wie seine körperliche Versorgung, das Gewähren von Schutz und Zuneigung, das Übernehmen von Verantwortung und Anleitung, aber auch das Respektieren von Unabhängigkeit“ (Pixa-Kettner 1999, S. 70). Child development ist schließlich das Ergebnis der drei Einflussfaktoren (vgl. ebd., S. 70).
Wenn Defizite bei der Versorgung oder Entwicklung des Kindes auftreten, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass in wenigstens einem der drei Faktoren keine hinreichenden positiven Be- dingungen vorliegen (vgl. ebd., S. 70). Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass Eltern durch zuverlässige Unterstützung gute Resultate im Child care & development aufzeigen, selbst wenn sie im Bereich der Parent’s life skills nur ein minimales Maß erfüllen (vgl. ebd., S. 70).
Hingegen können Eltern mit höheren lebenspraktischen Kompetenzen im Gesamtergebnis der kindlichen Versorgung und Entwicklung scheitern, wenn sie beispielsweise sozial isoliert sind (vgl. ebd., S. 70). Folglich erhalten die Eltern Unterstützungsangebote in dem Bereich, in dem sie die größten Defizite aufweisen, damit sie dann im Resultat die kindliche Versorgung und Entwicklung gewährleisten können (vgl. Pixa-Kettner 1999, S. 70).
Im Hinblick auf die Definition des Terminus „geistige Behinderung“ werden Parallelen zum PSM transparent, denn nicht nur die soziologische Definition der Begrifflichkeit sowie die ICF, sondern auch das PSM beziehen sowohl persönliche Voraussetzungen, als auch die Kon- textfaktoren von Menschen mit ein (vgl. Pixa-Kettner 2008, S. 10). Elterliche Kompetenz ist folglich „[…] nicht eine individuelle Eigenschaft, sondern Resultat eines mehr oder weniger gut funktionierenden sozialen Netzwerkes“ (ebd., S. 11). Daher greift an dieser Stelle auch eine Afrikanische Volksweisheit, welche besagt: „Um ein Kind zu erziehen, braucht man ein ganzes Dorf“.
Wie elterliche Kompetenzen erfasst werden können, zeigt das PAM (Parent Assessment Ma- nual) (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 88). Das PAM dient der systematischen Erfassung von elter- lichen Fähigkeiten sowie des Unterstützungsbedarfs (vgl. ebd., S. 88). Dieses Erhebungsin- strument möchte ich an dieser Stelle auf Grund der Vollständigkeit lediglich benennen, da es nicht Gegenstand meiner Arbeit ist, elterliche Kompetenzen zu erfassen. Im folgenden Ab- schnitt beleuchte ich das erweiterte PSM von Prangenberg, da in dem ursprünglichen PSM von McGaw und Sturmey der Einfluss der Eigenschaften des Kindes auf das elterliche Han- deln vernachlässigt wurde (vgl. Prangenberg 2003, S. 78 [Abruf: 30. Mai 2009]).
2.2.2 Das erweiterte Parental Skills Model
Das PSM wird durch Prangenberg um den Bereich Child characteristics erweitert, da „[…] die Bedeutung des Kindes in der familiären Funktionstüchtigkeit […]“ (Prangenberg 2003, S. 78 [Abruf: 30. Mai 2009]) eine wesentliche Rolle spielt (vgl. ebd., S. 78). Folglich fließen die Eigenschaften des Kindes, wie beispielsweise das Geschlecht, das Alter, der Charakter, das Temperament, eventuelle Behinderungen sowie die Geschwisterrangfolge in den Bereich des elterlichen Handelns ein (vgl. ebd., S. 83). Diese Eigenschaften des Kindes werde ich nach der Veranschaulichung der Abbildung 2 des erweiterten PSM von Prangenberg näher betrach- ten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Das erweiterte Parental Skills Model (Prangenberg 2003, S. 79 [Abruf: 30. Mai 2009])
Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit das Geschlecht des Kindes das elterliche Handeln beeinflussen kann. Prangenberg benennt hierzu, dass „[…] Töchter häufig konstruktive Lö- sungsstrategien für schwierige Familiensituationen, beispielsweise in Form einer Parentifizie- rung […]“ (Prangenberg 2003, S. 84 [Abruf: 30. Mai 2009]) zeigen und die Söhne eher durch abweichendes Verhalten auffallen (vgl. ebd., S. 84). Der Parentifizierungsprozess beinhaltet, „[…] dass Eltern mit geistiger Behinderung die Familie nicht adäquat versorgen können und ihren Kindern die Eltern- bzw. Partnerrolle übertragen“ (Sanders 2008, S. 169).
Das Alter ist eine weitere Eigenschaft des Kindes und scheint ebenso Einfluss auf das elterli- che Handeln zu haben (vgl. Prangenberg 2003, S. 84 [Abruf: 30. Mai 2009]). Eine Studie zur Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland des Bremer For- schungsteams Pixa-Kettner, Bergfrede und Blanken von 2005 zeigt unter anderem, dass die Kinder mit zunehmenden Alter seltener bei den Eltern leben (vgl. Pixa-Kettner 2007, S. 319, vgl. Prangenberg 2008, S. 37). Die Begründung wird dabei in den professionellen Hilfesystemen gesucht, welche vermutlich noch nicht auf die Unterstützung von Eltern mit älteren Kindern ausgerichtet sind (vgl. Pixa-Kettner 2007, S. 319).
„Mit zunehmendem Alter wachsen die Ansprüche der Kinder, sie haben einen größeren Bewegungsdrang und -radius. Mit einsetzendem Spracherwerb ändern sich ihre Bedürfnisse, sie wollen reden, wissen, fragen. Das Bedürfnis nach Abgrenzung wächst, die Kinder werden eigensinniger, testen die ihnen gesetzten Grenzen und stellen höhere Anforderungen an die Eltern“ (Sanders 2008, S. 175).
Folglich haben die Eltern mit dem steigenden Alter der Kinder größere Schwierigkeiten, was besonders in den Phasen der mittleren Kindheit, der Jugend sowie im Übergang zur Schule deutlich wird (vgl. Prangenberg 2003, S. 84 [Abruf: 30. Mai 2009]).
Zudem nimmt die Überlegenheit der Kinder gegenüber ihren Eltern mit steigendem Alter zu (vgl. ebd., S. 84). Beispielsweise werden mit dem Schuleintritt Kulturtechniken sowie andere Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernt, welche die Eltern möglicherweise nicht beherrschen (vgl. ebd., S. 84). Für das Kind eröffnet sich dann die Möglichkeit, sich nicht nur der Behin- derung der Eltern sondern auch der Überlegenheit gegenüber diesen bewusst zu werden (vgl. ebd., S. 84).
Eventuelle Behinderungen eines Kindes stellen höhere Anforderungen an die Eltern (vgl. ebd., S. 84). Diese höheren Anforderungen können zu Überforderungen führen, da der Versorgungsbedarf des Kindes größer ist (vgl. ebd., S. 84).
Weiterhin zählt die Geschwisterrangfolge zu den Eigenschaften eines Kindes (vgl. ebd., S. 84). Beispielsweise übernehmen Erstgeborene oft die Verantwortung im Alltag der Familie (vgl. ebd., S. 84). Zudem ist denkbar, „[…] dass die Geburt eines zweiten Kindes das erste vor dem Druck einer möglichen Überpädagogisierung schützen kann“ (Sanders 2008, S. 187). Die Auswirkungen auf das elterliche Handeln können im Zusammenhang mit der zunehmenden Anzahl von Kindern zu Überforderungen führen, wobei die Versorgung eines Kindes durchaus gelingt (vgl. Prangenberg 2003, S. 84 [Abruf: 30. Mai 2009]).
Schließlich haben die Charakterzüge sowie das Temperament des Kindes Einfluss auf das elterliche Handeln (vgl. ebd., S. 84). Beispielsweise liegt es im Temperament des Kindes „[…] positive Zuwendung durch das Umfeld zu erzeugen und so die Eltern zu entlasten“ (Prangenberg 2003, S. 84 [Abruf: 30. Mai 2009]).
Bezüglich der elterlichen Kompetenzen kann festgehalten werden, dass sich diese aus verschiedenen Faktoren ergeben. Dabei werden unterschiedliche Bereiche wie die Biographie, die Individualität, aber auch die private oder professionelle Unterstützung sowie die Eigenschaften des Kindes beleuchtet, die Einfluss auf das elterliche Handeln haben. Erst im Zusammenspiel der Faktoren wird sichtbar, inwieweit die Eltern in der Lage sind, die Versorgung und Entwicklung ihrer Kinder zu gewährleisten.
Die Diskussion um die Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung beinhaltet nicht zu letzt im Hinblick auf die elterlichen Kompetenzen Vorurteile, welche im nächsten Ab- schnitt näher betrachtet werden. Schließlich soll später anhand der Aktenanalyse untersucht werden, ob Spuren dieser so genannten „Mythen“ in den Jugendhilfeakten der Familie Schulz zu finden sind.
2.3 Vorurteile gegenüber der Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung
Gwynnyth Llewellyn, eine australische Wissenschaftlerin, hat im Jahr 1995 fünf so genannte Mythen im Hinblick auf die Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung transparent gemacht, die ich im weiteren Verlauf meiner Arbeit als Vorurteile oder Annahmen bezeich- nen werde (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 32 [Abruf: 25. Mai 2009]). Diese Vorurteile sind nicht zu letzt historisch geprägt. Aus diesem Grund werde ich auch Parallelen zur Geschichte auf- zeigen. Des Weiteren werde ich in diesem Abschnitt mit Hilfe von Belegen aus der Literatur diskutieren, ob diese Annahmen gerechtfertigt sind oder doch nur als Vorurteile, die es abzu- bauen gilt, behandelt werden müssen.
2.3.1 Vererbung der geistigen Behinderung
Die erste Annahme lautet: „Menschen mit geistiger Behinderung bringen geistig behinderte Kinder zur Welt“ (Pixa-Kettner 2006, S. 32 [Abruf: 25. Mai 2009]). Bereits in der eugenisch- genetischen Debatte (1914 bis 1945) stand sowohl die Entstehung als auch die Vererbung einer geistigen Behinderung im Lichte der Forschung (vgl. Prangenberg 2003, S. 42 [Abruf: 30. Mai 2009]). In dieser Zeit wurden jedoch beispielsweise Einflüsse der Sozialisation nicht als mögliche Ursache der Entstehung einer geistigen Behinderung gesehen, wie es die aktuel- len Sichtweisen zum Terminus „geistige Behinderung“ gezeigt haben (vgl. Prangenberg 2003, S. 23 [Abruf: 30. Mai 2009]). Schließlich kann eine geistige Behinderung prä-, peri-, oder postnatale Ursachen haben (vgl. Speck 2007, S. 137).
„Vererbbar sind 30 bis 40 Prozent der geistigen Behinderungen. Sie sind genetisch bedingt. Und bei der Hälfte dieser Betroffenen sind nicht einzelne Gene defekt, sondern ganze Chromosomen - in diesen Fällen sind die Männer nur sehr eingeschränkt fruchtbar. Das heißt: Etwa 15 bis 20 Prozent aller Eltern mit geistigen Behinderungen können ebensolchen Nachwuchs zeugen“ (Haas 2000 [Abruf: 06. Mai 2009]).
Daher haben Menschen mit geistiger Behinderung nur ein minimal höheres Risiko, ein Kind zur Welt zu bringen, welches von Geburt an ebenfalls eine geistige Behinderung aufweist (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 32 [Abruf: 25. Mai 2009]). Zudem kommen die Faktoren der mangelnden medizinischen Versorgung der Mütter insbesondere in der Schwangerschaft so- wie der allgemein schlechtere Gesundheitszustand von Müttern mit geistiger Behinderung in Betracht (vgl. ebd., S. 32). Dies kann dann eventuell zu einer geistigen Behinderung des Kin- des führen.
2.3.2 Hohe Kinderzahl
Die zweite Annahme beinhaltet: „Menschen mit geistiger Behinderung haben besonders viele Kinder“ (Pixa-Kettner 2006, S. 32 [Abruf: 25. Mai 2009]). Dieses Vorurteil wurde ebenfalls in der eugenisch-genetischen Debatte (1914 bis 1945) begründet (vgl. Prangenberg 2003, S. 44 [Abruf: 30. Mai 2009]). Studien bezüglich dieser Annahme fielen jedoch in der genannten Epoche sehr unterschiedlich aus, so dass keine verlässlichen Aussagen darüber getroffen wer- den konnten, ob Menschen mit geistiger Behinderung besonders viele Kinder haben (vgl. ebd., S. 44).
Zudem galt dieses heute noch bestehende Vorurteil in der Zeit der Sterilisation und Institutio- nalisierung (1945 bis 1969) als Argument für die Sterilisation bei Menschen mit geistiger Be- hinderung (vgl. Prangenberg 2008, S. 32). Es konnte jedoch nie bewiesen werden, dass Men- schen mit geistiger Behinderung besonders viele Kinder haben (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 32 [Abruf: 25. Mai 2009]).
Vielmehr hat die aktuellste Studie zur Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung aus dem Jahr 2005 gezeigt, dass Menschen mit geistiger Behinderung im Vergleich zu ande- ren Eltern durchschnittlich nicht mehr Kinder haben (vgl. ebd., S. 32). Diesbezüglich kann eine durchschnittliche Kinderzahl von 1,39 festgehalten werden (vgl. Pixa-Kettner 2007, S. 314). Im Vergleich dazu bewegten sich die durchschnittlichen Kinderzahlen je Frau in Deutschland von 1990 bis 2007 zwischen 1,24 und 1,45 (vgl. Statistisches Bundesamt, [Abruf: 01. Juni 2009]).
Aktuelle Vermutungen einer eventuell hohen Kinderzahl bei Menschen mit geistiger Behinderung lassen sich dadurch begründen, dass die Kinder nach der Geburt, ohne Einwilligung der Eltern, aus der Familie genommen wurden (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 32 [Abruf: 25. Mai 2009]). Folglich konnten die Eltern die Trennung nicht verarbeiten und daher traten hohe Geburtenzahlen auf (vgl. ebd., S. 32). Möglicherweise haben diese Eltern die Hoffnung, dass ihnen die „neuen“ Kinder nicht weggenommen werden.
2.3.3 Missbrauch der Kinder
Eine dritte Annahme besteht darin, dass Eltern mit geistiger Behinderung ihre Kinder missbrauchen (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 32 [Abruf: 25. Mai 2009]). Im Hinblick auf den Missbrauch der Kinder in Verbindung mit der geistigen Behinderung der Eltern lässt sich kein Kausalzusammenhang herstellen (vgl. Prangenberg 2003, S. 69 [Abruf: 30. Mai 2009]). Lediglich die unverhältnismäßig negative Einstellung der vorhandenen Literatur zu dieser Thematik begünstigt dieses Vorurteil (vgl. ebd., S. 69).
Die Problematik des Missbrauchs der Kinder ist vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Phä- nomen, welches scheinbar milieuabhängig ist (vgl. ebd., S. 69). Das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung ist oft geprägt von sozioökonomischen Problemen, wie Armut sowie von psychosozialen Belastungen, wie Stress im Alltag (vgl. ebd., S. 69). Aber auch andere Faktoren, wie die angespannten Bedingungen alleinerziehender Mütter oder Väter, vor allem im sozioökonomischen Bereich oder biographische Gegebenheiten, wie beispielsweise die eigene Erfahrung des Missbrauchs in der Herkunftsfamilie, spielen eine Rolle (vgl. ebd., S. 69f.). Hinzuzufügen sind die Merkmale eines geringen Selbstwertgefühls, geringe Sozial- kompetenzen sowie die soziale Isolation (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 33 [Abruf: 25. Mai 2009]).
Die Zugehörigkeit zu einem solchen Multiproblemmilieu ist jedoch nicht nur im Leben von Menschen mit geistiger Behinderung, sondern auch bei anderen Menschen zutreffend und somit ein gesamtgesellschaftliches Problem (vgl. Prangenberg 2003, S. 69 [Abruf: 30. Mai 2009]). Daher kann festgehalten werden, dass der Missbrauch der Kinder bei Eltern mit geistiger Behinderung nicht häufiger erfolgt als bei anderen Menschen der Bevölkerung (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 33 [Abruf: 25. Mai 2009]).
2.3.4 Vernachlässigung der Kinder
Eine vierte Annahme hat zum Inhalt, dass Eltern mit geistiger Behinderung ihre Kinder vernachlässigen (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 33 [Abruf: 25. Mai 2009]). Dieses Vorurteil ist zwar teilweise zutreffend, jedoch kann diese Aussage nicht generalisiert werden (vgl. Prangenberg 2003, S. 67f. [Abruf: 30. Mai 2009]). Eine Vernachlässigung der Kinder geschieht meist nicht vorsätzlich, sondern resultiert eher aus einem Wissensmangel der Eltern (vgl. ebd., S. 67f.). Die Vernachlässigung der Kinder lässt folglich auch nicht die Deutung fehlender Liebe bzw. emotionaler Vernachlässigung der Kinder zu (vgl. ebd., S. 67).
Eltern mit geistiger Behinderung erkennen oft nicht, welche Bedürfnisse ihre Kinder haben (vgl. ebd., S. 67f.). Diese Unwissenheit resultiert daraus, dass Eltern mit geistiger Behinde- rung oft nicht in der Lage sind, sich selbstständig Informationen einzuholen, was an eventuel- len Leseschwächen liegt oder auch in der Angst vor professioneller Hilfe begründet ist (vgl. ebd., S. 70f.).
In der Studie von 2005 konnte festgestellt werden, dass professionelle Hilfe oftmals mit ei- nem Misstrauen der Eltern gegenüber den Hilfesystemen in Verbindung zu bringen ist (vgl. Pixa-Kettner 2007, S. 319). Demnach scheinen Eltern mit geistiger Behinderung eher mit ih- ren Kinder zusammen zu leben, wenn sie keine professionelle Unterstützung annehmen (vgl. ebd., S. 319). Einerseits bedeutet dies, dass die Inanspruchnahme von professioneller Unter- stützung mit der Wegnahme der Kinder einhergeht und die Eltern daher eher keine Hilfe in Anspruch nehmen (vgl. ebd., S. 319). Das Kindeswohl kann dann nicht immer gewährleistet werden (vgl. ebd., S. 319). Andererseits stellt professionelle Unterstützung vermutlich ein Risiko bzw. ein Hindernis für das Familienleben dar, da die Kinder durch die Inanspruchnah- me von Unterstützung dennoch beispielsweise in Pflegefamilien untergebracht werden (vgl. ebd., S. 319).
Schließlich kann festgehalten werden, dass die Annahm, dass Eltern mit geistiger Behinde- rung ihre Kinder vernachlässigen, teilweise zutrifft (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 33 [Abruf: 25. Mai 2009]).
Zusammenfassend kann für die dritte und vierte Annahme festgestellt werden, dass die Vorurteile des Missbrauchs sowie der Vernachlässigung der Kinder bereits in den fünfziger und sechziger Jahren hervorgerufen wurden, um eine Begründung für die Ablehnung der Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung zu liefern (vgl. Prangenberg 2008, S. 32). Mit dieser Ablehnung wurde schließlich auch ein Argument für die Sterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung dargelegt (vgl. ebd., S. 32).
2.3.5 Unangemessenes Elternverhalten
Eine fünfte Annahme beinhaltet, dass Eltern mit geistiger Behinderung nicht lernfähig sind, im Hinblick auf das Einüben von angemessenem Elternverhalten (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 33 [Abruf: 25. Mai 2009]). Diese Annahme bezieht sich nicht nur auf den Aspekt der Unfä- higkeit des Erlernens, sondern auch auf die Voraussetzung, dass Eltern mit geistiger Behinde- rung prinzipiell nicht in der Lage sind, sich wie Eltern zu verhalten. Daher lässt sich diese Annahme sowohl mit Hilfe des PSM, als auch mit der Betrachtung des Multiproblemmilieus widerlegen.
Das PSM hat gezeigt, dass Eltern mit zuverlässiger Unterstützung durch ihr soziale Umfeld oder professionelle Hilfe durchaus gute Ergebnisse im Child care & development zeigen, auch wenn sie nur minimale lebenspraktische Fähigkeiten aufzeigen (vgl. Pixa-Kettner 1999, S. 70). Dementsprechend ist es nicht erforderlich, dass Eltern im Bereich der Parent’s life skills gute Fähigkeiten besitzen (vgl. ebd., S. 70).
Zudem können Eltern mit geistiger Behinderung elterliche Fähigkeiten erlernen, wenn dies mit möglichst alltagsnahen und individuell auf die Eltern zugeschnittenen Konzepten, in Anlehnung an lerntheoretische Überlegungen, geschieht (vgl. ebd., S. 68f.). Die Unterstützung sollte vielschichtig gestaltet sein, da die Orientierung am Lebensalltag der Eltern unter Einbezug des sozialen Umfeldes geschieht und damit verschiedene Lebensbereiche mit einbezogen werden müssen (vgl. ebd., S. 69).
Hinzuzufügen ist, „[…] dass Probleme von Eltern mit einer geistigen Behinderung vor allem gängige Alltagsprobleme von Menschen mit geistiger Behinderung sind, die sich auch auf dessen Rolle als Eltern auswirken können“ (Prangenberg 2003, S. 78 [Abruf: 30. Mai 2009]). Daher kommen Schwierigkeiten in unterschiedlichen Lebensbereichen in Betracht, die sich nicht zu letzt mit der Zugehörigkeit zu einem Multiproblemmilieu begründen lassen (vgl. Pi- xa-Kettner 1999, S. 69). So haben Eltern mit geistiger Behinderung, wie oben bereits benannt, oft Probleme in Bereichen der sozioökonomischen Lebensbedingungen, dem Wohnen, der Arbeit sowie der Partnerschaft (vgl. Prangenberg 2003, S. 69 [Abruf: 30. Mai 2009]).
Abschließend kann festgehalten werden, dass gegenwärtig immer noch Vorurteile gegenüber der Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung bestehen. Vor allem die elterlichen Kompetenzen werden immer wieder angezweifelt, was nicht zu letzt an dem negativ besetzten Umgang der Gesellschaft mit dieser Thematik deutlich wird.
Wenn Eltern mit geistiger Behinderung professionelle Hilfe aufsuchen und in Anspruch neh- men wollen, wird dies möglicherweise durch die professionellen Helfer als Unfähigkeit, ihre Rolle als Eltern zu erfüllen, interpretiert sowie deren elterliche Kompetenz prinzipiell in Frage gestellt (vgl. Pixa-Kettner 2006, S. 34 [Abruf: 25. Mai 2009]). In einem solchen Moment werden die Eltern durch die Gesellschaft an ihrer Teilhabe, nämlich der Elternschaft, gehin- dert (vgl. ebd., S. 34).
Scheinbar werden Eltern mit geistiger Behinderung strenger überwacht und kontrolliert als andere Eltern in unserer Gesellschaft (vgl. Pixa-Kettner 2002, S. 18 [Abruf: 07. Mai 2009]). Die Maßstäbe werden vermutlich viel höher angelegt und sie dürfen sich anscheinend auch keine Fehler erlauben, was sie unter hohen Druck setzt (vgl. ebd., S. 18).
Wie kann nun jedoch aufgedeckt werden, was Eltern mit geistiger Behinderung zu schwieri- gen Fällen werden lässt und wer daran Anteil hat? Die Lösung liegt für mich in einer Analyse der Jugendhilfeakten. Mit einer Aktenanalyse kann aufgedeckt werden, welche Organisatio- nen inwieweit im Einzelfall beteiligt waren und wie der Hilfeverlauf stattgefunden hat (vgl. Ader 2006, S. 63). In einem nächsten Kapitel soll daher der Zugang zum Fall erschlossen werden.
3. Methodischer Zugang zum Fall
Nach der Klärung der Grundlagen zur Elternschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung, werde ich mich nun auf den methodischen Zugang sowie auf Kennzeichen schwieriger Fälle konzentrieren. Der methodische Zugang zum Fall ergibt sich aus der Aktenanalyse. Die Kennzeichen schwieriger Fälle können aus den Risikofaktoren in den Hilfesystemen sowie im Klientensystem erschlossen werden. Anhand eines Einzelfalls soll schließlich im vierten Kapitel analysiert werden, inwieweit die verschiedenen Risikofaktoren dazu beigetragen, dass aus Familie Schulz ein schwieriger Fall wurde.
3.1 Grundlagen der Aktenanalyse
Um einen Zugang zum Fall zu bekommen, habe ich die Aktenanalyse als Methode der empi- rischen Sozialarbeitsforschung gewählt. Gegenstand der Untersuchung sind Akten bzw. in den Akten enthaltene Schriftstücke (vgl. Lukas 2007, S. 11). Im Hinblick auf die JH (Jugend- hilfe) zählen zu den Bestandteilen von fallbezogenen Akten beispielsweise Entwicklungsbe- richte, HP (Hilfepläne), FD (Familiendiagnosen), psychiatrischen und psychologische Gut- achten, Falldarstellungen, Gesprächsvermerke sowie Teamentscheidungsprotokolle (vgl. Ader 2006, S. 63).
Da die Jugendhilfeakten bereits angelegt sind, entfällt der Aufwand der Datenerhebung, wie beispielsweise bei Interviews oder Fragebögen. Die Aktenanalyse kann daher als Sekundärerhebungsmethode verstanden werden, bei welcher auf bereits existierende Datenbestände zurückgegriffen wird (vgl. Schnell/Hill/Esser 2008, S. 251). In Anlehnung an die Verfahren der „grounded theory“ (Glaser/Strauss 1984) sowie der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2003) werden Analyse und Interpretation veranschaulicht.
Darüber hinaus sind die Akten unabhängig vom Forschungsprozess angelegt und im spezifischen Kontext einer Organisation gesammelt worden und werden daher als prozessproduzierte Daten bezeichnet (vgl. Lukas 2007, S. 11, vgl. Schnell/Hill/Esser 2008, S. 255). Aus diesem Grund sollte eine außenstehende Person eine solche Aktenanalyse durchführen, um die Analyse nicht nachhaltig durch eine möglicherweise eingeschränkte Sichtweise zu beeinflussen. Dabei ist jedoch laut Sozialdatenschutz zu beachten, dass eine Einverständniserklärung von den betroffenen Klienten für die Akteneinsicht sowie der Verwendung der Daten eingeholt wird (vgl. Lukas 2007, S. 11).
Weiterhin sind in den Jugendhilfeakten Aussagen über individuelle sowie institutionelle Sichtweisen zu finden (vgl. Ader 2006, S. 63). Daher kann eine Gegenüberstellung der Sicht- weisen der Hilfesysteme bzw. der Fachkräfte sowie der Klienten veranschaulicht werden (vgl. ebd., S. 63).
Die Aktenanalyse bietet insbesondere für die Soziale Arbeit eine Möglichkeit der Selbsteva- luation von sozialen Einrichtungen, in denen sie zunehmend Anwendung findet (vgl. Lukas 2007, S. 11). Um nun den Gewinn einer Aktenanalyse für die Soziale Arbeit zu veranschauli- chen, werde ich die Kennzeichen „schwieriger“ Fälle betrachten. S. Ader hat dazu Risikofak- toren herausgearbeitet, auf welche sie während der Analyse von 11 Fallakten gestoßen ist.
3.2 Kennzeichen „schwieriger“ Fälle - Risikofaktoren
Schwierige Fälle sind insbesondere durch Dynamiken sowie Wirkungszusammenhänge institutionellen Handelns gekennzeichnet, welche dazu beitragen, dass die Bearbeitung des Falls behindert bzw. der Verlauf verschärft wird (vgl. Ader 2006, S. 163). Auf Grund der Individualität der Einzelfälle lassen sich die Kennzeichen schwieriger Fälle nicht einheitlich festlegen. Daher spreche ich von Risikofaktoren, welche zwar existieren, aber im individuellen Hilfeverlauf nicht unbedingt negative Auswirkungen haben müssen. S. Ader stellte eine Reihe von Risikofaktoren im Hinblick auf die Frage, wie Kinder in Schwierigkeiten zu schwierigen Fällen werden, zusammen (vgl. ebd., S. 163ff.). Risikofaktoren können sowohl im Klientensystem als auch in den Hilfesystemen liegen, wobei sich diese wechselseitig beeinflussen (vgl. ebd., S. 206). In einer Übersicht im Anhang sind die Risikofaktoren sowie deren Wirkungszusammenhänge veranschaulicht.
Im folgenden Abschnitt werde ich zunächst die Risikofaktoren im Hilfesystem betrachten. Anschließend gehe ich auf die Risikofaktoren im Klientensystem ein. Dabei betrachte ich explizit den Risikofaktor „geistige Behinderung der Eltern“, da im Einzelfall herausgearbeitet werden soll, wodurch gerade diese Elterngruppe zu schwierigen Fällen wird. Im Gegensatz zu S. Ader betrachte ich eine spezifische Gruppe und daher soll diese „Besonderheit“ im Vor- dergrund stehen. Sicherlich ist die Betrachtung eines einzigen Einzelfalls nicht unbedingt re- präsentativ, jedoch werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Kernpunkte „schwieriger“ Fälle des besonderen Klientels der Eltern mit geistiger Behinderung sowie deren Kindern sichtbar.
3.2.1 Risikofaktoren im Hilfesystem
Wie im Anhang sichtbar wird, lassen sich die Risikofaktoren im Hilfesystem in acht große Gruppen untergliedern. Diese Gruppen habe ich wie folgt benannt: Mangelnde Kooperation der Hilfesysteme, Dominanz der Interessen der Hilfesysteme, Mangelnde Selbstreflexion, Symptomorientierung, Unreflektierte Identifikation mit dem Klientensystem, Ausblendung des „subjektiven Faktors“, Mangelndes Betrachtung der Interessen der Klienten sowie Mangelnde Fachlichkeit. Auf diese Risikofaktoren werde ich nun näher eingehen, da sie in der nachfolgenden Analyse der Jugendhilfeakten grundlegende Erklärungen für die Entstehung eines schwierigen Fallverlaufs geben können.
3.2.1.1 Mangelnde Kooperation der Hilfesysteme
Die mangelnde Kooperation der Hilfesysteme beinhaltet, dass sich die Kommunikation und damit auch die Zusammenarbeit, insbesondere zwischen den beteiligten Fachkräften, konflikthaft gestaltet (vgl. Ader 2006, S. 163). Dies gilt einerseits für die Kommunikation zwischen den Hilfesystemen und andererseits für die Kommunikation innerhalb eines Hilfesystems (vgl. ebd., S. 163ff.).
3.2.1.1.1 Kooperation zwischen den Hilfesystemen
Ein wesentlicher Risikofaktor in der Kommunikation und Kooperation zwischen den Hilfe- systemen liegt darin, „[…] dass Übergänge und Wechsel zwischen einzelnen Maßnahmen und somit auch zwischen unterschiedlichen Bezugspersonen häufig nicht planvoll gestaltet wer- den, sondern sich unverbunden aneinander reihen“ (Ader 2006, S. 164). In Verbindung damit steht, dass in den Hilfesystemen „[…] keine Kultur des offenen und kritischen Dialogs exis- tiert“ (ebd., S. 164). Qualität und Zufriedenheit werden zwischen Leistungserbringer (freie Träger der JH) und leistungsgewährender Instanz (ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) im JA) kaum thematisiert (vgl. ebd., S. 164).
Die Hilfen werden oft von Seiten des JA abgebrochen, wenn der ASD im Einzelfall nicht mit der Arbeit der freien Träger zufrieden ist, mit den Auswirkungen, dass dieser Träger nicht mehr belegt wird (vgl. ebd., S. 164).
Des Weiteren sind die Rollen der professionellen Helfer sowie die Erwartungen verschiedener Dienste oft unklar, da vermutlich keine gemeinsamen Absprachen sowie Fallreflexionen zwischen dem ASD und den freien Trägern stattfinden (vgl. Ader 2006, S. 165). Daher kann nicht von einer gemeinsamen Arbeit gesprochen werden. Vielmehr interpretiert jedes System seine Aufgaben für sich, wodurch kein gemeinsamer Weg eingeschlagen wird und dies dazu beträgt, dass gegeneinander agiert wird (vgl. ebd., S. 165ff.).
Während langjähriger Hilfeverläufe gehen Informationen und damit auch Fallwissen aufgrund unzureichender Kommunikation zwischen den Hilfesystemen verloren (vgl. ebd., S. 165). Nur selten finden selbstkritische Reflexionen bezüglich der Misserfolge und Erfolge im Hilfeprozess statt (vgl. ebd., S. 165). Daher gestaltet es sich als schwierig Anknüpfungspunkte für neue Maßnahmen zu finden und es treten möglicherweise immer wieder dieselben Fehler auf (vgl. ebd., S. 165). Damit wiederholen sich die Erfahrungen von Hoffnung und darauffolgender Enttäuschung für die Klienten (vgl. ebd., S. 165).
Darüber hinaus hat jedes Hilfesystem seine speziellen Logiken und Sichtweisen ungeachtet der Sichtweisen anderer Hilfesysteme (vgl. ebd., S. 166). Dabei können Missverständnisse entstehen, die Interessen passen nicht immer zusammen, es können wechselseitige Abwertungen stattfinden sowie Zuständigkeitskonflikte hervorgerufen werden (vgl. ebd., S. 166). Oftmals wird mehr gegeneinander gearbeitet als miteinander, was Unsicherheit im Klientensystem erzeugt und das Hilfesystem schwächt (vgl. ebd., S. 167).
Die Kooperation zwischen den Hilfesystemen gelingt immer weniger, je stärker die Fälle es- kalieren (vgl. ebd., S. 167). Dabei werden frühe Warnsignale selten als solche erkannt (vgl. ebd., S. 167). Folglich kann keine frühzeitige Intervention in Gang gesetzt werden (vgl. ebd., S. 167). Überdies wird häufig das Wissen der Hilfesysteme nicht zusammengetragen, wodurch keine präventive oder frühzeitige Unterstützung stattfinden kann (vgl. ebd., S. 167). Zudem wird der ASD oftmals erst dann tätig, wenn es „brennt“ (vgl. ebd., S. 167).
3.2.1.1.2 Kooperation innerhalb der Hilfesysteme
Die Binnenkooperation ist geprägt von wechselseitigen Zuständigkeitszuschreibungen sowie von unklaren Kompetenzregelungen und Entscheidungsstrukturen (vgl. Ader 2006, S. 167). Gerade bei schwierigen Fällen neigen die Fachkräfte zu einer engen Auslegung von Vor- schriften (vgl. Ader 2006, S. 168). Sie nutzen folglich nicht den eigentlich vorhandenen Inter- pretationsspielraum, sondern entlasten ihren eigenen Dienst mittels genauer Beachtung der Zuständigkeitsvorschriften (vgl. ebd., S. 168).
Weitere Risikofaktoren sind schleierhafte Kompetenzregelungen sowie Entscheidungsstrukturen (vgl. ebd., S. 168). Höhere Ebenen der Hierarchie intervenieren dann, wenn der Fall eskaliert, wobei die Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt ein Eingriff geschieht, willkürlich ist (vgl. ebd., S. 168). Die Mitarbeiter des JA erleben dies als „[…] formale Ausübung hierarchischer Macht und befördern das Empfinden eigener Ohnmacht gegenüber der Willkür und Unberechenbarkeit in der eigenen Organisation“ (ebd., S. 168).
3.2.1.2 Dominanz der Interessen der Hilfesysteme
Die Dominanz der Interessen der Hilfesysteme hat einerseits Auswirkungen auf die Interessen der Klienten (vgl. Ader 2006, S. 170). Andererseits stehen den dominanten Interessen einer Organisation, vor allem in kritischen Lebenssituationen der Klienten, die pädagogischen An- forderungen im Umgang mit diesen Ereignissen gegenüber (vgl. ebd., S. 170). Mit den vier Handlungsmustern des minimalen Eingriffs, der Ausgrenzung, der Orientierung an Maßnah- men sowie der Kurzsichtigkeit soll der Vorrang der Interessen des Hilfesystems transparent gemacht werden.
3.2.1.2.1 Minimaler Eingriff
Mit minimalem Eingriff ist vor allem die Ressourcenorientierung in der JH gemeint, durch welche die Stärken und Potentiale der Kinder sowie der Familien genutzt werden sollen, um den Eingriff gering zu halten (vgl. Ader 2006, S. 171). Dieser Ansatz stellt jedoch eine Gefahr dar, da möglicherweise mit dem eingeschränkten Blick auf die Ressourcen Notlagen übersehen werden (vgl. ebd., S. 171). Im Rückblick auf den Hilfeverlauf kann dann oftmals festgestellt werden, dass der Hilfeumfang graduell zunimmt oder ein plötzlicher Eingriff, wie beispielsweise eine Fremdunterbringung geschieht (vgl. ebd., S. 171).
Minimaler Eingriff bedeutet auch, dass weniger Arbeitsaufwand und damit weniger Begrün- dungsnotwendigkeit besteht (vgl. ebd., S. 172). Einerseits werden in den, im geringen Um- fang begründeten, Berichten und Diagnosen „Zusammenhangsvermutungen, Kontextualisie- rungen von auffälligem Verhalten und Hypothesen bezüglich subjektiver Sinnlogiken […]“
(Ader 2006, S. 172) vernachlässigt. Demgegenüber stehen umfangreiche Darstellungen des Fehlverhaltens der Klienten im Vordergrund (vgl. ebd., S. 172). Andererseits lässt sich eine Vielzahl von psychologischen sowie psychiatrischen Gutachten darauf zurückführen, dass von Seiten der JH nur unzureichend beurteilt werden kann (vgl. ebd., S. 172). Gutachterliche Einschätzungen geben zudem Sicherheit aufgrund der anerkannten Professionalität dieser Berufsgruppe (vgl. ebd., S. 172).
3.2.1.2.2 Ausgrenzung
Zielgruppenspezifische Angebote sorgen für strukturelle Probleme, da für jedes Problem eine Lösung parat gehalten wird und dann für jede Lösung ein spezielles Angebot vorliegt, wo- durch die Symptomatik in den Vordergrund geschoben wird (vgl. Ader 2006, S. 173). Hinzu kommt, dass Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Gründen „nicht mehr tragbar“ zu sein scheinen und daher ausgeschlossen werden (vgl. ebd., S. 173). Eine Begründung wird erst in einer bestimmten Situation angeführt, in der das Fehlverhalten von Seiten der Einrichtung nicht mehr geduldet wird (vgl. ebd., S. 173). Anstelle von Selbstreflexion der Institution in Folge von Fehlverhalten beginnt die nächste Hilfestation für den Klienten (vgl. ebd., S. 173). Probleme werden folglich delegiert und für den Klienten entsteht ein Kreislauf, der durch Neubeginn, Aufnahme und Ausgrenzung gekennzeichnet ist (vgl. ebd., S. 173). Gleichzeitig entsteht oftmals eine Stigmatisierung der Klienten durch den Sprachgebrauch in Gesprächen und Berichten (vgl. ebd., S. 173).
3.2.1.2.3 Orientierung an verfügbaren Hilfen
Mit der Orientierung an verfügbaren Hilfen ist gemeint, dass bereits neue Maßnahmen vorbereitet werden, ohne die Schwierigkeiten der letzten Hilfe zu reflektieren, bei welcher der Klient als „nicht mehr tragfähig“ galt (vgl. Ader 2006, S. 175). Die eigene Überlastung wird mit übereiltem Handeln kompensiert, wobei oftmals der individuelle HB (Hilfebedarf) vernachlässigt wird sowie eine Auswahl bekannter und verfügbarer Angebote freier Träger stattfindet (vgl. ebd., S. 175). Von Beginn an sind die meisten solcher Entscheidungen von Neubeginn, Aufnahme und Abbruch gekennzeichnet (vgl. ebd., S. 175).
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- Arbeit zitieren
- Carolin Andritschke (Autor:in), 2009, Was lässt Eltern mit geistiger Behinderung zu schwierigen Fällen werden? Befunde, Konflikte, Herausforderungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/156991
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