Habitus - Geschichte des Begriffs und seine Verwendung in der Theorie von Pierre Bourdieu


Seminararbeit, 2003

27 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

VORWORT

EINLEITUNG

GESCHICHTE DES BEGRIFFS
URSPRÜNGE IN DER PHILOSOPHIE
WIEDERENTDECKUNG BEI DURKHEIM UND WEBER
ARNOLD GEHLEN
PETER BERGER UND THOMAS LUCKMANN
DER HABITUSBEGRIFF BEI NORBERT ELIAS

DER HABITUSBEGRIFF BEI BOURDIEU
ENTSTEHUNG DES BOUDIEU’SCHEN HABITUSKONZEPTS
FUNKTIONSWEISE DES HABITUS
BEISPIEL: MÄNNLICHE HERRSCHAFT (DOMINATION MASCULINE)
KRITIK

LITERATUR:

ANHANG:

Vorwort

Die vorliegende Arbeit versucht in eines der zentralen Konzepte des Werks von Pierre Bourdieu einzuführen, seinem Begriff des Habitus. Eine Konzeption die eine Schlüsselposition im Werk des französischen Sozialwissenschafters einnimmt und sich wie ein roter Faden durch sein Schaffen zieht. Ein Werk, dass vor allem durch seine Vielfalt beeindruckt. So zieht es sich von den frühen ethnologischen Studien in der Kabylei, über Studien zur sozialen Gebrauchsweise der Photographie, zur sozialen Reproduktion, vor allem im Bildungsbereich, kultursoziologischen Studien zu Essen, Freizeit, Geschmack in der Kunst, Analysen des intellektuellen und wissenschaftlichen Felds, Forschungen über Bischöfe, Unternehmer und den Notwendigkeitsgeschmack der ArbeiterInnen, Religions-, Rechts-, Kunst-, und Mediensoziologie bis hin zu seiner später ausgearbeiteten Theorie der männlichen Herrschaft, um nur Einiges zu nennen. Diese „partiellen Theorien des Sozialen“1 entwickeln sich dabei stetig, zwischen theoretischer Reflexion und empirischer Forschungsarbeit weiter.

Dabei dreht es sich vorrangig um die Gegensätze zwischen Subjektivismus und Objektivismus, ökonomischem und symbolischem Kapital, opus operatum und modus operandi, die Pierre Bourdieu zu überwinden sucht. Er knüpft an das von Marx formulierte Grundproblem des Zusammenwirkens von Individuum und Gesellschaft an. Dabei befindet er sich in den Fußstapfen von Karl Marx, der im achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte folgendermaßen schrieb:

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.2

Wie also die Subjekte einerseits ihre Geschichte selber machen, diese ihnen aber als äußere Macht gegenübersteht. Von Karl Marx übernimmt Pierre Bourdieu auch die Vorstellung einer in Klassen gegliederten Gesellschaft.

Gleichzeitig bricht der französische Soziologe allerdings mit der marxistischen Theorie in einigen Bereichen. Er wirft ihr eine intellektuelle Illusion vor, wenn sie theoretisch bestimmte Klassen mit real oder tatsächlich mobilisierbaren Klassengruppierungen gleichsetzt. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch den Ökonomismus und Objektivismus von vielen marxistischen TheoretikerInnen, welcher die symbolischen Kämpfe unterschlägt3.

„Ich für meinen Teil habe versucht, jenen fast theologisch behandelten Gegensatz zu überwinden zwischen den Klassentheorien und den Schichttheorien, einem Gegenstand der sich zwar in den Soziologievorlesungen gut ausmacht und auch dem Denken des DIAMAT gut Gesicht steht, faktisch aber nichts weiter darstellt als den Reflex eines bestimmten Standes der intellektuellen Arbeitsteilung.“4 Auf die Frage, was der Marxismus für ihn bedeutet antwortet er in diesem Sinne auch mit:

„Folglich ist die Alternative: Marxist sein oder nicht sein, eine religiöse und bestimmt keine wissenschaftliche“5.

Pierre Bourdieu, der zwar selbst sagt, dass Theorie die nur von Intellektuellen für Intellektuelle geschrieben wird keine Sekunde der Mühe wert ist, schreibt gleichzeitig in einer äußerst komplexen und schwierig zu lesenden Sprache, da sich seiner Meinung nach Komplexes nur auf komplexe Weise sagen lässt6. Dabei fordert er den/die LeserIn nicht nur mit seinen Satzungetümen, einer Fülle an Anspielungen und Wortspielen sowie einer nur sehr selten erklärten Begriffsverwendung. Auch die große Zahl an unterschiedlichen ÜbersetzerInnen in das Deutsche machen im Laufe der Zeit die Lektüre nicht einfacher.

Nichtsdestotrotz fasziniert die Arbeit von Bourdieu, seine umfangreichen empirischen Forschungen, kreativen Weiterentwicklungen bereits vorhandener Theorie sowie seine eigene Theorie-Arbeit. Selbst sein Schreibstil wirkt geradezu wie eine Anwendung seiner eigenen Theorie, in der sich so vieles um Darstellung, Distinktion und Symbolik dreht. Gerade in ihrer schweren Verständlichkeit eignet sich dich perfekt zur intellektuellen Distinktion.

Einleitung

Die Entstehung der Soziologie als Wissenschaft konnte erst mit der, durch die Aufklärung einsetzenden Entzauberung der Welt entstehen. Von da an, ist die Welt nicht mehr die von Gott gesetzte, einzig mögliche Ordnung. Mit der Entzauberung oder Verweltlichung kam das Individuum auf die Welt. Menschen werden als handlungsfähige, selbstverantwortliche und prinzipiell gleiche Individuen anerkannt. Diese bilden gemeinsam die Gesellschaft, eine Praxis, die zu untersuchen die Soziologie im 19. Jahrhundert angetreten ist. Wie ist diese „Gesellschaft der Individuen“ möglich? In unseren alltäglichen Handlungen produzieren wir ja ständig Gesellschaft, ohne dies explizit zu tun. Die Soziologie muss daher den Menschen als vergesellschaftlichtes Individuum denken, die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft erkennen, „das Paradoxon vom objektiven Sinn ohne subjektive Absicht lösen“7. Das bisher einflussreichste Konzept zur Lösung dieser Frage, war das Konzept der „Rolle.“ Andere soziologische Denker, beispielsweise Norbert Elias in “Die Gesellschaft der Individuen” oder Pierre Bourdieu verwendeten und entwickelten den Begriff des Habitus. Dieser kann als Alternative zum Begriff der “Rolle” gesehen werden8.

“Der Habitus ist das vereinigende Prinzip, das den verschiedenen Handlungen des Individuums ihre Kohärenz, ihre Systematik und ihren Zusammenhang gibt.”9 Er trennt nicht die “sozialen Rollen” sondern geht von einem Identitätskonzept aus. Krais zieht in ihrem Aufsatz auch die, in der Parson’schen Formulierung des Rollenkonzepts expliziten Trennung von Körper und Geist als Kontrast zum Habitus-Konzept heran. Der Habitus, ganz besonders in der Theorie von Bourdieu bezieht den Körper ganz bewusst in die Theorie ein. Er ist, wie Bourdieu immer wieder betont inkorporierte Struktur, inkorporierte Geschichte.

Parson unterstellt in seiner Theorie der Rolle ein bewusstes Wissen der Interaktionspartner um die Erwartung des Anderen, eine bewusste Zweck-Mittel Rationalität.

Soziales Handeln in der Theorie von Pierre Bourdieu ist demgegenüber viel differenzierter aufgebaut und folgt dem „praktischen Sinn“ der handelnden Subjekte. Einem Begriff, dem wir uns später noch einmal detaillierter zuwenden werden.

Alles in allem ist das Bourdieu’sche Habituskonzept zu einem wichtigen Bestandteil der soziologischen Gegenwartstheorie geworden. Dabei ist immer auch die Verankerung in die Soziologie-Geschichte beachtenswert. Wie schon im Vorwort angedeutet bezieht sich Pierre Bourdieu ganz explizit auf die Theorien von Max Weber, Karl Marx oder Emile Durkheim.

Die Theorie Bourdieu lässt sich somit niemals von der soziologischen Theoriegeschichte abgelöst betrachten. Gleichzeitig nimmt Bourdieu jedoch auch immer wieder Theorieansätze implizit aus der Vergangenheit oder anderen Disziplinen und baut sie in seine Theorie ein. So ist, beispielsweise genauso wie Bourdieu sich bei seinem Hauptwerk „La Distinction“ zweifelsfrei auf die Arbeiten Thorstein Veblens und dessen „Theory of the leisure class“ stützt, auch das Habitus Konzept nicht von Bourdieu erfunden worden. Daher beginne ich diesen Text mit einer Rückschau auf die bisherige Geschichte des „Habitus“-Begriffs.

Im zweiten Teil der Arbeit setzte ich mich dann genauer mit der Bourdieu’schen Verwendung auseinander. Die Anfänge in der Kabylei und spätere Ausarbeitung des Konzepts, die Verwendung in verschiedenen Kontexten sowie einige Beispiele. Abschließend führe ich noch Kritikpunkte am Habituskonzept an. Trotz aller zeit- und raumbedingten Kürze hoffe ich einen guten Einblicke in den soziologischern Begriff des Habitus und seine Verwendung im Werk von Pierre Bourdieu liefern zu können.

Geschichte des Begriffs

Ursprünge in der Philosophie

Der Begriff des Habitus10 hat nicht nur Wurzeln in der altgriechischen Sprache, sondern ebenso in der dortigen antiken Philosophie11. Später wurde er von Thomas von Aquin aufgegriffen. Dieser verwendete den Begriff des Habitus als „zuständliche Eigenschaft, dauerhafte Anlage eines Dinges zu etwas“12. Damit versucht er die Vermittlungsinstanz zwischen der Potentialität13 und der Ausführung einer Handlung14 auszudrücken15. Wir können diesen über die Handlungen der Personen, den Tätigkeiten die aus ihnen hervorgehen16 erkennen. Gerade aus der Tatsache, dass Menschen ohne Verzögerung spontane Handlungen ausführen, spricht für ihn dabei für die Existenz eines Habitus. Jeder Einzelperson kommt ein persönlicher Habitus zu.17

Thomas von Aquin bezieht sich auf die Sichtweise des Aristotelismus18, welcher im Gegensatz zum Platonismus „die Bedeutung der Erfahrung, der Gewöhnung und der praktischen Erinnerung, damit auch des Körperlichen, für das menschliche Handeln“ betont19. Mit der cartesianischen Wende20 verschwindet diese (körperliche) Sicht wieder in der abendländischen Wissenschaftsauffassung, bis sie spätestens im 20. Jahrhundert wieder entdeckt wurde. Erste Anzeichen einer neuerlichen Zuwendung zu diesem Konzept sieht der US- amerikanische Soziologe Charles Camic bereits in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Helvetius sprach beispielsweise von der Gewohnheit, die Menschen antreibt und eine großen Quelle von privater und öffentlicher Moral21. Auch bei Rousseau, Condorcet, Hume, Ferguson und selbst Kant sieht Charles Camic Bezüge zum Habitus-Konzept der Antike. Selbst wenn letzterer dazu aufruft nicht den körperlichen Gewohnheiten zu folgen, sondern Handlungen vom Denken leiten zu lassen22. Dabei sprachen die Philosophen zu diesem Zeitpunkt von „habit“23 nur in einem sehr generellen Sinn. Eine Renaissance erlebte der Begriff im 19. Jahrhundert in der Evolutionsbiologie. Lamarck sprach vom „habit“ der Giraffen, wenn sie in den Baumwipfeln nach Essbaren Ausschau hielten, oder vom „habit“ der Schlangen am Boden zu kriechen. Auch Darwin verwendete den „habit“ - Begriff in „ On the Origin of Species “ um die grundsätzlichen Verhaltensweisen von Pflanzen und Tieren zu beschreiben24. In die Soziologie kam der Begriff erst über den Umweg der Psychologie. Hier wurde er, entsprechend den Evolutionisten für die primären Prozesse des menschlichen Organismus, beispielsweise dem Reflex, verwendet25.

Wiederentdeckung bei Durkheim und Weber

Nach Camic wurde „habit“ zu diesem Zeitpunkt auch in den Sozialwissenschaften auf dieser elementaren Ebene bei Bagehot, Bradley, Bosanquet, Comte, Le Play, Jhering, Tönnies, Simmel, Vierkandt und Lederer verwendet26. Erst bei Durkheim und Weber wurde ihm größere Beachtung geschenkt.

Durkheim betrachtete menschliches Handeln, gleich ob individuelles oder kollektives, als zwischen zwei Polen „oszillierend“, mit Reflexion auf der einen, „habit“ auf der anderen Seite, wobei letzterer dominiert. In „The Evolution and the Role of Secondary Education in France“ von 1905 schreibt er schließlich:

„What must be reached are the habits (...) these are the real forces which govern us.“27

Max Weber verwendet den Habitus-Begriff eher nebenbei in den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“(1920)28. Für Camic findet sich jedoch die deutlichste Entsprechung des Habitus-Konzepts in Max Webers Begriff der „Eingestelltheit“.29

[...]


1 Bourdieu 1979: 41

2 Marx 1972:115.

3 Bourdieu 1985:9ff.

4 Bourdieu 1993b:53.

5 Bourdieu 1992:67.

6 Schwingel 1995:10.

7 Bourdieu 1981:170.

8 Vgl. Krais 2004:92ff.

9 Krais 2004:95.

10 Von der philosophischen Begriffsdefinition her, bedeutet Habitus „(lat.) „die ‚Haltung’, das Gehabe, das Gebaren, die dauernde Gestalt, Verhaltens- und Erscheinungsweise eines Menschen, bei Thomas v. A. (Summa theol. I,II 49,2 ad 1) insbes. die zuständliche Eigenschaft, die dauernde Anlage eines Dinges zu etwas, die ‚Fertigkeit’ im Unterschied zur dispositio (Anlage) als solcher, der ‚Fähigkeit’; daher auch die Gewohnheit.“ Vgl. Kirchner, Michaëlis 1998: 279.

11 Vgl. Camic 2000: I-329

12 habitus quodammodo est medium inter potentiam puram et purum actum. Vgl.: Krais, Gebauer 2002: 26ff

13 potentia pura

14 purus actus

15 Er unterscheidte auch verschiedene Ausformungen des Habitus, wie den „habitus activus“, den „Habitus corporis“, den „habitus athleticus“ oder den für den Bourdieuschen Begriff wichtigen „habitus operativus“ („Habitus der Tätigkeit“) Vgl. Krais, 2002:26

16 habitus per actus cognoscuntur

17 Cuius habitus, eius est actus. Vgl. Krais 2002:26

18 Vgl. auch den Begriff der hexis, der für Bourdieu später bedeutend wird, als eine der zehn Kategorien des Aristoteles. (hexis, das griechische Pedant zum lateinische Habitus als das Haben, Anhaben (Bekleidetsein), Innehaben (Besitz), die Beschaffenheit, der dauernde Zustand, die Gewohnheit. Vgl. Kirchner/Michaëlis 1998:290: Aristoteles: Nikomachische Ethik.

19 Vgl. Krais 2002:27

20 Cogito ergo sum

21 zit. und übersetzt nach Camic 2000:I-329

22 ebd.

23 Ich verwende von hier an bei englischen Quellen den Begriff “habit” um etwaige Übersetzungsfehler zu vermeiden, da die englische Sprache nicht so deutlich zwischen Gewohnheit, Beschaffenheit und Habitus unterscheidet wie das Deutsche,

24 Camic 2000: I-330f.

25 ebd.

26 ebd.

27 zit. nach Camic 2000:I-333

28 Vgl. die Potsdamer Ausgabe der Ausgewählten Schriften, abrufbar unter http://www.uni- potsdam.de/u/paed/Flitner/Flitner/Weber/index.htm

29 Camic 2000:I-337ff.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Habitus - Geschichte des Begriffs und seine Verwendung in der Theorie von Pierre Bourdieu
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Soziologie)
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
27
Katalognummer
V157165
ISBN (eBook)
9783640701827
ISBN (Buch)
9783640702411
Dateigröße
959 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Habitus, Geschichte, Begriffs, Verwendung, Theorie, Pierre, Bourdieu
Arbeit zitieren
Ingolf Erler (Autor:in), 2003, Habitus - Geschichte des Begriffs und seine Verwendung in der Theorie von Pierre Bourdieu, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/157165

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