Monströse Metropolis oder schöne neue Welt?

Eine Studie zur Darstellung von Gesellschaftsorganisationen und deren Auswirkungen im dystopischen Roman


Bachelorarbeit, 2009

53 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Inhalt

1. Einleitung

2. Der dystopische Roman
2.1. Begriffsgeschichte und Merkmale
2.2. Zur Entstehung der Anti-Utopie
2.3. Historische Betrachtung und aktuelle Entwicklungen

3. Über die negativ-utopischen Gesellschaftsordnungen
3.1. Die Grundpfeiler der schönen neuen Welt und von Metropolis
3.2. Die Position des Individuums in den dystopischen Gesellschaften
3.2.1 Über die Gesellschaftsordnung
3.2.2 Individualität und Nonkonformismus
3.2.3 Zwischenmenschliche Beziehungen und der Wert einzelnen Lebens
3.3. Zur Funktion und Darstellung von Technik

4. Charakteristika der dystopischen Romangesellschaft

5. Anhang

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, Vorstellung von zukünftigen Welten zu konstruieren - Aufzeichnung über utopisches Gedankengut, entsprechend des heutigen Verständnisses des Begriffs, existieren bereits aus der Zeit der Antike. Seitdem konnte sich die Utopie als interdisziplinäre Geisteshaltung etablieren, wobei sie sich im Laufe der Zeit zu einer auffallend vielschichtigen Gattung entwickelt hat. Sowohl die Geistes- als auch die Sozialwissenschaften bedienen sich ihrer, weshalb sich der Terminus leicht im alltäglichen Sprachgebrauch etablieren konnte. Wer jedoch versuchen würde, eine Definition zu finden, die das Wesen der Utopie [erfasst] und dabei den Staatsrechtler, Soziologen, Pädagogen und Literaturhistoriker in gleicher Weise [befriedigt], würde unüberwindlichen Schwierigkeiten begegnen, weil die Utopie ein [höchst] komplexes Gebilde darstellt […].[1]

Zunächst bewegen sich die Entwürfe zwischen den Polen idealistischer Vorstellungen über zukünftige Lebensräume und grauenerregender Zukunftsvisionen, deren Eintreffen es zu verhindern gilt. Sowohl die positiven als auch die negativen Utopien behandeln die unterschiedlichsten Themenkomplexe. Wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit verdeutlicht werden soll, orientieren sich die Verfasser der Gegenweltentwürfe an ihrer zeitgenössischen Realität, welche in den Werken aufgegriffen und tendenziell weitergedacht wird. Auch persönliche Erfahrungen und, daraus resultierend, die grundlegenden Geisteshaltungen der Autoren müssen dabei eine Rolle spielen.

Wie bereits angedeutet, ergibt sich aus dem diffizilen Charakter der Utopie, dass die Konstruktion einer allumfassenden Definition des Begriffs kaum möglich ist. Ziel der vorliegenden Arbeit soll nun aber sein, einen (wenn auch nur kleinen) Schritt in diese Richtung zu unternehmen. Zunächst wird es dafür nötig sein, die genrekonstituierenden Merkmale der Utopie, inklusive aller ihrer Ausprägungen, zusammenzutragen, um so zu einer ersten literaturwissenschaftlichen Begriffsanalyse zu gelangen. Hierbei wird näher auf die Unterkategorie der Anti-Utopie eingegangen werden. Diese stellt die Grundlage für den zweiten Teil dieser Arbeit dar. Dort sollen für die Negativ-Utopie charakteristi- sche Motive, Themen und Merkmale vorgestellt und erörtert werden.

Um die Analyse möglichst detailliert und genau zu gestalten, wird eine weitere Spezifi- zierung des zu untersuchenden Materials vonnöten sein. Es war zuvor erwähnt worden, dass Utopien zum Teil stark divergierende Grundthematiken besitzen. Daher soll ein zwangsläufig in jedem utopischen Werk behandelter Aspekt im Vordergrund stehen: Die Gesellschaftsordnung. Übereinstimmungen zwischen den untersuchten Werken, im Hin- blick auf diese Thematik, können daher als typisch negativ-utopisch gewertet werden. Da der Entstehungskontext, wie zuvor angesprochen, bei der Interpretation von Utopien be- sonders zu beachten ist, weisen gemeinsame Vorstellung über die Strukturen der Zu- kunftsgesellschaften bei unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Hintergründen der Autoren besonders deutlich auf Genre-Charakteristika hin. Als Grundlage für die Unter- suchung werden nun zwei anti-utopische Klassiker des frühen 20. Jahrhunderts, also ei- ner Zeit der gesellschaftlichen Umstürze, dienen. Auf der einen Seite wird Aldous Huxleys Schöne neue Welt stehen. Im Zentrum der Geschichte befindet sich eine ÄWohl- standsgesellschaft, in der alle Menschen am Luxus teilhaben, in der aber auch Freiheit, Religion, Kunst und Humanität auf der Strecke geblieben sind“[2]. Als Vergleichspunkt wird Metropolis von Fritz Lang fungieren. Sein Werk behandelt eine phantastische Zu- kunftsstadt, Ägefügt aus Zukunftstürmen und Zukunftsstraßen, [in der] die Arbeiter unter der Erde und die Herren oben im Tageslicht“[3] leben.

Den Schluss der Arbeit wird ein Vergleich der beiden Gesellschaftsordnungen bilden, in welchem die charakteristisch negativ-utopischen Merkmale zusammengefasst werden sollen.

2. Der dystopische Roman

2.1 Begriffsgeschichte

In den westlichen Kultur- und Literaturkreis eingeführt wurde die Utopie durch den Bri- ten Thomas More mittels seiner 1516 veröffentlichten Schrift über die Insel Utopia, in welcher er das Leben in einem fernen Idealstaat beschrieb.[4] In unserem modernen Sprachgebrauch ist der Terminus der Utopie nun fest verankert, Das ist ja utopisch! gilt als geläufiger Ausspruch. Für gewöhnlich wird hiermit etwas als unrealistisch oder gar unmöglich abgetan und in den Grundzügen entspricht dies auch der wissenschaftlichen Bedeutung des Wortes Utopie, da diese Äein Gegenmodell zur Wirklichkeit“[5] darstellen soll. Jedoch ist die alltägliche Verwendung des Begriffs eher negativ behaftet. Demge- genüber steht auch eine positive Bedeutung von Utopie oder utopisch, zu welcher dem Laien jedoch der Zugang fehlen mag: Es handelt sich um die philosophische, politikoder literaturwissenschaftliche Verwendung des Ausdrucks. Insbesondere die erstgenannte Geisteswissenschaft kann auf eine erheblich längere Verwendungsgeschichte des Utopie-Begriffs zurückblicken, als unsere Alltagssprache.[6]

Bereits die Gelehrten der griechischen Antike bemühten sich Äum einen gerechten und sozialen Aufbau einer zukünftigen Gesellschaftsordnung“[7]. Eine elementare Rolle kommt hierbei Platon und seiner Politeia (um 374 v. Chr.) zu, in welcher er einen ständi- schen Idealstaat entwarf.[8] Wie das Genre selbst, entstammt auch der Begriff der Utopie dieser griechischen Tradition. Der Terminus setzt sich zusammen aus den griechischen Wörtern ού (nicht) und τόπος (Ort) in Kombination mit dem Suffix -ία. Ins Lateinische übersetzt wird hieraus Utopia. Da sich die von ού in lateinisch u übersetzte erste Silbe des Wortes zusätzlich in εύ (gut) rückübersetzen lässt, besitzt der Begriff eine weitere Bedeutungsfacette: Utopie entspricht demnach einer Verflechtung aus kein Ort und guter Ort.[9] In der weiteren Entwicklung dieser Literaturform wurden zusätzliche Spezifizie- rungen vorgenommen. So entstand für Geschichten, welche von einem guten Ort han- deln, die Bezeichnung Eutopie und analog, für Geschichten über einen schlechten Ort, die Dystopie, zusammengesetzt aus dys (schlecht) und τόπος.[10] Weiterhin lässt sich zwi- schen Raum-Utopien, die an einen fremden Ort verlegt wurden, und Zeit-Utopien, welche in einer vergangenen oder zukünftigen Epoche angesiedelt sind, unterscheiden.[11]

Fiktive Gegenweltentwürfe bewegen sich Äzwischen den Polen des totalen, umfassenden Staatsentwurfs einerseits und der auf einige Aspekte beschränkten, partiellen Gegenweltlichkeit andererseits […], tendieren [jedoch] am ehesten zur Totalität hin“.[12]

[Sie] zeichnen sich [dabei] durch einen relativ konstanten umfangreichen Themenkatalog aus […]. Er deckt das ganze Spektrum vom öffentlich-politischen bis zum privat-intimen Bereich ab, von der utopischen Gesetzgebung bis zur Kindererziehung und zu Fragen der Sexualität.[13]

Sowohl negative als auch positive Utopien thematisieren häufig sogenannte Hypostatisierungen der Gegenwart. Dabei handelt es sich zumeist um Äin die Zukunft weitergedachte Tendenzen, die sich nach Meinung der Autoren in der aktuellen Wirklichkeit abzeichnen“[14] oder aber eine bewusste Abkopplung von der Realität, welche durch den gezielten Einsatz von Traditionsbrüchen provoziert wird.

Die Utopie ist ein flexibles, starken Änderungen unterworfenes Genre, denn ÄAutoren, die eine alternative Welt entwerfen, tun dies immer mit Blick auf die aktuelle Wirklich- keit, die sie radikal verändern, modifizieren oder einfach nur zeitweise spielerisch aufhe- ben wollen“[15]. Utopische Literatur muss daher immer vor dem Hintergrund der jeweili- gen realhistorischen Situation gelesen und verstanden werden, denn Äum den Entwurf einer ‚alternativen Welt‘ in seiner Intention zu erfassen, [muss] notwendigerweise be- kannt sein, als Alternative wozu er entworfen wurde“[16]. Sie mag zwar ÄDokumente der Möglichkeiten enthalten“[17], stellt jedoch vielmehr einen ÄZerrspiegel ihrer eigenen Epo- che“[18] dar. Daraus folgt, dass für die Utopie Äder jeweilige Bezug auf die empirische Gegenwart, aus der heraus und als Gegenmodell zu der sie entstanden ist“[19] erheblich wichtiger ist, als bei anderen fiktionalen Texten. Dieses Merkmal verbindet die Utopie mit der Satire: Auch sie kann, aufgrund der starken Verknüpfung mit der politischen und gesellschaftlichen Situation ihrer Entstehungszeit, nur mithilfe entsprechenden Wissens verstanden werden. Nicht immer geben Utopie und Satire dem geneigten Leser einen deutlichen Hinweis auf ihre zeitgenössischen Realitäten. In diesen Fällen muss er Ädie Differenz zwischen alternativer Idealwelt und aktueller Wirklichkeit selbst erschließen und moralisch-didaktisch auswerten“[20], wobei letzteres vor allem für dystopische Erzählungen gilt.

Die utopische Gegenweltlichkeit wird bestimmt von ÄFremd- und Andersartigkeit bei gleichzeitiger Anschließbarkeit an den Erfahrungshorizont des intendierten Lesers“[21]. Fremdartigkeit ergibt sich aus den häufig unrealistisch und verdreht wirkenden Kulissen der Romane, die nicht der Realität des Rezipienten entsprechen. Die fiktive Welt muss daher durch eine Verlagerung auf einen nicht historischen Zeitpunkt oder erdachten Raum isoliert und so sinnfällig gemacht werden. Zusätzlich ist es dem Autor möglich, die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte durch als ÄGegengewicht zur Unwahrscheinlich- keit der alternativen Welt“[22] fungierende Beweisstücke, wie Tagebücher, Briefe oder sehr detaillierte Beschreibung seiner Reise und Erlebnisse, zu erhöhen. Hierdurch erreicht er eine Anschließbarkeit an den Erfahrungshorizont des Romanrezipienten. Besonders frühe Utopien, wie auch Mores Utopia, bedienen sich des unkomplizierten Mittels, als Reiser- oman getarnt aufzutreten, um so besonders einfach mit Beweisstücken und fremdartigen Schauplätzen überzeugen zu können.

2.2 Zur Entstehung der Anti-Utopie

Es konnte bereits festgehalten werden, dass zur Interpretation einer utopischen Schrift realhistorisches Hintergrundwissen unabdingbar ist. Ebenso verhält es sich auch bei der Entstehung des Genres der Utopie sowie ihrer Unterkategorien.

Der ersten klassischen Utopie von Thomas More gingen die Renaissance und der Huma- nismus in Europa voraus. Seit dem 14. Jahrhundert kam es zur ÄAbkehr von [der] mittel- alterliche[n] Scholastik, [zur] Gründung humanistischer Universitäten [sowie einem] neue[n] Verhältnis des Menschen zur Natur“[23]. Zeitgleich löste man sich vom Ähierar- chisch-christlichen Denken des Mittelalters“[24], Kunst und Literatur der Antike gewannen an Interesse und neue Welten, insbesondere Amerika, wurden entdeckt. Durch diese Neuerungen wurde der Grundstein für das moderne Welt- und Menschenbild gelegt und die Äutopische Tradition erlebte […] eine Wiedergeburt“[25]. So verwundert es nicht, dass auch Thomas Mores Utopia ganz im Zeichen humanistischer Denktradition stand und Ädie Landschaft des politischen Denkens in Europa entscheidend“[26] beeinflusste, indem sie sich kritisch mit der gesellschaftlichen und politischen Ordnung Englands unter Kö- nig Heinrich VIII. auseinandersetzte. Der starke Tudor-Monarch, der zwischen 1509 und 1547 regierte und vor allem für die Errichtung der englischen Nationalkirche bekannt ist, [27] hatte Ämittels der Einzäunung von Gemeindeland und dessen Umwandlung in Weide- fläche […] die seit dem 15. Jahrhundert verstärkte Nachfrage nach Wolle zur Profitstei- gerung“[28] genutzt. More beschrieb demgegenüber einen Inselstaat, der jedem Bürger ausreichenden Platz gewährte und, durch die Ausrottung der christlichen Todsünden des Geizes, der Üppigkeit, der Unmäßigkeit, des Zornes sowie der Trägheit,[29] eine Republik der Tugend darstellte.

Im 17. Jahrhundert kam es zu einer Erweiterung der ÄFiktionalisierung der Utopie […] in Form der Einführung und des beträchtlichen Ausbaus des Reiseberichts“[30]. Zudem wurde die fiktive Autobiographie zu einer beliebten utopischen Erzählform. Hier diente der Ich-Erzähler, fiktiver Reisender und Berichterstatter, […] als glaubwürdiger Kommentator der fremden Welt vornehmlich dazu, dem Rezipienten die Gegenwelt vertrauter zu machen, um Ablehnung des Andersartigen oder Skepsis zu vermeiden. […] Ausführliche Wahrheitsbeteuerungen in Form zuverlässiger Beweise, wie etwa Briefe, Tagebücher, […] oder Verknüpfung des Geschehens mit zeitgenössischen Ereignissen, sind dabei wichtige narrative Techniken zur Plausibilisierung der Gegenwelt […].[31]

Im 19. Jahrhundert vollzog sich ein weiterer Wandel in der Geschichte der Utopie. Aus- gelöst durch die Französische Revolution, Ädie eine neue Lebens- und Gesellschaftsord- nung durch einen gewaltsamen Umsturz zu verwirklichen versuchte“[32] sowie die schnelle Steigerung des zivilisatorischen Fortschritts, wurde die Utopie neu geprägt. Sie intendier- te nun nicht mehr allein eine satirische Kritik an herrschenden Umständen, sondern wur- de verstanden Äals ein konkretes Ziel, auf das alles politische Handeln auszurichten sei“[33]. Zeitgleich fand erstes sozialistisches Gedankengut seine Verbreitung, vor allem im Rahmen der Utopie, weshalb hier auch von einem ÄZeitalter des utopischen Sozialis- mus“[34] gesprochen werden kann.

Die zweckfreie Seite der schönen Literatur, die Selbständigkeit und Eigenwertigkeit der literarischen Welt [traten] nunmehr so in den Hintergrund, daß in der Zeit nach Engels die Frage der Verwirklichung oder gar des Datums der Verwirklichung der Idealkonzeption zum Kriterium der Utopie überhaupt erhoben [wurde].[35]

Auch der Einfluss der biologischen Evolutionstheorien nach Darwin und Erasmus war enorm. Es entstand der Glaube an ein Äevolutionistisch sich entwickelnde[s] unabwend- bare[s] Schicksal“[36], basierend auf einem Verständnis des Fortschritts als ÄGrundgesetz aller Wirklichkeit“[37]. Utopien dieser Art oder Phase ist gemeinsam, dass sie weniger auf Kritik an der Realität bedacht waren, als auf die ÄDarstellung eines als verbindlich ge- dachten Ideals oder Programms“[38]. Da Technik und Fortschritt hier als positive Tenden- zen betrachtet wurden, kann von konstruktiven Utopien gesprochen werden.[39]

Auf diese Form der Utopie folgte die Zeit der Utopien der Idylle, welche sich Ävon den sozialistischen Staatsutopien vor allem inhaltlich radikal [unterschieden]“[40]. Hier wurde ein Äästhetisches und sittliches Missvergnügen an der Häßlichkeit des Maschinenzeital- ters und der Industriestädte“[41] vermittelt, indem Gesellschaften mit einfachem Lebens- standard zeichnete und idealisiert dargestellt wurden. Oft im Rahmen eines Traumes oder Dauerschlafes, erlebte der Protagonist solcher Romane eine Gegenwelt zum für ihn aktuellen Maschinenzeitalter. Die Menschen leben bei ständigem Frühling in bäuerlichen, idyllischen Verhältnissen, ÄMaschinen, sowie industrialisierte Metropolen [sind] als verhasste Symbole eines unnatürlichen Daseins weitgehend verschwunden“[42].

Durch den Zusammenprall von alter und neuer Welt in Form zahlreicher Dialoge zwischen Besucherfigur und Utopiern wird die Verderbtheit der Wirklichkeit augenscheinlich. Hier- bei werden insbesondere die das Denken des 19. Jahrhunderts prägenden Befürchtungen artikuliert, dass der technische Fortschritt nicht mit einem moralischen Fortschritt der Menschen einhergeht.[43]

ÄDas verstärkte Aufkommen dieser eutopischen, fortschrittskritischen Werke Ende des 19. Jahrhunderts zeugt folglich vom Schwinden und Nachlassen des uneingeschränkten Optimismus, wie er uns in den konstruktiven Utopien begegnet.“[44] Indem sich die Utopie der Idylle strikt gegen die Rationalität und Kollektivismus propagierende konstruktive Utopie stellte, kann sie in gewisser Weise als eine Art Vorläufer der klassischen AntiUtopie betrachtet werden. Hinzu kam Ende des 19. Jahrhunderts eine Verbreitung des pessimistischen Staatsromans, der ebenfalls Äeine literarische Gegenbewegung“[45] zur Utopie, im Sinne einer Eutopie, darstellte.

Die Dystopie entwickelte sich nun als eine Äkritische Gegenbewegung gegen das utopi- sche Denken […] und gegen die literarische Darstellung utopischer Gesellschaftszustän- de“[46]. Sie ist somit als Reflex auf ihre spezifischen Zeitumstände zu sehen. Ihre Kritik zielte vornehmlich auf die zunehmende Perfektionierung von Gesellschaft und Staat ab, provoziert durch die im 19. Jahrhundert allgegenwärtige Technisierung sämtlicher Le- bensbereiche. Vor allem bei den frühen Autoren, wie Huxley, Orwell und Samjatin, wird die Furcht vor einer daraus resultierenden Tilgung der Ähumane[n] Würde des Men- schen“[47] offenkundig: ÄDie Kritik an den Auswirkungen utopischen Denkens droht uto- pisches Denken überhaupt in Frage zu stellen“[48], da als zentrale Charakteristika der Uto- pie vor allem Isolation des Individuums, Perfektion in allen Lebensbereichen und, daraus resultierend, Selektion gelten.[49] Dystopien vermitteln demnach nicht nur - im Gegensatz zum pessimistischen Staatsroman - eine politische Botschaft, Äsondern warnen ganz deutlich vor zukünftigen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen“[50]. Durch dieses ÄWil- lensmoment unterscheide[n] [sie] sich […] von der puren Phantasie und der Prophetie; durch ihren Wirklichkeitsbezug vom Illusionären und Irrealen, welche die Wirklichkeit an sich ausschließen“[51].

2.3 Historische Hintergründe und Ausprägungen der Dystopie

Auch zu Thomas Mores Zeiten hatte es schon negative Utopien gegeben. Joseph Halls Mundus Alter et Idem von 1607 gilt als eines der sehr frühen Werke, ist aus heutiger Sicht jedoch eher der Prosasatire als der klassischen Dystopie zuzuordnen. Hall kritisierte in seiner Schrift die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit, indem er ein Ägroteske[s] [Alternativbild] zur zeitgenössischen Wirklichkeit [verspottete]“[52]. Darüber, welches Werk nun tatsächlich als das Genre der Anti-Utopie konstituierend bestimmt werden kann, ist sich die Utopieforschung uneinig. Zweifellos jedoch hat sich der Wandel Ävon der Vorherrschaft der Eutopie zur Dominanz des dystopischen Diskurses“[53] in einem langwierigen Prozess vollzogen und kann somit unmöglich auf die Veröffentlichung ei- nes einzelnen Romans datiert werden. Im Folgenden sollen für diesen Umschwung rele- vante Faktoren, im Sinne realhistorischer Ereignisse und daraus resultierender Geistes- haltungen, vorgestellt und erörtert werden.

Einen solchen Faktor stellte Anfang des 19. Jahrhunderts der Einzug des Sozialismus in das Genre Utopie dar. Dieser politischen Ideologie liegt die Idee von einer solidarischen Gesellschaft, Äin der die Grundwerte Freiheit und Gleichheit verwirklicht werden“[54], zugrunde. Ihre schnelle Entwicklung von einer rein hypothetischen, utopischen Annahme zur politischen Bewegung ließ ihre Realisierung in greifbare Nähe rücken.[55]

Was Wunder also, daß nunmehr, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, da die vorher von menschlicher Unvollkommenheit freie Spekulation in das Feld politischer Kontroversen und polemisierender Auseinandersetzungen geriet, angesichts der solchermaßen hinter dem Ideal zurückbleibender Realität auch das negative Potential dieser Utopien, nämlich die denkbare Bedrohung der Freiheit und Individualität des Einzelnen, durch die verabsolutierte Herrschaft eines Kollektivs, ins Blickfeld rückte![56]

Dass gerade ein russischer Autor, namentlich Jewgeni Samjatin, 1920 die erste klassische Dystopie verfasste, verwundert wenig, nachdem die Sowjetunion als erstes Land versucht hatte, das sozialistische Staatswesen in die Praxis umzusetzen. Samjatins Erfahrungen spiegeln sich deutlich in seinem Roman Wir wider: Beschrieben wird ein totalitärer Einheitsstaat in einer zukünftigen Welt, in dem Menschen keine Namen mehr gegeben, sondern Nummern zugeteilt werden und tiefer gehende Gefühle als Abnormität gelten. Wir ist als offenkundige Warnung an die Menschheit artikuliert, welche, wenn auch in überspitzter Weise, die realhistorischen politischen Geschehnisse des frühen 20. Jahrhunderts in der heutigen Russischen Föderation deutlich vor Augen führt.

Ein auffälliger Wandel vollzog sich ebenfalls im Hinblick auf die Haltung gegenüber Wissenschaft und Fortschritt. Auch in diesen Bereichen rückten Erfindungen, welche noch einige Jahre zuvor als bloße Hirngespinste oder technische Träumereien abgetan worden waren, in einen realisierbaren Rahmen. Damit einher ging die ÄSorge, was ge- schehen könnte, wenn all diese zum Teil in ihrer Tragweite noch gar nicht überschauba- ren neuen Machtmittel in die unrechten Hände gerieten“[57]. Markant für diese Problema- tik sind die detaillierten und wissenschaftlich fundierten Erläuterungen von Prozessen und Systemen, welche in die dystopischen Geschichten eingebettet sind.

Dieser Umschwung ist in den modernen dystopischen Romanen sehr deutlich zu erken- nen. Sowohl Samjatins Wir als auch Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932) kritisieren vor allem die Äimpliziten Ziele der Industriegesellschaft“[58], welche ursprünglich in der utopischen Literatur gerühmt worden waren. Sie zeichnen ein Äganzes utopisches Mo- dell, nämlich den technisierten Wohlstandsstaat, und [ziehen] damit auch den utopischen Gedanken selbst in Zweifel“[59]. Das Menschenbild in diesen Gesellschaften des Überflus- ses dementiert jenes der Utopisten: So wird der Mensch, trotz seiner Vernunftbegabung, Äniemals imstande sein, einen Staat zu errichten, geschweige denn zu erhalten, dessen konstituierendes Merkmal die Dominanz jener Vernunft ist“[60], da er nicht fähig ist, sein eigenes Wohlergehen dem der Gemeinschaft unterzuordnen. Auch Fritz Langs Metropolis (1927) entstand unter ähnlichen Annahmen, wobei hier marxistisches Gedankengut die Darstellung des Gesellschaftssystems stark beeinflusste.

Eine weitere klassische Dystopie von großem Bekanntheitsgrad ist George Orwells 1984 (1948). Doch er beschreibt, im Gegensatz zu Huxley und Samjatin, keinen durchtechnisierten Wohlstandsstaat, sondern ein Terrorregime, wo der Mangel herrscht, weil seine Machthaber die Unterdrückung dadurch besser ausüben und genießen können. Orwell scheint also eine noch pessimistischere Auffassung vom Wesen des Men- schen zu haben.[61]

Orwell hatte die Möglichkeit, vor dem Verfassen seines Romans die Werke seiner genannten Vorgänger zu rezipieren. Die Berücksichtigung seines erweiterten Erfahrungshorizonts ist für das Verständnis von 1984 unabdingbar. Orwell hatte sich gewundert, dass die Herrscher in Schöne neuen Welt keine persönlichen Motive verfolgten. Demnach lag es ihm am Herzen, dieses Faktum in seine Geschichte einzubinden.

Grundsätzlich muss festgehalten werden, dass sich Ävor dem Hintergrund zweier Welt- kriege und den Ereignissen nach 1917 und 1933“[62] eine Änderung innerhalb der dystopischen Literatur abzeichnete. Die Erfahrungen durch totalitäre Regime, gewissen- lose Kriegsführung und gescheiterte Revolutionen führten zu einer verstärkten Desillusi- onierung, welche sich insbesondere bei Orwell und Huxley bemerkbar macht. Der satirische Blick auf das aktuelle Zeitgeschehen rückte in den Hintergrund, sich ab- zeichnende Entwicklungstendenzen - in ausgereifter Form dargestellt - traten hervor.[63] Die Dystopie versucht allerdings, im Gegensatz zur als Reiseroman getarnten Utopie, nicht, Äden Leser von der Glaubhaftigkeit des vorgestellten Staatsmodells bzw. […] [sei- ner] Theorien und Ideen zu überzeugen, sondern vielmehr Wertung auf Seiten des Rezi- pienten zu provozieren“[64]. Hier wird erneut das eigentliche Willensmoment der Dystopie deutlich: So soll der Leser angeregt werden, kritisch über die literarisch extremisierten gesellschaftlichen und politischen Mechanismen und ihre völlige Etablierung im dystopischen Staat nachzudenken und so Rückschlüsse auf seine eigene Zeit zu ziehen: ÄDie satirisch-provokative Verfremdung der Wirklichkeit erhält in den modernen Dystopien folglich eine ernsthafte wissenschaftliche und ideologische Basis.“[65] Ihr Lehr- gedanke wird repräsentiert durch das Aufzeigen einer Welt, in der es bereits zu einem ÄNiedergang der Individualität in einem total technisierten und kollektivierten Zwangs- staat“[66] gekommen ist.

Deutlich zu erkennen ist diese Intention auch im grammatikalischen Ausdruck der Schriften. Um dem Rezipienten den Ernst der Lage zu verdeutlichen und ihn von der Ansicht, es handle sich um ein bloßes Gedankenspiel, abzubringen, verwenden Dystopien das Ä[prophetische] Präteritum und nicht [das] Konditional oder Futurum“[67]. Stand zuvor ein souveräner reisender Berichterstatter im Mittelpunkt der utopischen Ge- schichte, so ist in der Dystopie an seine Stelle ein sozialer Außenseiter getreten, der, häu- fig motiviert Ädurch den Kontakt zu Widerständlern und eine Liebesbeziehung“[68], eine Normabweichung erlebt. Um diesen Helden als möglichst facettenreiche und transparen- te Persönlichkeit darstellen zu können, verwendet die Dystopie eine personale Erzähl- weise. Demgegenüber steht die Utopie als Ich-Erzählsituation.[69] Durch die personale Erzählsituation erhält der Leser zwar einen Einblick in das Gefühlsleben des Helden, nicht jedoch in das anderer Personen. Nur aus den Informationen, welche das Gegenüber des Helden im Zwiegespräch preisgibt, muss sich der Rezipient eine Meinung bilden. Hierdurch kann er eine größere Überraschung oder auch Spannung während des Lesens erfahren, als es in einer auktorialen Erzählsituation möglich wäre. Ebenso erfährt er weit mehr über den Protagonisten, da die personale Erzählweise objektiver und eindeutiger ausfällt, als die eines Ich-Erzählers.

Noch ein weiteres Charakteristikum der Dystopie wird durch ihre Erzählweise begüns- tigt: Der Held und die als menschlicher ÄBösewicht“[70] personifizierte dystopische Ge- sellschaftsordnung prallen, im Rahmen einer Debatte über ihre unterschiedlichen Welt- anschauungen, aufeinander, wodurch Ädie Perversion des dystopischen Staates“[71] offen- gelegt wird.

[...]


[1] Tuzinski, Konrad: Das Individuum in der englischen devolutionistischen Utopie. Tübingen 1965 (= Studien zur englischen Philologie 9), S. 2. [Änderungen durch die Verfasserin A. F.]

[2] Huxley, Aldous: Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft. 65. Aufl. Frankfurt am Main 2008, S. 3.

[3] Hildenbrandt, Fred: Metropolis. In: Berliner Tagesblatt 11 (1927), S. 2.

[4] vgl. Hug, Franziska: Die Gattung der Utopie im Wandel. Samuel Butlers Erewhon und George Orwells Nineteen Eighty-Four als Beispiele. Trier 2007 (= Jenaer Studien zur Anglistik und Amerikanistik 12), S. 4.

[5] Kuester, Hildegard: Utopia - Utopie. In: Beck, Rudolf/ Hildegard Kuester/ Martin Kuester: Basislexikon anglistische Literaturwissenschaft. Stuttgart/ Paderborn 2007 (= UTB 2930), S. 250.

[6] vgl. Erzgräber, Willi: Utopie und Anti-Utopie in der englischen Literatur. Morus - Morris - Wells - Huxley - Orwell. München 1980 (= Literaturstudium 1), S. 13.

[7] Tuzinski, S. 1.

[8] Hug, S. 4.

[9] vgl. Tzuinski, S. 3.

[10] vgl. Hug, S. 7.

[11] vgl. Erzgräber, S. 14.

[12] Schulte-Middelich, Bernd: Möglichkeiten utopischen Denkens - Das Erbe Platons. In: Pfisterer, Manfred [Hrsg.]: Alternative Welten. München 1982 (= Münchener Universitätsschriften 12), S. 26. [Änderung durch die Verfasserin A. F.]

[13] ebd. [Änderungen durch die Verfasserin A. F.]

[14] ebd., S. 28.

[15] ebd., S. 27.

[16] Mühlheim, Ulrike: Utopie, Anti-Utopie und Science Fiction. In: Pfisterer, S. 315.

[17] Cunis, Reinmar: Wunschbild und Alptraum. Eine soziologische Betrachtung moderner literarischer Utopien. In: Die neue Gesellschaft 3 (1961), S. 219.

[18] ebd.

[19] Mühlheim, S. 315.

[20] Schulte-Middelich, S. 33.

[21] ebd.

[22] ebd.

[23] Stollberg-Rilinger, Barbara: Einführung in die Frühe Neuzeit: Einführung in die Epoche: Humanismus. http://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/einleitung/einfuehrung_epoche/glossar.htm#humanismus (5. Dezember 2008). [Änderungen durch die Verfasserin A. F.]

[24] Stollberg-Rilinger, Barbara: Einführung in die Frühe Neuzeit: Einführung in die Epoche: Renaissance. http://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/einleitung/einfuehrung_epoche/glossar.htm#renaissance (5. De- zember 2008).

[25] Hug, S. 11.

[26] ebd.

[27] Hübner, Emil: Das politische System Großbritanniens. Eine Einführung. 2. aktual. Aufl. München 1999 (= Beck’sche Reihe 1251), S. 15.

[28] Hug, S. 12.

[29] vgl. ebd.

[30] ebd., S. 16.

[31] ebd., S. 17.

[32] Erzgräber, S. 14.

[33] ebd.

[34] Seeber, Hans-Ulrich: Wandlungen der Form in der literarischen Utopie. Studien zur Entfaltung des utopischen Romans in England. Göppingen 1970, S. 27.

[35] Schulte Herbrüggen, Hubertus: Utopie und Anti-Utopie. Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie. Bochum 1960, S. 116. [Änderungen durch die Verfasserin A. F.]

[36] ebd., S. 117. [Änderungen durch die Verfasserin A. F.]

[37] ebd.

[38] Seeber, S. 12.

[39] vgl. ebd.

[40] Hug, S. 22. [Änderung durch die Verfasserin A. F.]

[41] Seeber, S. 114.

[42] Hug, S. 22. [Änderung durch die Verfasserin A. F.]

[43] ebd., S. 23.

[44] ebd.

[45] Tuzinski, S. 6.

[46] Erzgräber, S. 15.

[47] ebd., S. 16. [Änderung durch die Verfasserin A. F.]

[48] ebd.

[49] vgl. ebd., S. 17.

[50] Kuester, S. 252.

[51] Von Bondy, M.: Der Untergang der Utopie. In: Die Gegenwart 112 (1950), S. 13. [Änderung durch die Verfasserin A. F.]

[52] Hug, S. 24. [Änderungen durch die Verfasserin A. F.]

[53] ebd.

[54] Schubert, Klaus/ Martina Klein: Das Politiklexikon. 4. aktual. Aufl. Bonn 2006, S.277.

[55] vgl. Mühlheim, S. 320.

[56] ebd.

[57] ebd.

[58] ebd., S. 316.

[59] ebd.

[60] ebd.

[61] ebd.

[62] Hug, S. 36.

[63] vgl. ebd.

[64] ebd., S. 26. [Änderungen durch die Verfasserin A. F.]

[65] ebd., S. 37.

[66] ebd., S. 40.

[67] ebd., S. 37.

[68] ebd., S. 39.

[69] vgl. ebd., S. 39 f.

[70] Seeber, S. 237.

[71] Hug, S. 41.

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Monströse Metropolis oder schöne neue Welt?
Untertitel
Eine Studie zur Darstellung von Gesellschaftsorganisationen und deren Auswirkungen im dystopischen Roman
Hochschule
Universität Mannheim  (Germanistisches Seminar)
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
53
Katalognummer
V157278
ISBN (eBook)
9783640702633
ISBN (Buch)
9783640702749
Dateigröße
706 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Metropolis, Fritz Lang, Schöne neue Welt, Brave New World, Aldous Huxley, Gesellschaftsordnung, Utopie, Dystopie, Anti-Utopie, Technik, Literatur
Arbeit zitieren
Alice Fleischmann (Autor:in), 2009, Monströse Metropolis oder schöne neue Welt?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/157278

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