Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Was ist Neorealismus? Definition und Herkunft des Begriffes
2. Die Theorie des Neorealismus
2.1 Der klassische Realismus als Vorläufer zum Neorealismus
2.2 Vom klassischen Realismus zum Neorealismus
2.3 Die Grundannahmen des Neorealismus
2.3.1 Anarchie als Ausgangspunkt
2.3.2 Die strukturelle Sichtweise von Waltz
2.3.3 Der veränderte Machtbegriff
2.3.4 Kooperation
3. Die Anwendbarkeit des Neorealismus auf die deutsche Außenpolitik der 90er Jahre
3.1 Die Erwartungen der Neorealisten
3.2 Das tatsächliche Verhalten Deutschlands
3.3 Bewertung
4. Schlußwort
5. Literaturverzeichnis
1. Was ist Neorealismus? Definition und Herkunft des Begriffes
Schlägt man in einer allgemeinen Enzyklopädie den Begriff ,Neorealismus’ nach, so findet sich meist nur die Erklärung, es handle sich hierbei um einen Epochenbegriff für die italienische Literatur nach dem zweiten Weltkrieg oder um eine Stilrichtung im modernen Film[1]. Doch die Verwendung des Begriffs für einen Theorieansatz in der politikwissenschaftlichen Forschung internationaler Beziehungen wird so gut wie nie erwähnt. Dabei handelt es sich um eine der wichtigsten und einflußreichsten Theorien in diesem Bereich.
Sie entwickelte sich in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts und hat ihre Wurzeln im realistischen Paradigma[2], welches in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg die bedeutendste Theorie der internationalen Beziehungen bildete. Alexander Siedschlag definiert ,Neorealismus’ folglich so: „Als speziell neorealistisch sind solche Ansätze zu bezeichnen, die sich zwar ausdrücklich in die Tradition des (klassischen) Realismus stellen, diesen aber methodisch und auch theoretisch entscheidend revidieren und weiterentwickeln“[3]. Es ist daher unumgänglich, auch auf die Ideen des klassischen Realismus einzugehen, wenn man das Konzept der Neorealisten begreifen möchte. Sie werden deshalb in Kapitel 2.1 kurz umrissen, um die Grundlage für die Darstellung der neorealistischen Theorie in Kapitel 2.3 zu liefern.
Die Anwendung des Begriffs ,Neorealismus’ für diesen ,neuen’ realistischen Denkansatz stammt von Robert W. Cox[4] und läßt sich leicht nachvollziehen. Doch woher rührt die Bezeichnung ,Realismus’? Sie erklärt sich aus der Abgrenzung zur idealistischen Schule, welche dem Realismus vorausging: „Während die idealistische Denkschule danach fragte, wie die internationale Politik beschaffen sein sollte (Zukunftsorientierung), analysiert die realistische Denkschule die internationale Politik so, wie sie beschaffen ist (Gegenwartsorientierung)“[5]. Ob die neorealistische Schule dem Anspruch ihres Vorgängers auf Realitätsnähe und Anwendbarkeit hier und heute immer noch gerecht wird, soll in einem zweiten Teil dieser Arbeit untersucht werden. Dabei beziehe ich mich auf die Außenpolitik Deutschlands nach der Wiedervereinigung. Ich werde die praktischen Folgerungen aus der neorealistischen Theorie und einige Vorraussagen der Neorealisten am konkreten Verhalten Deutschlands auf ihre Tauglichkeit überprüfen.
2. Die Theorie des Neorealismus
2.1 Der klassische Realismus als Vorläufer zum Neorealismus
Schon ungefähr 400 Jahre vor Christus schuf Thukydides mit seiner Abhandlung über den Peloponnesischen Krieg das erste Werk, das auf den Sichtweisen des politischen Realismus beruht[6]. Es folgten im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche weitere Schriften mit realistischen Denkansätzen, zu denen Arbeiten von Niccolò Machiavelli, Jean Bodin, Thomas Hobbes, Friedrich Nietzsche, Max Weber, usw. gerechnet werden[7]. Robert O. Keohane stellt drei Grundprämissen auf, welche realistisches Denken charakterisieren: (1) Die einzelnen Staaten gelten als die wichtigsten Akteure in den internationalen Beziehungen. (2) Macht ist das angestrebte Ziel. (3) Die Akteure handeln aus rationalem Kalkül[8]. Joseph M. Grieco fügt als weiteres typisches Merkmal realistischer Weltsicht die Annahme einer international herrschenden Anarchie hinzu[9]. Diese Grundelemente finden sich mehr oder weniger ausgeführt in den obengenannten Vorläufern der realistischen Schule. Erst der aus Deutschland emigrierte amerikanische Wissenschaftler Hans J. Morgenthau baut sie in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg zu einer wissenschaftlichen Großtheorie aus[10]. Er legt seiner Theorie das dualistische Menschenbild des Theologen Reinhold Niebuhr zugrunde, nach dem der Mensch von Natur aus egoistisch ist und nur seine Eigeninteressen verfolgt. Laut Morgenthau handeln Staaten nach genau demselben Prinzip. Es entsteht ein Kampf um Macht auf internationaler Ebene[11]: „Politics among nations. The struggle for power and peace“ lautet bezeichnenderweise der Titel seines 1948 erschienenen Hauptwerks [12]. Morgenthau definiert darin Macht als die Fähigkeit, über das Denken und Handeln anderer zu bestimmen. Jeder Staat versucht laut realistischer Theorie, durch rationales Kalkül ein Maximum an Macht zu erreichen, was schon allein für sein Überleben in der international herrschenden Anarchie notwendig ist[13]. Der große Erfolg von Morgenthaus realistischer Theorie in den Nachkriegsjahren erklärt sich unter anderem aus dem sich rasch verschärfenden Ost-West-Konflikt, bei dem man dieses weltpolitische Machtstreben verwirklicht sah[14].
2.2 Vom klassischen Realismus zum Neorealismus
Die Veränderungen in der Weltpolitik Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre bewirkten ein kritisches Überdenken der klassischen realistischen Theorie. Ein neuer konkurrierender Theorieansatz, der sog. Neoliberalismus, zog die Aufmerksamkeit auf sich und es galt, die realistischen Grundprinzipien dagegen zu verteidigen. Eine Reihe von Wissenschaftlern erkannten die Defizite in Morgenthaus Theorie, waren aber gleichzeitig gewillt, das realistische Paradigma zu aktualisieren[15].
Alexander Siedschlag unterteilt die Erben des klassischen Realismus folgendermaßen:
Das sind vor allem drei: der synoptische Realismus der Münchner Schule mit seiner konstellationsanalytischen Methode als erster Neorealismus in diesem Sinn überhaupt, der strukturelle Realismus von Kenneth N. Waltz und der politökonomische Realismus von Robert. G. Gilpin. Daneben ist seit längerem eine sozusagen neo-neorealistische Theoriewelle zu verzeichnen. Sie besteht aus Ansätzen, die nun wiederum an verschiedene Neorealismen anknüpfen und diese erneut vor allem methodisch erweitern und in Bezug auf den erfaßbaren Gegenstandsbereich zu verbreitern suchen. Neben der Kooperationstheorie von Joseph M. Grieco gehören dazu vor allem der neostrukturelle Realismus von Buzan, Jones und Little sowie die Konfigurationsanalyse und strukturelle Konflikttheorie von Werner Link. Darüber hinaus gibt es nun auch den erwähnten , historisch orientierten neoklassischen Realismus, der - teils recht versatzstückartig- an Morgenthaus klassischen Realismus anknüpft.[16]
[...]
[1] Vgl. z.B. dtv Lexikon, Band 13, München 1997, S. 10.
[2] Vgl. Gu Xuewu: Theorien der internationalen Beziehungen, München 2000, S. 47.
[3] Alexander Siedschlag: Einführung – Internationale Politik als skeptische Gegenwartswissenschaft und die Münchner Schule des Neorealismus, in: ders. (Hg.): Realistische Perspektiven internationaler Politik, Opladen 2001, S. 13-66, S.22.
[4] Vgl. Robert O. Keohane: Realism, Neorealism and the Study of World Politics, in: ders. (Hg.): Neorealism and its critics, New York 1986, S. 1-26, S. 16.
[5] Vgl. Christiane Lemke: Internationale Beziehungen. Konzepte, Theorien und Problemfelder, München 2000, S.20.
[6] Vgl. Keohane (1986), S. 7.
[7] Vgl. Xuewu (2000), S. 39.
[8] Vgl. Keohane (1986), S. 7.
[9] Vgl. Joseph M. Grieco: Understanding the problem of international Cooperation: The limits of neoliberal instititionalism and the future of realist theory, in: David A. Baldwin (Hg.): Neorealism and Neoliberalism: The contemporary debate, New York 1993, S. 301-338, S. 303.
[10] Vgl. z.B. Lemke (2000), S. 20.
[11] Vgl. Xuewu (2000), S. 43.
[12] Hans Morgenthau: Politics among nations. The struggle for power and peace, New York 1948.
[13] Vgl. Xuewu (2000), S. 42.
[14] Vgl. Lemke (2000), S. 21.
[15] Vgl. Xuewu (2000), S. 47.
[16] Siedschlag (2001), S. 22-23.