Sinnestäuschung und Gefühlsgewissheit in Heinrich v. Kleists Erzählung "Der Zweikampf"


Hausarbeit, 2009

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Ein Brudermord
1.1 Wer war der Mörder?
1.2 Wer sagt die Wahrheit?
1.3 Politik vs. Kunstmärchen?

2. Der Zweikampf

3. Gefühlsgewissheit

4. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

0. Einleitung

Ein Zweikampf und seine Folgen bilden das zentrale Handlungsgeschehen in Kleists letzter, im Todesjahr 1811 entstandener Erzählung Der Zweikampf[1]. Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Gottesurteil, das als (äußerstes) Mittel weltlicher Justiz seit rund 400 Jahren überwunden war. Dies legt die Vermutung nahe, Kleist habe sich, wie bei früheren Werken auch schon, eines historischen Stoffes vor allem deshalb bedient, weil er sich dazu eignete, in ihm eine Problemlage der eigenen Zeit zu artikulieren.

Aus dieser Überlegung folgt zweierlei: Erstens richtet die vorliegende Untersuchung ihren Fokus auf die Zweikampfhandlung und ihre Folgen. Da uns dieser zentrale Komplex durch den Text eingelassen in eine Rahmenhandlung gegeben ist, soll uns zunächst die Vorgeschichte beschäftigen. Zweitens begreift sie dieses vordergründige Handlungsgeschehen als eine Art experimentale Versuchsanordnung. An ihr – so die zu prüfende These – soll eine Problematik modellhaft verhandelt werden, d.h. eine andere als diejenige einer zwar an sich schon hochproblematischen, ansonsten aber historisch obsolet gewordenen Rechtspraxis. Daraus ergibt sich die Frage nach den eigentlichen Konflikten und etwaigen Lösungen, die hier mit den Mitteln von Fiktion und Kunst aufgeworfen und durchgespielt werden.

1. Ein Brudermord

In der Auseinandersetzung mit dem Zweikampf stößt man gleich zu Beginn auf den mutmaßlich längsten Eröffnungssatz im gesamten narrativen Werk Kleists – Grund genug, sich eine Weile bei ihm aufzuhalten.[2] Das Mittelalter, das uns in ihm entgegentritt, bietet keinerlei Veranlassung zu romantischer Verklärung[3]: Fernab von romantischen Klischees wie einheitliche Christenheit, Minne und Rittertum, finden wir uns in einem eminent politischen Mittelalter wieder. Politik bedeutet hier vor allem eins: Erhalt und Ausbau, Verlust und Verschiebung von Macht. Und diese wiederum ist im Mittelalter dynastisch organisiert. Was sich in diesem einen Satz entfaltet, ist folglich ein exemplarischer Ausschnitt aus den komplizierten Verwandtschaftsverhältnissen und fragilen Machtstrukturen eines herrschenden Adelsgeschlechts.[4] Macht und Herkunft sind dabei aufs Innigste miteinander verwoben: Der mit dem mächtigen und legalen Herzogstitel ausgestattete Wilhelm von Breysach reüssiert gerade darin, einen unehelichen Sohn als Thronfolger durch den noch mächtigeren Kaiser legitimieren zu lassen. Doch die Macht ist innerhalb dieser feudalen Gesellschaftsordnung nicht nur von innen, durch Erlöschen des Stammbaums, bedroht. Schon in Kleists Erstlingswerk Die Familie Schroffenstein, ebenfalls im Mittelalter spielend, ist ein unheilvoller Erbschaftsvertrag die Ursache für Misstrauen und Zwietracht zwischen zwei verwandten Grafenhäusern. Auch hier im Zweikampf klingt bereits im ersten Satz die äußere Gefährdung an, die das auf Erbschaft basierende Herrschaftsprinzip heraufbeschwört: Unmissverständlich ist von der Feindschaft die Rede, die zwischen den beiden rivalisierenden Halbbrüdern ungleichen Ranges herrscht, zwischen dem Herzog und Graf Jakob dem Rotbart.[5] So nimmt es nicht wunder, dass in diese für den Moment so glücklich geordneten Verhältnisse schon im darauf folgenden Satz die Gewalt in Form eines Pfeilschusses einbricht, der das Leben des Herzogs auf dem Höhepunkt seines Erfolgs beendet.

1.1 Wer war der Mörder?

Für einen Augenblick scheint es so, als wäre mit diesem Mord die Ausgangslage für einen klassischen Krimi-Plot geschaffen worden: Wer war der Mörder, wer steckt dahinter? Diese Leseerwartung wird auf den folgenden Seiten auch insofern bedient, als von Seiten der Witwe Nachforschungen angestellt werden, in deren Verlauf sich die Verdachtsmomente gegen den Halbbruder des Ermordeten erhärten: Die Aussicht auf die unmittelbare Thronfolge durch vorzeitiges Ableben seines Kontrahenten würde denn auch ein veritables Tatmotiv abgeben – wäre da nicht das seltsam devote Verhalten des Grafen, der scheinbar bereitwillig auf die ihm rechtmäßig zustehende Krone verzichtet. Plausibel erklären lässt sich das Verhalten des Grafen (und der Herzogin) meines Erachtens nur, wenn man es wie Bernd Fischer aus politischem Kalkül heraus interpretiert.[6]

Der Herzog lebt nach der Pfeilattacke gerade noch lang genug, um den Machtverlust abzuwenden, der ohne die rechtzeitige Legitimation seines unehelichen Sohnes wohl nicht zu verhindern gewesen wäre. Die Krone geht nicht an den verfeindeten Halbbruder über, wie es das Gesetz fordert, sondern die Vasallen werden – ausdrücklich „unter dem Vorbehalt, die Genehmigung des Kaisers einzuholen“ (229) – auf den minderjährigen Sohn bzw. die Gemahlin als stellvertretende neue Regentin eingeschworen. Im Text heißt es daraufhin, dass die Herzogin „ohne weiteres, unter einer bloßen Anzeige […] an ihren Schwager“ (229) den Thron bestieg – eine ziemliche Provokation. Diese Konsolidierung der bestehenden Hierarchie wird nicht umsonst als erste „Regentenpflicht“ (230) bezeichnet. Die Suche nach dem Mörder ihres Mannes erfolgt erst als zweiter Schritt, doch auch diese Untersuchungen bleiben, wie wir sehen werden, gänzlich eingebunden in die übergeordneten politischen Interessen und Rücksichten. Sie diktieren das Handeln aller politischen Akteure.[7]

[...]


[1] Zitiert nach: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., hrsg. v. Helmut Sembdner, 9. verm. u. revid. Aufl., München 1993, Bd. 2, 229-261. Zitate werden im fortlaufenden Text mit Seitenzahlen nachgewiesen.

[2] Kaum eine Arbeit, die dies nicht getan hätte, wobei sich erstaunlicherweise jeder noch so verschiedene Deutungsansatz mit Beobachtungen an diesem ersten Satz zu fundieren weiß. Für Roland Reuß ist er, wie auch die ganze Erzählung, primär in Hinblick auf die uneindeutige Sprache erklärungsbedürftig: Ders.: „Mit gebrochenen Worten“. Zu Kleists Erzählung Der Zweikampf. In: Brandenburger Kleist-Blätter 7, Leipzig 1994, 3-41, hier: 29ff. Dieser sprachzentrierte Ansatz, in manchen Details durchaus aufschlussreich, bleibt über weite Strecken äußerst unbefriedigend, weil er fast ausschließlich mit einer Lupe am Sprachmaterial des Textes entlanggeht, ohne je einmal die Geschichte als ganze in den Blick zu bekommen.

[3] Vgl. z.B. Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt 2003, 282-295, hier: 286: „Indem Kleist seine Zweikampf-Erzählung im Mittelalter ansiedelt, folgt er der gerade aus solchen neureligiösen Tendenzen entsprungenen Mittelalter-Mode der Romantiker. […] Während die Romantiker die mittelalterlich-ungebrochene Glaubenswelt sympathisierend heraufbeschwören […], bedient sich Kleist ihrer als eines Szenarios, das die romantisch-identifikatorische Hinwendung zum Mittelalter indirekt als anachronistische Regression bloßstellt.“ Ganz ähnlich Bernd Fischer, der allerdings die „oppositionelle Struktur von romantischem und politischem Mittelalter“ als Hauptthema der Erzählung auffasst. Ders: Ironische Metaphysik. Die Erzählungen Heinrich von Kleists. München 1988, 125.

[4] „This one sentence is a microcosm of the complicated social web of genealogy, relations of ownership, and social rank.“ Azade Seyhan: Moral Agency and the Play of Chance: The Ethics of Irony in Der Zweikampf. In: Paul M. Lützeler/David Pan (Hg.): Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien. Würzburg 2001, 25-34, hier: 27.

[5] Die Begründung, ein ungebührender Rangunterschied zwischen der Gräfin Katharina von Heersbruck und seinem herzoglichen Halbbruder sei Anlass für diese Feindschaft, leuchtet nicht so ganz ein, schließlich ist Jakob selbst ‘nur’ Graf, mit dem alles andere als altehrwürdigen Namenszusatz „der Rotbart“. Vgl. Schmidt: Heinrich von Kleist, 2003, 284f. Unstimmig ist auch das Nebeneinander von einer „heimlichen Verbindung“ (229) und vor Gott und Gesetz geschlossener Ehe. Das hellhörig machende Verb ‘scheinen’ in Verbindung mit dem in Namen und repräsentativem Adelstitel vermeintlich zweifelsfrei zu identifizierendem Rang, und der natürliche aber uneheliche Sohn, der erst durch eine Legitimationsurkunde legalisiert werden muss: beides verweist bereits auf den Konstruktcharakter dieser künstlich geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Schon die Bezeichnung ‘Halbbruder’, die übrigens vom Erzähler seltsamerweise nicht konsequent durchgehalten wird, könnte vor dem Hintergrund der im Zuge der Französischen Revolution propagierten Brüderlichkeit aller Menschen als zusätzlicher Hinweis auf diesen Zusammenhang gelesen werden.

[6] Fischer: Ironische Metaphysik, 1988, 125ff.

[7] Wohl nur so ist zu erklären, dass die Herzogin bei so aussichtsreichen Indizien „nicht das mindeste Zeichen der Freude“ (232) zeigt, am Schluss aber, wie um das Geständnis des Grafen zu bestätigen, lauthals die „Ahndung“ (260) ihres Gemahls verkündet.

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Details

Titel
Sinnestäuschung und Gefühlsgewissheit in Heinrich v. Kleists Erzählung "Der Zweikampf"
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Deutsche Literatur)
Veranstaltung
Heinrich von Kleist als Erzähler und Dramatiker
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
14
Katalognummer
V157420
ISBN (eBook)
9783640702060
Dateigröße
513 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sinnestäuschung, Gefühlsgewissheit, Heinrich, Kleists, Erzählung, Zweikampf
Arbeit zitieren
R. Fehl (Autor:in), 2009, Sinnestäuschung und Gefühlsgewissheit in Heinrich v. Kleists Erzählung "Der Zweikampf", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/157420

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