Partnerschaft und Sexualität bei behinderten Menschen

Eine Befragung von MitarbeiterInnen von Behinderteneinrichtungen zu ihrem Umgang mit dem Sexualleben von Betreuten


Diplomarbeit, 2003

105 Seiten, Note: 2,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung
1.1 Warum dieses Thema?
1.2 Was soil mit dieser Arbeit erreicht werden?
1.3 Zur Strukturierung
1.4 Nicht naher bearbeitete Themen

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Definitorische Annaherung an den Begriff der „Behinderung"
2.2 ...und speziell der geistigen Behinderung
2.2.1 Ursachen von geistiger Behinderung
2.3 Der Begriff der Einstellung - Erklart am mehrdimensionalen Einstellungsmodell
2.4 Der Begriff der Sexualitat
2.4.1 Die „andere" Sexualitat?
2.4.2 Zur Selbstbefriedigung bei geistiger Behinderung - Risiken und Chancen der aktiven Unterstutzung fur hilflose Menschen
2.5 Selbstbestimmung von geistig behinderten Menschen
2.6 Rechtliche Grundlagen zur Partnerschaft und Sexualitat bei geistig behinderten Menschen
2.6.1 Die allgemeinen Grundrechte
2.6.2 Rechts- und Geschaftsfahigkeit von geistig behinderten Menschen
2.6.3 Juristische Aspekte zur EheschlieBung
2.6.4 Juristische Aspekte zum Kinderwunsch von geistig behinderten Menschen
2.6.5 Juristische Aspekte zur Sterilisation
2.6.6 Exkurs 1: Juristische Aspekte zum Schwangerschaftsabbruch
2.6.7 Exkurs 2: Juristische Aspekte zur Sexualassistenz

3. Praktischer Teil - Die Umfrage
3.1 Wer wird befragt? Was wird erfragt?
3.2 Wie wird befragt?
3.3 Zum Rucklauf
3.4 Wie wurden die Fragebogen ausgewertet?
3.5 Hypothesen zu dieser Arbeit

4. Auswertung der Fragebogen
4.1 Statistische Fragen (Fragen 1 bis 9)
4.2 Zufriedenheit mit der Arbeit (Fragen 11 und 12)
4.3 Aufbau der Gruppe (Fragen 13 bis 21)
4.3.1 Fragen 18 bis 21
4.4 Fragen zu Freundschaft, Partnerschaft und Ehe von geistigbehinderten Menschen (Fragen 22 bis 29)
4.5 Ursache von geistiger Behinderung (Frage 30) und weitere „Wissensfragen" zur Sexualitat geistigbehinderter Menschen (Fragen 31 und 32)
4.6 Fragen zur Aufklarung und Verhutung (Fragen 33 bis 37)
4.7 Toleranz gegenuber der Sexualitat von geistigbehinderten Menschen allgemein (Frage 38) und speziell zur Selbstbefriedigung (Fragen 39 bis 42)
4.8 Fragen zu Kinderwunsch von geistigbehinderten Menschen (Fragen 43 und 44) und zur Sterilisation (Frage 45)
4.9 Eigene Einstellung zur Sexualitat (Frage 46) und Vergleich der eigenen Einstellungen zur Sexualitat mit denen der Kollegen und der Einrichtung (Fragen 47 bis 49)

5. Schlussteil
5.1 Verifizierung bzw. Falsifizierung der aufgestellten Hypothesen
5.2 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Sexualitat ist normal. Sexualitat ist schon. Sexualitat ist lebenswichtig. Jeder Mensch nimmt fur sich das Recht in Anspruch, sich sexuell so auszuleben, wie er es will - Sexualitat als individuelles Grundrecht.

Sexualitat ist aber auch mehr als das, mehr als nur der bloBe Geschlechtsakt: Sie ist die treibende Kraft in unser aller Leben, Sexualitat formt unsere Personlichkeit, mit ihr auBern wir den Wunsch nach so elementaren Bedurfnissen wie Zartlichkeit, Lust und Gesellschaft.

Doch nicht jeder Mensch bekommt die Moglichkeit, sich sexuell so ausleben zu konnen, wie er es will. Zwar wird seit Ende der 60er Jahre zunehmend von einer Liberalisierung der Sexualitat gesprochen, doch gerade dem (geistig) behinderten Menschen, der Zeit seines Lebens von anderen Menschen mehr oder weniger abhangig ist, sind die Moglichkeiten der sexuellen Selbstbestimmung eingeschrankt bzw. verwehrt. Doch warum ist das so? Erklarungen dafur gibt es viele: Unwissenheit, Angst, mangelndes Vertrauen, gesellschaftliche & institutionelle Barrieren und Vorurteile. Man kann auch versuchen, dies mit einem Begriff zu erklaren: Fehlerhafte Einstellungen gegenuber behinderten Menschen - und zwar fehlerhaft verglichen mit den allgemeinen Einstellungen, die wir „normalen" Menschen gegenuber haben. Dazu einige Beispiele:

- gerade schwerer behinderte Menschen mussen sich den „Vorwurf" gefallen lassen, dass fur sie Sexualitat bei weitem nicht so bedeutend ist wie fur uns „normale Menschen". Somit besteht auch kein Sinn darin, ihre Sexualitat zu fordern oder sich zumindest mit ihr auseinanderzusetzen. Fremdbestimmung ist die logische Folge.
- die Hilflosigkeit und Unselbststandigkeit behinderter Eltern steht im krassen Widerspruch zu den Erwartungen, die man an „normale, gesunde" Eltern stellt. Es ist unvorstellbar, das „ewige Kind" (vgl. Hensle/Vernooij 2000, Seite 156f.) konnte erziehungsfahig sein.
- die Distanzlosigkeit behinderter Menschen anderen gegenuber wird oft als aggressive Wildheit bezeichnet, aber korrekt betrachtet haben insbesondere geistig behinderte Menschen oftmals nicht die Fahigkeit, ihre Zuneigung verbal auszudrucken.

Frei von fehlerhaften Einstellungen anderen Menschen gegenuber ist sicherlich niemand. Selbst Personen, die beruflich mit behinderten Menschen zu tun haben, sind keineswegs frei von Vorurteilen. Erst recht nicht bei solch einem immer noch heiklen Thema wie der Sexualitat bei geistig behinderten Menschen. Um diese Behauptung zu untersuchen, beschaftigt sich diese Arbeit speziell mit den Einstellungen, die MitarbeiterInnen in Behinderteneinrichtungen zu der Sexualitat ihrer geistig behinderten Betreuten haben.

1.1 Warum dieses Thema?

Obwohl ich meine Praxisphasen im Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf in Wahlwies ableiste, hat sich wahrend meines Studiums und zweier Praktikas mit geistig behinderten Menschen (zum einen in einer Schule mit geistig und mehrfach behinderten Kindern in Bautzen, zum anderen mit geistig behinderten Erwachsenen im Camphill Hermanus in Sudafrika) herauskristallisiert, dass mein bevorzugtes Arbeitsfeld die Arbeit mit behinderten Menschen ist und nach dem Studium auch sein wird. Begrundet durch mein uberaus positives „Behinderte- Menschen-Bild" beschaftige ich mich vorzugsweise mit den Problemen, die behinderte Menschen in unserer an Leistung und Wohlstand orientierten Gesellschaft haben. Die Entscheidung, dieses Thema zu bearbeiten, entsprang dem personlichen Verlangen, die Hintergrunde darzustellen und zu verstehen.

1.2 Was soil mit dieser Arbeit erreicht werden?

Eindeutig zu viel erwartet ware es, die Einstellungen gegenuber behinderten Menschen zum Thema Sexualitat durch diese Arbeit grundlegend verandern zu wollen, geschweige denn zu konnen (Vielleicht wird sich durch die Umfrage sogar herausstellen, dass dies zumindest im professionellen Sektor gar nicht mehr notig ist!?). Diese Erwartung ist schon deshalb ubertrieben, da die Umfrage aufgrund der relativ geringen Anzahl an befragten Personen nur bedingt als reprasentativ bezeichnet werden kann. Ein realistischeres Ziel ist es schon eher, wenn man durch die Befragung erreicht, dass dieses Thema in den befragten Einrichtungen neu bzw. erneut diskutiert wird. Zweifellos haben sich die Bedingungen fur behinderte Menschen in den letzten Jahrzehnten entschieden verbessert. Schlagworte wie Integration und Normalisierungsprinzip machen dies deutlich. Doch kann ein kritisches Hinterfragen der gegenwartigen Einstellungen zur Sexualitat geistig behinderter Menschen nicht falsch sein - auch im Hinblick auf die aufgestellten Thesen und die Untersuchungsergebnisse. Da jeder an der Umfrage teilgenommenen Einrichtung die Auswertung der Fragebogen zugeschickt wird, ist diese Auseinandersetzung mit diesem Thema zumindest nicht vollig unwahrscheinlich.

1.3 Zur Strukturierung

Im ersten Teil werden zunachst in komprimierter Form die theoretischen Grundlagen zum Thema behandelt. Dazu zahlen grundlegende Erlauterungen der Begriffe „Behinderung", „geistige Behinderung", „Einstellungen", „Sexualitat", „Selbstbestimmung" sowie der rechtlichen Grundlagen (u.a. Rechts- und Geschaftsfahigkeit, EheschlieBung, Sterilisation). Auf die entsprechenden Fragen im Fragebogen wird jeweils folgendermaBen verwiesen:

- Verweis Fragebogen: ...

Im zweiten Teil wird nach Darstellung des Aufbaus und der Durchfuhrung der Befragung eine Auswertung versucht. Die Ergebnisse werden - wenn moglich - mit den im theoretischen Teil dargestellten Fakten als auch mit anderen Fragen in Verbindung gebracht.

Im dritten Teil - dem Schlussteil - werden nach der Auseinandersetzung mit den aufgestellten Hypothesen die Ergebnisse der Umfrage zusammenfassend dargestellt.

1.4 Nicht naher bearbeitete Themen

Uber die hier dargestellten Themen hinaus hatten noch einige Themen mehr behandelt werden konnen, u.a.:

- Aufklarung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung
- Sexualerziehung von geistig behinderten Menschen
- (Sinnvolle) Verhutungsmethoden fur geistig behinderte Menschen

Hier mochte ich auf weitergehende Literatur verweisen (wie z.B. Ilse Achilles Ratgeber „Was macht ihr Sohn denn da?"), um sich mit diesen Themen vertraut zu machen.

2. Theoretische Grundlagen

2.1 Definitorische Annaherung an den Begriff der „Behinderung"...

„Eine Behinderung ist im Sinne des klassischen Krankheitsbegriffes eine irreversible Beeintrachtigung des Menschen als Folge eines vorausgegangenen Krankheitsprozesses oder einer angeborenen Schadigung" (Mattner 2000, 9). Nach dieser Definition liegt eine Behinderung also dann vor, wenn der betroffene Mensch infolge einer Erkrankung oder einer angeborenen Schadigung voraussichtlich dauerhaft physisch bzw. psychisch beeintrachtigt bzw. benachteiligt sein wird (vgl. ebd.). Das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) beschreibt Behinderung als

1) „eine nicht nur vorubergehende erhebliche Beeintrachtigung der Bewegungsfreiheit, die auf dem Fehlen oder auf Funktionsstorungen von GliedmaBen oder auf anderen Ursachen beruht,
2) Missbildungen, Entstellungen und Ruckgratverkrummungen, wenn die Behinderungen erheblich sind,
3) eine nicht nur vorubergehende erhebliche Beeintrachtigung der Seh-, Hor- und Sprachfahigkeit, eine erhebliche Beeintrachtigung der geistigen oder seelischen Krafte oder drohende Behinderungen dieser Art."

(BSHG §124 Abs. 4)

Zur Unterscheidung von Behinderungen sind folgende Begriffe ublich:

- Korperbehinderung
- Sinnesbehinderung
- geistige Behinderung
- Sprachbehinderung
- Lernbehinderung
- Verhaltensauffalligkeiten bzw. Verhaltensbehinderung
- Schwerst- bzw. Mehrfachbehinderung

Nach diesen Definitionen wird Behinderung als ein anhand spezifischer Symptome und Krankheitsmerkmale auffaBbares Objekt dargestellt, welches aber in keiner Weise den individuellen (und wesentlich komplexeren) Beeintrachtigungen und Benachteiligungen im gesellschaftlichen Leben des betroffenen Menschen gerecht wird. Im allgemeinen Verstandnis wird der geistigbehinderte Mensch einfach zum Geistigbehinderten und der blinde Mensch zum Blinden „degradiert" - verbunden mit Vorurteilen und Voreingenommenheit. Genauer betrachtet hat aber jede Art von Behinderung verschiedene Ursachen und vollkommen unterschiedliche Auswirkungen auf diesen Menschen.

Behinderungen haben also uber die physischen und psychischen Defizite hinaus weit mehr Beeintrachtigungen zur Folge. Die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates empfahl 1973, Behinderung so zu definieren:

„Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die in der sprachlichen Kommunikation oder in psychomotorischen Fahigkeiten so weit beeintrachtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist."

(Deutscher Bildungsrat, Empfehlungen der Bildungskommission 1973, 13; zit. in Mattner 2000, 11)

Die Resolution der Vereinten Nationen von 1975 schlagt folgende Definition vor:

„Eine Person ist behindert, wenn sie aufgrund einer angeborenen oder erworbenen Schadigung korperlicher oder geistiger Art nicht in der Lage ist, sich voll oder teilweise aus eigener Kraft wie ein Nichtbehinderter die entsprechende Stellung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft zu sichern."

(vgl. Mattner 2000, 10)

Diese beiden Definitionen lassen erkennen, dass eine korperliche oder geistige Behinderung i.d.R. auch eine gesellschaftliche Behinderung zur Folge hat, die keineswegs von den behinderten Menschen „selbstverschuldet" ist. In einer Gesellschaft, die Leistung und Engagement fordert und dafur Wohlstand, Sicherheit, Erfolg und Anerkennung verspricht, ist kein Platz fur „Kruppel, Blode und Asoziale" - also von der Norm abweichende Randgruppen. Der ohnehin geschadigte und beeintrachtigte Mensch wird zusatzlich behindert gemacht.

Haeberlin beschreibt Behinderung deshalb aus zwei verschiedenen Blickrichtungen:

„Behinderung als Beeintrachtigung eines Individuums bei der Ausubung von Tatigkeiten" und „Behinderung als Beeintrachtigung der Funktion geseiischaftiicherEinrichtungen durch storende Individuen"

(vgl. Mattner 2000, 11).

Behinderung ist also uber die physischen und psychischen Schadigungen hinaus auch immer als geschadigte Interaktion und Kommunikation zwischen behinderten Menschen und Nichtbehinderten zu sehen. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird vorgeschlagen, den Begriff „Behinderung" durch „Schadigung" (impairment) zu ersetzen, da der geschadigte Mensch erst durch gesellschaftliche Nachteile behindert wird (ebd.).

2.2 ...und speziell der geistigen Behinderung

Der Begriff der geistigen Behinderung ist ein relativ neuer Begriff, der in den 60er Jahren entstand, und durch die 1958 gegrundete Elternvereinigung „Lebenshilfe fur das geistig behinderte Kind" (heute: „Lebenshilfe fur geistig Behinderte e.V.") setzte er sich rasch durch (vgl. Hensle/Vernooij 2000, S. 132f.).

Geistige Behinderung loste damit die vorher ublichen Begriffe der Idiotie, Imbezibilitat und Debilitat ab, die unter dem Begriff des Schwachsinns (Oligophrenie) zusammengefasst wurden und anhand von Intelligenztests festgestellt wurde. Idiotie lag dabei bei einem Intelligenzquotienten von 0-19, Imbezibilitat bei einem IQ von 20-49 und Debilitat bei einem IQ von 50-69 vor. Hensle schreibt in diesem Zusammenhang: "Abgesehen davon, dass der Ausdruck 'Schwachsinn' sachlich nicht korrekt ist - es handelt sich ja nicht um einen Defekt der Sinne -, sind die Termini der psychiatrischen Klassifikation zum Teil mit so starken negativen Konnotationen behaftet, dass sie nur mehr als Diskriminierung aufgefasst werden konnen" (vgl. ebd.).

Der Brockhaus beschreibt die geistige Behinderung in einer neueren Definition wie folgt:

„Geistige Behinderung (Intelligenzminderung, Minderbegabung, Geistesschwache, veraltete Bezeichnung Oligophrenie, Schwachsinn): Verminderung der intellektuellen Fahigkeiten, der sprachlichen Entwicklung und der motorischen Fertigkeiten unterschiedlichen Grades mit der Einschrankung beziehungsweise Unfahigkeit zur selbststandigen, zweckmaBigen Lebensfuhrung. Damit verbunden sind die Begrenzung der Lebensbewaltigungstechniken, der sozialen Fertigkeiten und die Beeintrachtigung des schulischen Bildungsgangs."

(aus: Brockhaus Multimedial 2001, Stichwort „geistige Behinderung")

Aufgrund dieser eben beschriebenen Besonderheiten bei geistig behinderten Menschen werden sie oftmals selbst von professionellen Helfern nicht altersgemaB behandelt („das ewige Kind"), was haufig zu einer Beeintrachtigung ihrer alltaglichen und auch sexuellen Selbstbestimmung fuhrt.

2.2.1 Ursachen von geistiger Behinderung

In Hensle/Vernooij wird das von der AAMD (American Association for Mental Deficiency) vorgeschlagene Einteilungssystem der Ursachen geistiger Behinderung vorgestellt. Es soll hier nun zusammengefasst dargestellt werden:

» Infektionen und Vergiftungen, dazu zahlen Erkrankungen der Mutter wahrend der Schwangerschaft (u.a. Roteln und Syphilis), eine Virus- Encephalitis oder Meningitis » Traumata und physische Schadigungen, wie z.B. perinataler Sauerstoffmangel oder peri- bzw. postnatale mechanische Verletzungen

» Stoffwechsel und Ernahrungsstorungen, z.B. durch eine angeborene Galaktosamie (erhohter Galaktose-Spiegel aufgrund eines fehlenden Enzyms)

» Grobe, postnatale Hirnerkrankungen, z.B. durch einen Tumor

» Unbekannte pranatale Einflusse, wie z.B. Mikro- und Hydrocephalie

» Chromosomenabweichungen, u.a. Down-Syndrom (Trisomie-21), Turner- Syndrom

» Storungen wahrend der Schwangerschaft, dazu zahlen Fruhgeburt, Geburtsuntergewicht oder Uber-Tragung (d.h. Uberschreitung des Geburtstermins um mehr als 14 Tage)

» Geistige Behinderung im Zusammenhang mit psychiatrischen Storungen, u.a. fruhkindliche Schizophrenie oder Autismus

» Psychosoziale Benachteiligungen, wie z.B. Kaspar-Hauser-Syndrom („Verwilderungsfolge")

» Andere Ursachen, z.B. Schwermehrfachbehinderungen oder auch unklare Ursachen (in Hensle/Vernooij 2000, S. 136ff.)

Zur Erblichkeit einer Intelligenzminderung kann anhand der vorliegenden Literatur keine feste Stellung bezogen werden. Zumindest kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass geistigbehinderte Eltern immer geistigbehinderte Kinder auf die Welt bringen. Der Gegenbeweis zu dieser vorurteilsbeladenen Meinung soll durch eine Untersuchung von Brigitte Grimm (in Walter 2002, S. 299ff) angetreten werden. Ihre Untersuchung zeigt, dass von 31 Kindern mit zumindest einem geistigbehinderten Elternteil (19 der 31 Paare) 29 gesund auf die Welt kamen. 2 der Kinder hatten schwere Behinderungen, deren Ursache jedoch nicht klar ist.

- Verweis Fragebogen: Frage 30 (Ursache geistiger Behinderung), Frage 44 (Erblichkeit der Behinderung)

2.3 Der Begriff der Einstellung - Erklart am mehrdimensionalen Einstellungsmodell

Ob Einstellungen das individuelle Handeln eines Menschen beeinflussen, war und ist eine der zentralen Fragen der Einstellungsforschung. Einig ist man sich daruber, dass Einstellungen zwar der wichtigste, aber nicht der alleinige Faktor fur das Beeinflussen des Verhaltens sind (vgl. Hedderich/Hirsch, in: Geistige Behinderung 2/98).

Auch wenn die Vermutung nahe liegt, dass Fachkrafte der Behindertenarbeit im Durchschnitt gegenuber dem geistig behinderten Klientel positiver eingestellt sind als der durchschnittliche Normalburger, kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass sie ausschlieBlich positiv eingestellt sind.

„Einstellungen sind eine erlernte latente Reaktionsbereitschaft von zeitlicher Dauer gegenuber bestimmten Objekten oder Situationen in der kognitiven, affektiven und konativen Dimension." (ebd.)

Dies bedeutet im Einzelnen, dass

» Einstellungen in der Auseinandersetzung mit der Lebensumwelt erworben werden

» Einstellungen uber unterschiedliche Situationen und Zeitpunkte hinweg stabil sind

» Einstellungsobjekte alle differenzierbaren Aspekte der sozialen Umwelt des Menschen sein konnen (vgl. ebd.)

Dass Einstellungen die Gesamtheit allen Verhaltens gegenuber einem bestimmten Einstellungsobjekt beeinflussen, ist hierbei der Grundgedanke dieses mehrdimensionalen Ansatzes. Die drei angesprochenen Dimensionen sind dabei im Einzelnen:

» Kognitive Dimension: Sie bildet die Vorstellungen, Gedanken und MutmaBungen uber das Einstellungsobjekt. Was man von dem Einstellungsobjekt wahrnimmt und sich als Wissen oder Information von ihm aneignet, reprasentiert diese Dimension

» Affektive Dimension: Sie umfasst die gefuhlsmaBigen Reaktionen, die das Einstellungsobjekt hervorruft bzw. seine emotionale Bewertung

» Konative Dimension: Sie beinhaltet den verhaltens- und handlungssteuernden bzw. motivierenden Einfluss der Einstellung. Sie reprasentiert somit das Verhalten gegenuber dem Einstellungsobjekt. (ebd.)

Cloerkes (2001, S. 76) bezeichnet dabei - gerade was behinderte Menschen betrifft - die affektive Komponente (als Kern einer sozialen Einstellung) als die wichtigste Komponente.

Weiter geht man davon aus, dass diese drei beschriebenen Dimensionen in einer festen (konsistenten) Beziehung zueinander stehen (sog. Konsistenztheorem). Es geht davon aus, dass die Anderung einer Dimension eine gleichmaBige Anderung der anderen Dimensionen zur Folge hat (z.B.: Andern sich die Informationen, die man von einer bestimmten Person hat, so andern sich auch die Reaktionen und das Verhalten gegenuber dieser Person). Die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Dimensionen, die gegenseitige Einflussnahme der Einstellungen zueinander und die Ruckwirkung des Verhaltens auf diese sind somit die Faktoren, welche die Einstellungen bestimmen. „Dies entspricht auch der allgemeinen Vorstellung von der Einheit des Fuhlens, Denkens und Handelns" (Hedderich/Hirsch, in: „Geistige Behinderung" Heft 2/98).

Die Einstellungen der Betreuer in Behinderteneinrichtungen zu ihren geistig behinderten Betreuten ist dadurch folgendermaBen bestimmt:

» Kognitive Komponente: „Was weiB ich uber den Betreuten und seine Behinderung?"

» Affektive Komponente: „ Wie erlebe ich den Kontakt mit dem Betreuten?", „Wie nehme ich den geistig behinderten Menschen wahr?"

» Konative Komponente: „Wie handle ich mit dem Betreuten?"

(vgl. ebd.)

Doch wie sehen die Einstellungen behinderten Menschen gegenuber nun genau aus. Cloerkes (2001, S. 76ff) fasst dabei verschiedene Studien zusammen:

1. Die Art der Behinderung, sowie das sichtbare AusmaB und das AusmaB, wie gesellschaftlich hochbewertete Funktionen (Flexibilitat, Mobilitat, Intelligenz, usw.) beeintrachtigt werden, ist entscheidender Faktor zu den Einstellungen gegenuber dem behinderten Menschen. Dagegen scheint die Schwere einer Behinderung kein wesentlicher Einstellungsfaktor zu sein. Defizite im geistigen und psychischen Bereich werden weitaus ungunstiger bewertet als solche im physischen Bereich.

2. Abgesehen von den Variablen Geschlecht und Lebensalter scheinen andere demographische Merkmale (wie Schichtzugehorigkeit, Bildung, Wissen) nur einen geringen Einfluss auf die Einstellungen zu haben. Frauen und jungere Menschen scheinen Behinderte insgesamt eher zu akzeptieren als Manner und altere Menschen. Keinen Einfluss scheinen der Beruf, die ethnische Herkunft, der Wohnort und der Familienstand zu nehmen.

3. Der Einfluss von Personlichkeitsmerkmalen wie Angst, Aggressivitat und Autoritarismus wird unterschiedlich bewertet. Zwar kann die in der Literatur haufig vertretene Annahme, dass autoritare Personlichkeiten besonders ablehnend auf behinderte Menschen reagieren, nicht ohne weiteres bestatigt werden. Trotzdem ist Cloerkes uberzeugt, dass besonders „ich-schwache, angstliche, dogmatische (...) Personen tendenziell dazu neigen, behinderte (Menschen) eher abzulehnen als Personen ohne solche Eigenschaften".

4. Der Kontakt mit behinderten Menschen ist zwar ein wichtiger Einstellungsfaktor, bewirkt aber keinesfalls zwangslaufig positive Einstellungen, wie laut Cloerkes verschiedentlich behauptet wird.

Aus dem Genannten folgert Cloerkes, dass es abgesehen von der Art der Behinderung „kaum eindeutige Bestimmungsgrunde fur die Einstellungen zu Menschen mit Behinderungen" gibt (ebd.). Dies deutet seiner Meinung darauf hin, dass es sich um eine „bemerkenswert starre und sehr grundlegende Haltung" handelt.

Nun wird in den meisten Arbeiten der Behindertenforschung davon ausgegangen (dazu: Cloerkes 2001, 114ff), dass haufiger Kontakt mit behinderten Menschen positivere Einstellungen zur Folge hat. Cloerkes formuliert dazu zwei Thesen:

1. Personen, die uber Kontakte mit Behinderten verfugen, werden gunstigere Einstellungen gegenuber Behinderten zeigen, als Personen, die keine derartigen Kontakte haben oder hatten.

2. Je haufiger der Kontakt mit Behinderten bestanden hat, um so positiver wird die Einstellung des Betreffenden sein.

(Cloerkes 2001, S. 114)

Es ist jedoch nicht die Haufigkeit des Kontakts mit behinderten Menschen, die positive Einstellungen zur Folge hat, sondern seine Intensitat. Denn aus der allgemeinen Vorurteilsforschung (bezogen auf nichtbehinderte Menschen) weiB man schon seit langem, dass oberflachliche Kontakte an den Vorurteilen nichts andern und sie sogar eher verstarken. Doch auch die Intensitat ist an sich nicht entscheidend, sondern weitere wichtige Nebenbedingungen (wie z.B. relative Statusgleichheit, gewisse Belohnungserwartung aus der sozialen Beziehung oder die Verfolgung gemeinsamer wichtiger Aufgaben und Ziele) sind notwendig fur seine „emotionale Fundierung und seine Freiwilligkeit" (ebd.)!

2.4 Der Begriff der Sexualitat

„Der Begriff Sexualitat (von lateinisch sexusGeschlecht) beschreibt allgemein das Phanomen, dass Lebewesen in zwei Geschlechtern (mannlich, weiblich) vorkommen und sich geschlechtlich fortpflanzen. Sexualitat bezeichnet daruber hinaus beim Menschen auch die Gesamtheit aller LebensauBerungen, Empfindungen und Verhaltensweisen, die mit der Geschlechtlichkeit zusammenhangen [...]"

(aus: Brockhaus Multimedial 2001, Stichwort „Sexualitat")

Dies ist nur einer von vielen Erklarungsversuchen des Begriffs der „Sexualitat". Wissenschaftlich zum ersten Mal verwendet wurde er wohl von dem Botaniker August Henschel (1790-1856). Tatsache ist, dass sich der Begriff in seiner ursprunglichen Form ausschlieBlich auf die Fortpflanzungsfunktion bezog. Auch heute wird leider unter Sexualitat in erster Linie die genitale Sexualitat verstanden - wohl der Hauptgrund fur die Ablehnung und Unvereinbarkeit von Behinderung und Sexualitat. Tatsache ist auch, dass es unzahlige Definitionsversuche fur den eigentlich nicht definierbaren Begriff der Sexualitat gibt. Die amerikanische Sexualtherapeutin Offit hat versucht, die Vielfaltigkeit des Begriffes folgendermaBen darzustellen:

„Sexualitat ist das, was wir daraus machen. Eine teure oder billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdruckung), ein kurzweiliger Zeitvertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schonheit, ein idealer Zustand, das Bose oder das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form der Zartlichkeit, eine Art der Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnugen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung" (Offit 1979, S. 16; in: Walter 2002, S. 34f).

Dieser Erklarungsversuch macht deutlich, dass es keine einheitliche Definition dieses Begriffes geben kann! Man sollte sogar davon ausgehen, dass jeder Mensch Sexualitat anders beschreiben wurde.

Trotzdem versuchen Autoren immer wieder, den individuell so unterschiedlichen Begriff der Sexualitat zu verallgemeinern.

- Verweis Fragebogen: Frage 46 (Einstellung der Befragten zur Sexualitat), ferner Fragen 47-49 (Vergleich der Einstellungen zur Sexualitat mit Kollegen und Einrichtung)

2.4.1 Die „andere" Sexualitat?

Mit diesem Wissen um die individuelle Besonderheit der Sexualitat fur jeden einzelnen Menschen kann es also auch keine besondere Sexualitat bei geistig behinderten Menschen geben. In einer Broschure von „pro familia" heiBt es dazu:

„Menschen mit geistiger Behinderung sind ebenso verschieden und auch in ihrer Sexualitat so einmalig gepragt wie alle anderen Menschen. Den „typischen" Menschen mit geistiger Behinderung gibt es nicht, und auch zur Sexualitat von Menschen mit geistiger Behinderung kann nichts ausgesagt werden, was fur alle gleichermaBen zutrifft. Aufgrund der Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte steht lediglich eines fest: Die sexuelle Entwicklung ist fur Menschen mit geistiger Behinderung ebenso bedeutungsvoll wie fur jeden anderen Menschen."

(„Sexualitat und geistige Behinderung", pro familia 2001)

Voraussetzung ist jedoch, dass auch dem geistigbehinderten Menschen das Erlernen von Sexualitat ermoglicht wird. Doch gerade im Kennenlernen, Erfahren und Ausuben von Sexualitat wird der geistigbehinderte Mensch behindert.

Denn Sexualitat ist nicht nur angeboren. Insbesondere der Umgang mit der Sexualitat muss zum groBen Teil erlernt werden, um sie wirklich genieBen zu konnen. Legt man es also darauf an, so ist es kein Problem, einem Menschen das Kennenlernen und Erfahren von Sexualitat in seinen vielen verschiedenen Facetten mit einem anderen Menschen zu verwehren. Denn: Was er nicht weiB, das macht ihn auch nicht heiB! Das soll im Kapitel 2.6 durch Erlauterungen zum Begriff der „Selbstbestimmung" dargestellt werden.

- Verweis Fragebogen: Fragen 31 und 32 (Unterschied der Sexualitat zwischen geistig behinderten und „normalen" Menschen), ferner Fragen 33 bis 37 (Informieren der geistig behinderten Betreuten uber Sexualitat, speziell zu Aufklarung und Verhutung)

2.4.2 Zur Selbstbefriedigung bei geistiger Behinderung - Risiken und Chancen der aktiven Unterstutzung fur hilflose Menschen

Auch wenn es keine besondere Sexualitat bei geistig behinderte Menschen gibt, so haben sie trotzdem aufgrund ihres oft mangelhaftem Wissens mit besonderen Schwierigkeiten zu „kampfen":

„Tim geht, wenn er aus der Werkstatt nach Hause kommt, stets zunachst in sein Zimmer, legt sich bauchlings auf den Teppich und fangt an zu rutteln, zu stoBen, er macht beischlafahnliche Bewegungen. Mir ist klar, dass Tim sexuell erregt ist und sich befriedigen will, aber offensichtlich weiB er nicht, wie das geht. SchlieBlich bleibt er mit knallrotem Gesicht, atemlos, vollig verschwitzt erschopft liegen. Noch eine ganze Weile danach ist er schlecht gelaunt." (Bericht einer Mutter uber ihren 17 Jahre alten Sohn mit Down-Syndrom; aus: „Sexualitat und geistige Behinderung", pro familia 2001, S. 12)

Wie Tim sind viele geistig behinderte Menschen nicht in der Lage, sich erfolgreich selbst zu befriedigen. Sie brauchen Hilfe, um Selbstbefriedigung zu erlernen. Wird ihnen diese Hilfe verwehrt, so erleben sie statt Lust einfach nur Leid! (vgl. ebd., S. 13).

Doch ist eine aktive Anleitung zur Selbstbefriedigung bei naherer Betrachtung mit nicht unerheblichen Risiken verbunden - auf die z.B. der Artikel der „pro familia" uberraschenderweise keine Stellung nimmt! Auch in einem Interview von Ilse Achilles mit Joachim Walter wird dieses Thema nur kurz angeschnitten:

Achilles: „HeiBt das, dass Eltern und Betreuer unter Umstanden selbst mit Hand anlegen sollen, damit ein behinderter Mensch beim Masturbieren zum befriedigenden Erlebnis kommt?"

Walter: „Das heiBt es, wobei es aber immer auf den Einzelfall ankommt."

(Achilles 2002, S. 41)

Weitere wichtige Fragen bleiben jedoch ganzlich unbeantwortet. Deshalb mochte ich versuchen, die moglichen rechtlichen Risiken darzustellen:

Rechtliche Risiken bei der aktiven Anleitung zur Selbstbefriedigung bestehen insbesondere im Hinblick auf das Strafgesetzbuch (StGB). Im §174 StGB (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) heiBt es:

(1) Wer sexuelle Handlungen

1. an einer Person unter sechzehn Jahren, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder Betreuung in der Lebensfuhrung anvertraut ist,

2. an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung [...] anvertraut [...] ist, unter Missbrauch einer mit dem Erziehungsverhaltnis [...] verbundenen Abhangigkeit [...]

vornimmt [...], wird mit Freiheitsstrafe bis zu funf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) [...]

(3) Der Versuch ist strafbar.

Und im §174c StGB (Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhaltnisses) heiBt es:

(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung [...] zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist, unter Missbrauch des Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhaltnisses vornimmt [...], wird mit Freiheitsstrafe bis zu funf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) [...]

(3) Der Versuch ist strafbar.

Keineswegs ist die Anleitung zur Selbstbefriedigung mit sexuellem Missbrauch gleichzusetzen. Sie konnte aber als solche missverstanden werden. Man stelle sich nur mal folgende Situation vor:

Einem Jungen, der aufgrund seiner Behinderung vollig hilflos versucht, sich selbst zu befriedigen (und dabei hin und wieder beobachtet wurde), wird von seinem Betreuer gezeigt, wie man es „richtig macht". Zuhause wird der Sohn von seiner Mutter beim „Uben" uberrascht. Stolz verkundet er ihr: „Das hat mir der ... gezeigt!"

Je nachdem, wie es die Mutter versteht, konnen Probleme und Arger fur diesen Betreuer die Folge sein: Hat er ihn dabei angefasst? Oder hat er es meinem Sohn an sich selbst gezeigt? Wie kommt er uberhaupt dazu? Das darf er doch gar nicht!?

Die beste Moglichkeit, sich gegen solche unerwunschten Folgen und Missverstandnisse zu schutzen, ist sicherlich, die Kollegen und Eltern daruber zu informieren:

1. Schildern des Problems: „Ich habe beobachtet, dass X groBe Probleme hat, sich selbst zu befriedigen."
2. Notwendigkeit der Hilfe darlegen: „X ist danach jedes Mal vollig erschopft und wutend." „X tut sich dabei selbst weh, da er sich an irgendwelchen Kanten reibt." „X wurde es viel besser gehen, wenn er wusste, wie es funktioniert."
3. Wie soll die Hilfe aussehen: In der Broschure von pro familia wird ein fur Jungen einfaches, aber effektives Vorgehen gezeigt:

„An einem Wollhandschuh ist vom Mittelfinger die Kuppe aufgeschnitten. Der Handschuh wird angezogen. Der Mittelfinger ist das Glied, der vorn offene Wollfinger ist die Vorhaut. Man kann jetzt gut zeigen, wie die ,Vorhaut' vor- und zuruckgeschoben wird, dass man auf die Empfindungen achten muss und je nachdem fester und schneller, vor allem aber ausdauernd reiben muss, bis der Samenerguss erfolgt." (pro familia 2001, S. 13)

Bei Madchen gestaltet sich dieser „Prozess" schon etwas schwieriger, da ihnen geholfen werden muss, ihr Hauptlustorgan - die Klitoris - zu entdecken. pro familia empfiehlt dafur ein Aufklarungsbuch fur Jugendliche mit Schemazeichnungen der Geschlechtsorgane und einen Handspiegel, mit dem die Madchen ihre eigenen korperlichen Gegebenheiten mit denen im Buch vergleichen konnen. Dabei konnen sie ertasten, wie es sich anfuhlt und man kann ihnen dabei erklaren, wie das mit der Selbstbefriedigung funktioniert (vgl. ebd.).

Das „Handanlegen" sollte wenn moglich vermieden werden: Zum einen um dem Kind/Jugendlichen klarzumachen, dass dies nur er machen darf, zum anderen, um eben mogliche Konflikte mit dem Gesetz oder Eltern zu vermeiden.

4. Wer hilft? Wenn die Hilfe weder bei Betreuern noch bei Eltern auf Ablehnung stoBt, muss dafur noch ein „Freiwilliger" gefunden werden. Im Idealfall ein Elternteil (wie zum Beispiel der Vater, der seinem Sohn während des Badens beim Reinigen des Penis’ erklärt, dass dieser nicht nur zum Pinkeln da ist), ansonsten womöglich der vertraute Betreuer.

[...]

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Partnerschaft und Sexualität bei behinderten Menschen
Untertitel
Eine Befragung von MitarbeiterInnen von Behinderteneinrichtungen zu ihrem Umgang mit dem Sexualleben von Betreuten
Hochschule
Duale Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart, früher: Berufsakademie Stuttgart  (Sozialwesen)
Veranstaltung
Arbeitsfeldseminar
Note
2,5
Autor
Jahr
2003
Seiten
105
Katalognummer
V15823
ISBN (eBook)
9783638208376
Dateigröße
897 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Partnerschaft, Sexualität, Menschen, Eine, Befragung, MitarbeiterInnen, Behinderteneinrichtungen, Umgang, Einstellungen, Sexualleben, Betreuten, Arbeitsfeldseminar
Arbeit zitieren
Steffen Grundmann (Autor:in), 2003, Partnerschaft und Sexualität bei behinderten Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15823

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