Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Neorealismus nach Kenneth Waltz und John Mearsheimer
3. Neorealismus als Interpretationsansatz zum Verständnis der amerikanischen Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West Konfliktes
3.1 Back to the Future
3.2 The Emerging Structure of International Politics
3.3 The False Promise of International Institutions
3.4 Structural Realism after the Cold War
4. Kontroverse über den strukturellen Realismus
5... Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Auf die politikwissenschaftliche Teildisziplin der Internationalen Beziehungen (IB) hatte die Theorie des Neorealismus prägenden Einfluss. Dieser wird auch als struktureller Realismus bezeichnet, da die Struktur des internationalen Systems die Analyseebene darstellt. In der Tradition des klassischen Realismus, mit seinen prägenden Autoren wie Hans Morgenthau und Edward H. Carr stehend, greift der Neorealismus zwar einige Grundannahmen auf, geht jedoch in Fragen der Theoriebildung über diesen hinaus.1 Im Rahmen dieser Hausarbeit wird darauf eingegangen welche Rolle der Neorealismus als Interpretationsansatz amerikanischer Außenpolitik einnimmt. Auf den klassischen Realismus nach Hans Morgenthau bezugnehmend, werden die Grundlagen und Modifikationen der neorealistischen Theorie von Kenneth Waltz und die Ausdifferenzierung von John Mearsheimer erläutert. Im weiteren Verlauf wird anhand vier prägender Essays eben genannter Autoren, die allesamt zwischen 1990 und 2000 erschienen sind chronologisch gezeigt, wie durch den Neorealismus die Ordnung in Europa nach dem Ende des Ost-West Konfliktes zu erklären ist, welche globalen ordnungspolitischen Möglichkeiten daraus resultieren und wie die Rolle internationaler Organisationen in diesem Zusammenhang zu bewerten ist. Auf Basis einer bissigen Fundamentalkritik am liberalen Institutionalismus widerlegen Waltz und Mearsheimer die aus ihrer Sicht haltlose Feststellung, dass der Neorealismus nach dem Ende der Blockkonfrontation seine Erklärungskraft zu den Vorgängen innerhalb der internationalen Beziehungen eingebüßt hätte. Am Ende werden die Ergebnisse zusammengefasst und dahingehend überprüft, inwiefern der Neorealismus die Entwicklung der internationalen Beziehungen nach 1990 schlüssig erklären kann und welche Interpretationsschwächen dieser aufweist.
Der vor allem von der Zwischenkriegszeit und dem 2. Weltkrieg geprägte klassische Realismus sieht die Ursachen für Konflikte in der Natur des Menschen und wurde von Morgenthau in seinem Buch Politics among Nations vor allem in Abgrenzung zu ideologischen Denkschulen konzipiert. Sein Menschenbild beruht auf der Auffassung, dass es biologisch verwurzelte, zerstörerische Elemente menschlicher Existenz gibt. Da Menschen in ein kollektives System (einem Nationalstaat) eingebunden sind, überträgt sich das menschliche Handeln letztendlich auch auf das Handeln von Staaten. Diese wiederum befinden sich in einem internationalen System, dem ein zentrales Entscheidungs- und Sanktionsmonopol fehlt, sich also in einem anarchischen Zustand befindet. Entscheidendes Mittel zur Durchsetzung staatlicher Ziele ist demnach der Faktor Macht, da dieser die einzige Möglichkeit darstellt das Überleben des eigenen Staates im internationalen System der Anarchie zu sichern. Macht ist für Morgenthau die Grundlage jeder politischen Handlung, und somit der Schlüssel zum Verständnis internationaler Politik. Morgenthau schreibt in diesem Zusammenhang, dass sie (die Politik) darauf ausgerichtet sei entweder Macht zu erhalten, Macht zu vermehren oder Macht zu demonstrieren.2 Demnach ist der Hauptakteur in den internationalen Beziehungen der nach Macht strebende souveräne Nationalstaat, „der seine eigenen Interessen gegen die Interessen anderer Staaten durchzusetzen versucht“3. Nach Morgenthau gibt es allerdings auch ein Gegengewicht, dass das Machtstreben der staatlichen Akteure eindämmt, nämlich die Moral.4 Im Sinne einer realistischen Verantwortungsethik fordert er einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Macht, der mittels einer „[...] moralisch fundierten Diplomatie, dem Konzept von statesmanship [...]“5 erreicht wird. Voraussetzung hierfür ist allerdings stets die moralische und intellektuelle Befähigung des jeweiligen Diplomaten, der die aufgestellten Verhaltensregeln beachten müsse um Ausgleichseffekte zu erzielen. Für Morgenthau ist dies die einzige Möglichkeit Frieden und Stabilität im internationalen System zunächst zu erreichen und dann zu maximieren.6
2. Neorealismus nach Kenneth Waltz und John Mearsheimer
ln Anlehnung an den klassischen Realismus von Morgenthau, begründete Kenneth Waltz 1979 mit dem Buch Theory of International Politics den Neorealismus. Historisch betrachtet ist die Entstehung dieser Theorie eng mit dem OstWest Gegensatz und dem relativen ökonomischen und politischen Niedergang der USA verknüpft. Zwei zentrale Anliegen kennzeichnen den Neorealismus: Erstens versucht er zu erklären, warum sich das System der Bipolarität in Zeiten der hochgerüsteten Welt des Kalten Krieges trotz unterschiedlicher Phasen von Annäherung und Konfrontation als äußerst stabil erwiesen hat. Zweitens versucht er anhand des ökonomischen Wiedererstarkens Europas und Japans und dem Verlust der Hegemonialstellung der Amerikaner zu ergründen warum ebendiese verlorenging.7
Im Gegensatz zu Morgenthau ist die entscheidende Analyseebene nicht der Machttrieb des Menschen, sondern die Struktur des internationalen Systems, weswegen oft auch vom strukturellen Realismus die Rede ist. Hierbei werden Nationalstaaten als homogene Akteure betrachtet, die sich lediglich durch ihr Machtpotential unterscheiden. Subsystemische Faktoren wie z.B. die politische Verfasstheit oder die gesellschaftliche Struktur werden gänzlich ausgeblendet. Genau wie Morgenthau geht Waltz von einem anarchischen internationalen System aus, indem das Machtpotential der Akteure den wichtigsten Faktor darstellt um die eigene Sicherheit zu wahren. Hier grenzt sich Waltz vom traditionellen Realismus ab, indem er von der anarchischen Struktur auf eine, den Nationalstaaten aufgezwungene Struktur der Sicherheitsmaximierung in Form der Vergrößerung ihrer Machtpotentiale schließt, die letztendlich ihr eigenes Überle- ben sicherstellt. Demnach ist das internationale System ein self-help-system, indem jeder Staat für seine eigene Sicherheit sorgen muss. Im Gegensatz zu Morgenthau ist für Waltz der regulierende Faktor nicht nicht das normative moralische Handeln, sondern die Tendenz zum balancing innerhalb des Systems. Machtzuwächse eines Akteurs werden immer durch eine Balance ofPower Tendenz der anderen Akteure ausgeglichen indem diese versuchen ihr Machtpotential zu vergrößern. Aufgrund dieses balancing Reflexes und dem daraus folgenden Ergebnis, dass Machtzuwächse immer nur relativer Natur sind, da der Zuwachs sofort wieder ausgeglichen wird, sind staatliche Hegemonialstellung im Prinzip ausgeschlossen. Kooperation wird zwar als möglich erachtet, jedoch geschieht dies immer aus Gründen der Sicherheitsmaximierung und wird vom stärksten Akteur dominiert, indem die Durchsetzung der eigenen Interessen im Vordergrund steht.
John Mearsheimer geht einen Schritt weiter und differenziert den Neorealismus in eine offensive und eine defensive Ausrichtung weiter aus, wobei er selber zu den exponiertesten Vertretern der offensiven Variante gezählt wird und Waltz eher dem defensiven Lager zuzurechnen ist. Sein Fokus liegt dabei auf den mächtigen Staaten die versuchen ,,[...] to maximize security by maximizing their relative power [...]“8. Nach seiner Meinung sind Hegemonialstellungen dadurch sehr wohl erreichbar, da die Ressource Macht quantitativ nur begrenzt vorhanden ist und jeder Akteur im internationalen Systems versucht soviel wie möglich davon anzuhäufen. Das Handlungsmotiv dabei ist für jeden Akteur nicht in Abhängigkeit von anderen Staaten zu geraten und im Gegenzug möglichst viele andere Akteure in eine Abhängigkeit zu überführen. Demnach gestaltet sich der Kampf um diese begrenzte Ressource als eine Art Wettbewerb unter den Akteuren aus dem zwingend ein Hegemon hervorgehen muss. In Abgrenzung zum klassischen Realismus ist auch hierbei entscheidend, dass dieses Machtmaximierungsstreben nicht aus anthropologischen, sondern aus systemischen Faktoren abgeleitet wird. Die Machtpotentiale werden in erster Linie an der Stärke der Streitkräfte gemessen. Sie entscheidet darüber welcher Akteur in den unvermeidlichen Kriegen als Sieger hervorgeht und dass die Fähigkeit zur globalen Machtprojektion mit Hilfe der militärischen Stärke das entscheidende Mittel zur Machterhaltung bzw. -ausdehnung ist.9
3. Neorealismus als Interpretationsansatz zum
Verständnis der amerikanischen Außenpolitik nach dem Ende des Ost-West Konfliktes Im Folgenden werden die Kernaussagen der neorealistischen Theorie zur Interpretation amerikanischer Außenpolitik in einen praktischen Bezug gesetzt. Anhand von vier Beiträgen von Waltz und Mearsheimer wird exemplarisch herausgearbeitet wie der Neorealismus den Wegfall des Ost-West Konfliktes trotz seiner stabilisierenden Wirkung erklärt und bewertet, wie die Rolle von internationalen Organisationen einzuordnen ist und welche Rückschlüsse aufdie künftige Entwicklung des internationalen Systems zu ziehen sind.
Waltz ist der Ansicht, dass die USA ihre, aus dem Ende des Kalten Krieges resultierende Stellung als globale Hegemonialmacht mittelfristig beibehalten wird. Zwar wird an Stelle militärischer Machtprojektion zunehmend ein ökonomischer Konkurrenzkampf treten, bei dem vor allem Akteure wie Deutschland (respektive die EU), Japan und China eine größere Rolle als bisher einnehmen. Aufgrund der herausragenden Stellung die die USA in militärischen, ökonomischen sowie kulturellen Belangen weltweit einnehmen, wird die amerikanische Außenpolitik aber tendenziell versuchen diesen Status quo aufrechtzuerhalten, auch mit Hinblick auf die Gefahr eines „hegemonial overstrech“. Nach neorealistischer Interpretation ist demnach auch kaum von einer substantiellen Aufwertung bedeutender internationaler Organisationen (z.B. NATO oder IWF) im insti- tutionalistischen Sinne auszugehen, zumal diese seit jeher von den USA als vermeintlich multilaterales Forum zur Durchsetzung eigener Interessen instrumentalisiert wurden. Folglich interpretieren Neorealisten amerikanische Außenpolitik auch schon zu Zeiten des Kalten Krieges als unilateral im McDougall 'schen Sinne. Gemeint ist hierbei nicht einseitiges Vorgehen im klassischen Wortsinn, sondern einerseits die Vermeidung von Allianzen die man nicht dominiert und die die innerstaatliche Freiheit gefährden könnten, sowie andererseits die Offenhaltung aller Handlungsspielräume zur Verteidigung vitaler Interessen.
3.1 Back to the Future
In diesem 1990 erschienenen Artikel geht John Mearsheimer zunächst den Ursachen für die lange Phase des relativen Friedens in Europa zur Zeit des Kalten Krieges auf den Grund, anhand derer er anschließend mögliche Ordnungsvorstellungen für Europa für die Zeit nach dem Ende der Bipolarität ableitet.
Entgegen der zur damaligen Zeit weitverbreiteten Meinung, dass mit dem Ende des Kalten Krieges ,,[...] a new age of peace“10 11 beginnt, kommt Mearsheimer zu einem völlig anderen Ergebnis: „I argue that the prospects for major crisis and war in Europe are likely to increase markedly if the cold war ends [...]“12. Diese pessimistische Einschätzung resultiert aus dem Wegfall dreier Stabilitätsfaktoren, die in der Zeit zwischen 1945 und 1989 dafür gesorgt haben, dass sich die europäische Nachkriegsordnung als relativ stabil erwiesen hat. Erstens entwickelt sich das internationale System von einer Bi- hin zu einer Multipolarität. Aus neorealistischer Sicht sind bipolare - im Gegensatz zu multipolaren Systemen - der Idealzustand und gewissermaßen ein Garant für Stabilität, da sie aufgrund der Reduzierung auf zwei potentielle Gegner am Wenigsten anfällig für kriegerische Auseinandersetzungen sind. In einem bipolaren System ist eine Tendenz zum bandwagoning der minor powers um die dominanten Pole latent vorhanden, und somit entfällt die einem multipolaren System inhärente größere Wahrscheinlichkeit der Fehleinschätzung des Machtpotentials des jeweils anderen Akteurs. Ein weitererVorteil der Bipolarität liegt in der Tatsache begründet, dass weniger Machtungleichgewichte auftreten.
[...]
1 Vgl.: Schömig, Niklas: Neorealismus. In: Schieder, Siegfried; Spindler, Manuela (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen 2006, S. 65
2 Morgenthau, Hans J.: Macht und Frieden - Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Güthersloh 1963, S. 69 und S. 81
3 Jacobs, Andrea: Realismus. In: Schieder, Siegfried; Spindler, Manuela (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen 2006, S. 47
4 Vgl.: Morgenthau, Hans J.: The Commitments of Political Science. In: Ebd. (Hrsg.): The Decline of Democratic Politics, Chicago 1962, S. 130 ff.
5 Jacobs, Andrea: Realismus. In: Schieder, Siegfried; Spindler, Manuela (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen 2006, S. 53 (Hervorhebung im Original)
6 Vgl.: Morgenthau, Hans J.: Macht und Frieden - Grundlegung einer Theorie der internationalen Politik, Güthersloh 1963, S. 471 - 479
7 Vgl: Schörnig, Niklas: Neorealismus. In: Schieder, Siegfried; Spindler, Manuela (Hrsg.): Theorien der Internationalen Beziehungen, Opladen 2006, S. 66-67
8 Walt, Stephen: The Progressive Power of Realism. In: American Political Science Review 91:4, S. 932
9 Vgl.: Hellmann, Gunther: Manifeste und latente Macht. In: FAZ 12.01.2002, S. 9
10 McDougall, Walter A.: PromisedLand, Crusader State, Stamford 1997
11 Mearsheimer, John J.: Backto the Future. In: International Security 15:1 (1990), S. 6
12 Ebd.: S. 6