Heimatmelodie: Heimatbewusstsein und Welterfahrung


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2010

20 Seiten


Leseprobe


Warum verherrlicht der Mensch die Heimat? Warum zelebriert und besingt er sie in tausend Liedern, Gedichten, Filmen, literarischen Werken, Philosophien? Warum kämpft er für sie, verteidigt sie und opfert sich für sie? Warum treibt es ihn immer wieder dorthin zurück, nachdem er die ganze Welt erforscht hat? Der Soldat singt von ihr in fernen Breiten. Der Expatriate (beruflich ins Ausland Entsandte) träumt von ihr des Nachts, sucht in Paris oder Shanghai ein deutsches Lokal. Der Weltreisende, der einen Landsmann trifft, findet einen Gefährten. Selbst wenn ihn Lichtjahre vom Lebensentwurf des Gefährten trennen, die Heimat, die Sehnsucht, das Bedürfnis nach Heimat und die damit verbundene Identitätsbestätigung erbaut, überbrückt undverbindet so manche Differenzen.

Die weltweite Kommunikation via Internet kommt diesem Bedürfnis entgegen. Aber selbst da wird man nie satt von seiner Heimat, man sucht sie in Google Earth, sendet Emails, telefoniert via Internet, Satellitenschüssel-Wälder wuchern an Häuserfassaden und stellen die Verbindung zur nahen und zur fernen Heimat her. Das Ortsrecht kapituliert und beugt sich vor kulturellen Imperativen. Die Heimat ist,gleich einer Droge, die größte Abhängigkeit. Man mag ihr den Rücken kehren und ferne Gefilde, Länder, Meere, Weltmetropolen und was nicht alles durchforsten und durchkämmen. Man kehrt immer wieder zu ihr zurück. Je stärker das Pendel in die weite Welt hinausschwingt, desto unerbittlicher wird es irgendwann zurückschwingen.

Wie in der bekannten Geschichte der Gefangenen von Cayenne kehrt man immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück: Die Kriegsgefangenen in den Dschungeln von Cayenne, das bekannt ist für den Cayenne Pfeffer, haben versucht, aus dem Gefangenenlager zu fliehen – erfolgreich, aber sie sind regelmäßig zu ihrem Ausgangpunkt zurückgekehrt, weil der vermeintliche direkte Weg aus der Gefangenschaft sich jeweils als ein Kreis entpuppt hat, allein deshalb, weil der eine Schritt etwas länger ist als der andere, in der Regel der mit dem rechten Fuß. Deshalb empfahl man, bei jeder Richtungsentscheidung nach rechts zu gehen, um die durch die Schrittlänge bedingte Abweichung vom Fluchtweg in die Freiheit zu korrigieren. Ebenso sitzt die Heimat am längeren Hebel und zwingt uns gefühlsmäßig in ihre Richtung zurück, wobei es häufig vielschwieriger ist, die emotionale Richtung zu korrigieren als die physische. Ebenso wie die Kompassnadel zum Nordpol zeigt, so zeigt unser emotionaler Kompass immer Richtung Heimat. Je weiter wir uns von ihr entfernen, desto mehr, weil wir selbst diese Heimat sind. Und das, was zusammengehört, möchte sich vereinen.

Je mehr man gegen sich selbst arbeitet, je weiter man sich hinauswagt, desto größer ist die Erfordernis,zu sich selbst zurückzukehren. Kann man es nicht physisch tun, so kompensiert man dafür durch heimatkulturelle Artefakte, Gegenstände und Souvenirs, geistige, materielle, künstlerische, sprachliche oder durch die Verbindung mit Dingen in der Fremde, die die Heimat aufleben lassen wie Nahrung, Musik, Literatur und Landsleute etc. Alles was die Schwingung der Heimat erzeugt, gleich in welcher Form, ist ein Schritt in ihre Richtung und bestätigt die Identität, das Ich, das Selbst, das singuläre menschliche Wesen. Es ist zu oberflächlich, wenndieses Verhaltensmuster als Heimatromantik oder im Falle des Deutschseins als Deutschtümelei, als eine Gefühlsduselei qualifiziert und abgewertet wird, die sich nicht für Helden, Pioniere und Erforscher der Fremde ziemt.

Die Heimat ist Nahrung, ebenso wiedie physische, materielle Nahrung, ja mehr noch, sie ist ein Lebenselixier, wenn man in der Fremde schwächelt.Dann kann der Kontakt mit der Heimat, der direkte oder indirekte,physische, geistige oder virtuelle den durch die Fremde gebeugten wiederaufrichten, ihn wieder zum Herrn seines körperlichen Zeltes machen, das er an einem fernen Ort der Welt aufgeschlagen hat. Wenn man durch die Aufreibung im Überlebenskampf in fernen Breiten den heimatlichen Boden unter den Füßen verloren hat und den heimatlichen Himmel nicht mehr sehen kann, sowie die besondere Formation und Ondulierung der Landschaft mit seinen Jahreszeiten, Tönen, Farben und Gerüchen, die Art der Menschen, die Musik des Lebens zu spielen, ihr Sprache zu sprechen und ihre Lieder zu singen, dann kann das Evozierenund die Erinnerung an all diese Dinge den Menschen den Boden unter den Füßen, seinen aufrechten Gang wiederfinden und seinen Blick für den oberen Horizont wiedergewinnen lassen; die korrekte Ausrichtung zwischen Himmel und Erde und ihn somit wieder auf den Weg zurückführen, von dem er abzukommen drohte oder auf dem er gefallen ist. Diese innerlich-äußerliche Wiederaufrichtung, all das kann die Heimat bewirken. Sie ist die persönliche Norm und Richtschnur, der Nordpol auf dem Kompass des Lebensweges, obschon man in alle vier Himmelsrichtungen, in die Tiefen der Wälder und Ozeane, in die Höhen des Mount Everest oder extraterrestrische Räume aufbrechen mag. Sie kann bewirken, was man in der fernöstlichen Philosophie als „Ten Shin“ oder den Geist des Herzens des reinen Himmels bezeichnen könnte.

Mit der „Initialisierung“ des Heimatprogramms, um einen Begriff des digitalen-globalen Zeitalters zu wählen, kann man so manche Anomalie begradigen, die durch die geistigen und materiellen Räume fremder Breiten und Kulturen ausgelöst wird, besonders wenn große kulturelle Distanzen überbrückt werden müssen, die natürlich nicht zwangsläufig mit der geographischen Distanz einhergehen. Im myriadenfachen Interfacing von Kulturen und Heimaten in den Millionenmetropolen in Orient und Okzident, in der neuen und der alten Welt, kann es immer wieder zu Situationen kommen, die durch die eigene Waghalsigkeit oder durch Dritte absichtlich oder unabsichtlich ausgelöst werden, die eine Entstörung durch die Melodie der Heimat erfordern. Sie kann den Schmutz und Staub der Fremde von den Füßen abwaschen, dem müden Wandersmann Mut und Vertrauen einflößen, dadurch dass der charakteristische Grundton der heimatlichen Melodie des Lebens wiedergefunden und angestimmt wird, wodurch man für sich selbst und fremdheimatliche Mitmenschen wieder prognostizierbarer wird. Dieser ermöglicht wieder ein synergetischeres und einvernehmlicheres Mitwirken im Konzert der vielen Heimaten, Völker und Kulturen der Welt.

Macht und Magie der Heimat sind kein Fetisch, sondern ein alchimistischer Zaubertrank, der das wahre Gold des Reisenden verkörpert, ein geheimer, impliziter Code, den nur der Mensch selbst kennt, denn jeder hat eine einzigartige Heimat, auch wenn er sie mit anderen im mancher Hinsicht teilt. Es ist der Code für eine Bewusstseinsdimension, einen geistigen Raum, den nur er kennt und der nur ihm gehört und in dem er immer Zuflucht nehmen und finden kann, ob er im Gefängnis sitzt, ans Bett gefesselt ist oder Erfolge ihn ins Taumeln bringen, Umstände ihn aus dem Lot bringen und aus der Bahn werfen. Sie ist der Stein der Weisen der Reisenden, ein jederzeit verfügbarer Auslöser eines Schleudersitzes, wenn sich ein existenzieller „Crash“ abzeichnet. Allein deshalb, weil sie der Weg zurück zu einem selbst weist, gleich in welchem Labyrinth man sich verirrt haben mag. Sie ist der Weg zurück zu den konstitutiven Ausgangskoordinaten, zum Grundton der Lebensmelodie, auf der man wieder aufbauen kann.

Die Heimat kann, je nach Umfeldbedingungen, verschiedene Gestalt annehmen. Für die Insassen der Konzentrationslager war es zum Beispiel die Dichtung, mit der die Gefangenen aufgewachsen sind und die die Macht und Kraft der Heimat auslösten. In dem Buch "La Lumière Retrouvée", einer Autobiographie von Jacques Lusseyran, die mir eine mittlerweile verstorbenenDame, die ich hin und wieder zu Gesprächen während meiner Studienzeit in Paris traf, gab, schildert der Autor die lebenserhaltend wirkende Funktion der Dichtung, die Kraft und Mut zum Weiterleben –und im Falle des Autors Mut zum Überleben verlieh, sodass der nach der Befreiung das erwähnte Buch schreiben konnte – in ausweglos erscheinenden Situationen verlieh und Verzweifelte sogar im Angesicht des Todes wiederaufrichten konnte.

Erkennt, versteht und fühlt man, wieviel die Heimat für einem selbst bedeutet, so versteht man auch, warum man so verletzlich ist in Bezug auf seine Heimat und man versteht auch die Situation von Menschen anderer Länder, Kulturen, Rassen, Sprachen…und Heimaten. Man mag die Heimat vergessen oder vor ihr fliehen, doch manche Situation in der Fremde zwingt uns zumindest geistig in ihren Bann zurück, sei es durch eigenes Bedürfnis oder Zwang oder auch durch die Projektionen kultureller Kolonisierung durch Menschenanderer Kulturen, die uns nolens volens mit unserer nationalkulturellen Heimat identifizieren und in der entsprechenden Schublade in ihrem Gemüt kategorisieren. Dann steht man stellvertretend für alles Gute und Böse, das von der eigenen nationalkulturellen Heimat ausgegangen ist und man wird für das eine bewundert und für das andere verachtet.

Fremde Stereotypen von einem können subtile Transfers auslösen, die uns in die Bahnen und Verhaltensmuster der jeweiligen Stereotype drängen und somit einem subliminalen Transfer von Erwartungen in Bezug auf Denk-, Seins- und Verhaltensweisen gleichkommen. Wenn der Brite der Überzeugung ist, dass die Deutschen strukturiert sind, so wird er dasselbe von dem jeweiligen Repräsentanten der Kultur erwarten und bei Nichterfüllung dieser Erwartung äußerst verblüfft sein. Er wird uns wenig Spielraum lassen, unsere ureigene Kultur, die singulär ist, zu inszenieren und zum Ausdruck zu bringen. Und wenn der italienische Staatspräsident Berlusconi den deutschen SPD-Europaabgeordneten Schmidt in seiner Rede im Europaparlament geistig in der Nähe eines KZ-Wächters rückte, dann muss ich, der ich weder SPD-Mitglied bin, noch sonst viel außer dem deutschen Personalausweis mit diesem Individuum gemeinsam habe, für die vermeintlichen KZ-Wächter Charakter dieses Mannes am Pranger stehen. Das ist mir an der Universität Cambridge vor einigen Jahren passiert und als „Coffee or Tea“ mit Snacks in der Pause von einem Kellner angeboten wurden, habe ich mich demonstrativ jeweils für Tea und indische Samosas entschieden, während andere eher westliche Kaffeegetränke und kontinentale Snacks wählten. Und während ich meinenenglischen Tee genoss, hörte ich eine Gruppe italienischer Kommilitonen von führenden italienischen Konzernen über "I tedesci " (diese Deutschen) lamentieren. Ich war als einziger Deutscher ein willkommener Fang für ihr kulturelles Schubladendenken, das ihnen letztendlich gestattete, ihre eigene Heimat und kulturelle Identität durch eine negative Bezugnahme auf andere zu unterstreichen und ihr zu huldigen.

Kurz, da braucht man ein sehr starkes Heimatprogramm, eine mächtige Melodie, um seine Identität zu intonieren, seine eigene Musik zu spielen. Die hat man ja immer abrufbereit gespeichert. Man trägt sie mit sich herum, ob man es will oder nicht. Andere hören diese Melodie aber oft nicht und wollen ihre eigenen Kompositionen in Bezug auf unser eines Heimat zusammenstellen und inszenieren, mit den entsprechenden Erwartungen an einem und zur Erfüllung und Betätigung ihrer selbst.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Heimatmelodie: Heimatbewusstsein und Welterfahrung
Veranstaltung
Interkulturelles Management
Autor
Jahr
2010
Seiten
20
Katalognummer
V159750
ISBN (eBook)
9783640787029
ISBN (Buch)
9783640786909
Dateigröße
501 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
mit fachenglischen Komponenten des interkulturellen Managements
Schlagworte
interkulturelles Management, transkulturelles Management, internationales Diversitätsmanagement, intercultural management, transcultural management, international diversity management
Arbeit zitieren
D.E.A./UNIV. PARIS I Gebhard Deissler (Autor:in), 2010, Heimatmelodie: Heimatbewusstsein und Welterfahrung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159750

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