Elternbildungsprogramme als Mittel zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz

Verdeutlicht am Beispiel zweier ausgewählter Elternbildungsprogramme


Mémoire (de fin d'études), 2010

123 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Wandel der Familie
2.1 Geschichte der Familie
2.2 Veranderungen familienbezogener Werte
2.3 Veranderungen auBerer Familienformen
2.4 Veranderungen im Lebensverlauf
2.4.1 Daten zu Geburten und Todesfallen
2.4.2 Daten zu EheschlieBungen und Ehescheidungen
2.5 Veranderte Geschlechterrollen
2.6 Veranderungen in den Erziehungszielen und —leitbildern

3 Elternbildung - geschichtlicher Uberblick und aktueller Stellenwert
3.1 Begriffliche Bestimmung
3.2 Historische Grundlagen
3.3 Rechtliche Rahmenbedingungen
3.4 Formen
3.5 Ziele, Aufgaben und Anforderungen
3.5.1 Erziehungskompetenz
3.5.2 Erziehungsunsicherheit
3.5.3 Notwendige Inhalte
3.6 Methoden und Arbeitsansatze
3.7 Nutzer und Nutzermotive
3.8 Ausblick

4 Elternbildungsprogramme im Vergleich
4.1 Konzeptionelle Grundlagen
4.1.1 Starke Eltern - Starke Kinder
4.1.2 Triple P
4.2 Ziele
4.2.1 Starke Eltern - Starke Kinder
4.2.2 Triple P
4.3 Inhalte und Methoden
4.3.1 Starke Eltern - Starke Kinder
4.3.2 Triple P
4.4 Evaluation
4.4.1 Starke Eltern-Starke Kinder
4.4.2 Triple P
4.5 vergleichendes Resumee

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

„Eltern lieBen Kind verhungern!“. „Kind von Mutter in Badewanne ertrankt!“. „Junge jahrelang vom Vater misshandelt!“. Diese Schlagzeilen sind in den letzten Jahren leider keine Seltenheit mehr - doch warum? Wie kommt es, dass immer mehr Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder scheinbar uberfordert sind? Welche Moglichkeiten gibt es, um diese grausamen Taten zu verhin- dern? Diese Fragen beschaftigen mich, wenn ich immer wieder von solch schrecklichen Tragodien lesen muss. Fest steht: Die Uberforderung vieler Eltern hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Oftmals stehen sie ihren Kindern hilflos, unsicher und ratlos gegenuber. Auch Fernsehforma- te wie die „Super-Nanny“ und der wachsende Markt an Elternzeitschriften und Erziehungsratgebern verdeutlichen, dass es auf Seiten der Eltern ein groBes Interesse an Hilfestellung in Fragen der Erziehung gibt. Kurz gesagt: Elternbildung hat Konjunktur.

Immer wieder kommt daher der Ruf nach einem verpflichtenden Elternkurs, einem Elternzertifikat, fur alle Eltern auf. Denn Eltern ist laut unserer Verfas- sung die Erziehung ihrer Kinder anvertraut. Die Befahigung zur Erziehung soll demnach automatisch mit dem biologischen Elternwerden in Kraft treten (vgl. Strunk 1976, S. 7). Doch dies scheint angesichts solch schrecklicher Schlagzeilen nicht der Fall zu sein. Dennoch ist der „Elternberuf“ einer der wenigen Bereiche, fur die eine vorausgehende Qualifikation weder als not- wendig noch als erforderlich angesehen wird (vgl. Pettinger&Rollik 2005, S. 10). „Es gibt wohl kaum einen ,Beruf‘ fur den so fahrlassig wenig Aus-, Weiter- und Fortbildung in Anspruch genommen wird wie fur die auBerst ver- antwortungsvollen Aufgaben der Elternschaft und Erziehung“ (Tschope- Scheffler 2006a, S. 9). „Dies verwundert um so mehr, wenn man bedenkt, dass rund ein Drittel aller Ehen scheitert, dass viele Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder uberfordert sowie durch die Vielzahl von widerspruchlichen Er- ziehungszielen und -theorien verunsichert sind und dass viele Kinder in ihren Familien Verhaltensauffalligkeiten entwickeln" (Textor 2001, S. 1).

Der Wissenschaftliche Beirat fur Familienfragen halt es daher fur dringend erforderlich, dass „ [...] jede Person, die Kinder erzieht, ihre eigene Erfahrung des fruhen Kind- Seins und Erzogen-worden-Seins auf eine neue Stufe der Reflexion stellt und sie moglichst schon als junger Mensch vor der Elternschaft - mit dem relevan- ten Wissen uber Entwicklung und Erziehung von Kindern in geeigneter Form vertraut gemacht wird und sich mit diesem Wissen auseinander setzen kann“ (Wissenschaftlicher Beirat fGr Familienfragen 2005, S. 20; Auslassun- gen: N.D.).

Denn eines ist klar: Die Familie ist der primare Ort der Sozialisation. Doch die sieht sich seit Beginn der Industrialisierung und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Veranderungen mit enormen Anforderungen konfrontiert. So haben sich beispielsweise die Rollenerwartungen an Mutter durch deren gestiegene Berufstatigkeit gewandelt. Sichtbar sind die demografischen Ver­anderungen auch an dem Bedeutungsruckgang der Ehe und der damit ein­hergehenden Entkoppelung von Ehe und Elternschaft. Auch der Wandel von Erziehungszielen und -praktiken und die gestiegenen erzieherischen Anfor­derungen fuhren oftmals zu einer groBen Gberforderung und Verunsicherung der Eltern. Haufig fuhren die steigenden Sozialisationsaufgaben auch dazu, dass sich die Eltern selbst noch zusatzlich unter Druck setzen - was die Ver­unsicherung steigert und zu einem gestiegenen Informationsbedurfnis vieler Eltern beitragt. „Sie [die Verunsicherung; N.D.] wird noch dadurch verstarkt, daB die heute erziehenden Eltern selbst nach Mustern erzogen wurden, die nicht nur objektiv unzulanglich sind, sondern auch immer mehr als solche empfunden werden“ (Strunk 1976, S. 13; Einfugung: N.D.). Dies belegen auch die stetig wachsenden Zahlen von Konsultationen der Erziehungsbera- tung: Diese sind seit 1991 auf 268.000 im Jahr 2004 angestiegenen. Auch die Nutzung des Elterntelefons hat sich mehr als verdreifacht - von 3.000 Gesprachen im Jahr 1999 auf 10.000 im Jahr 2003 (vgl. Fuhrer 2005b, S. 231). Die Zahlen verdeutlichen, dass die Nachfrage nach qualifizierter Be- gleitung und Beratung von Ehen, Partnerschaften und Familien standig steigt (vgl. Pettinger&Rollik 2005, S. 22).

„All diese Informationsquellen fuhren zu der Erkenntnis, daB die Familie ge- genwartig ihren Aufgaben nur unzulanglich und auch dies nur mit Muhe ge- recht zu werden vermag. Wesentliche Ursache dafur sind die Isolierung der Kleinfamilie, die damit verbundene Privatisierung der Erziehung und des fami- lialen Zusammenlebens, sowie die Polarisierung von Familie und Offentlich- keit, von privaten und offentlichen Normen und Verhaltensweisen uberhaupt“ (Strunk 1976, S. 9).

In Anbetracht der entstandenen Vielfalt an alternativen Lebensformen und der damit einhergehenden Erziehungsunsicherheit vieler Eltern soll im ersten Kapitel dieser Arbeit betrachtet werden, wie sich die Familie im Verlauf der Geschichte verandert hat und welchen Stellenwert sie heute in der Gesell- schaft einnimmt. Zur Beantwortung werden vorrangig verschiedenste de- moskopische Untersuchungsergebnisse sowie statistische Angaben heran- gezogen.

Im darauf folgenden Kapitel beschaftige ich mich mit dem historischen und dem aktuellen Stellenwert der Elternbildung. Denn die ist immer mehr gefor- dert, Eltern zu unterstutzen - insbesondere angesichts der zunehmenden Verbreitung psychischer Storungen bei Kindern und Jugendlichen. In Anbe­tracht der Tatsache, dass Kinder ein Recht auf Erziehung haben, Eltern die Erziehungsverantwortung ubernehmen sollen und der Staat seine Fursorge- pflicht wahrnehmen muss, ist es im Interesse des Staates und damit des All- gemeinwohls, alle Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe angemessen zu unter­stutzen, sowie Wege fur eine gewaltfreie Erziehung aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang sind Elterntrainings eine verbreitete MaRnahme zur Star- kung der elterlichen Erziehungskompetenz.

Schon seit geraumer Zeit gibt es Anzeichen dafur, dass politisch Verantwort- liche, staatliche und nichtstaatliche Trager der Kinder- und Jugendhilfe und Familienverbande sich engagieren und verpflichtet fuhlen, auf die schwin- dende Erziehungskompetenz der Eltern zu reagieren. So hat sich die Ju- gendministerkonferenz 2003 fur die Starkung der Erziehungskompetenz und den Stellenwert der Elternbildung ausgesprochen. Des Weiteren wurde der Wissenschaftliche Beirat fur Familienfragen damit beauftragt, ein Gutachten zum Thema „Familiale Erziehungskompetenzen“ zu erstellen. Zudem fordert das Bundesfamilienministerium als Instrument der medialen Elternbildung ein Online-Familienhandbuch zur Starkung der elterlichen Erziehungskompe­tenz. Ferner wird in politischen Kreisen immer wieder uber eine Elternbil- dungspflicht diskutiert. Viele Politiker und Wissenschaftler fordern die Aus- zahlung des Kindergeldes an den Besuch von Elternbildungskursen zu knup- fen (vgl. Wahl&Hees 2007, S. 11). All diese Beispiele belegen, dass die MaRnahmen im Bereich der Elternbildung in den letzten Jahren sehr bedeut- sam geworden sind. Auch die Heterogenitat und Vielfaltigkeit der Elternbil- dungslandschaft macht dies deutlich.

„Die aktuelle Landschaft der Elternbildung erstreckt sich von standardisierten Konzepten mit klarer Programmstruktur uber das Setting der Gruppenarbeit (sowohl mit Eltern als auch mit Eltern und Kindern) bis hin zu Ansatzen mit ei- ner hohen Mitbeteiligung, in denen Eltern mit ihren jeweiligen Fahigkeiten in Kindertageseinrichtungen, Schulen oder in die Stadtteil(kultur)arbeit einbezo- gen werden“ (Tschope-Scheffler 2006e, S. 177; Hervorheb. im Original).

Die Angebote haben ihren Schwerpunkt in den Bereichen Informationsver- mittlung, Erweiterung von Handlungs- und Erfahrungsoptionen, Selbstreflexi- on und Selbsterfahrung und dem Aufbau und der Nutzung von Netzwerk- strukturen. Die Teilnahme an diesen Angeboten setzt jedoch die Bereitschaft zum bewussten Lernen voraus. Doch Lernen kann haufig nur dann funktio- nieren, wenn die intrinsische Motivation und das Interesse an den Lerninhal- ten vorhanden sind. Dies fuhrt dazu, dass haufig gerade die Zielgruppen, die die Angebote am notigsten brauchten, nicht an diesen teilnehmen.

Einen groBen Bereich der Elternbildungsangebote decken zurzeit Elternkurse ab. SchwerpunktmaBig werden mit Elternkursen instrumentelle Kompetenzen und Lerninhalte mit hoher Alltags- und Lebensrelevanz vermittelt - sowie eine Erweiterung des Handlungsrepertoires im Umgang mit Konfliktsituationen eingeubt, die es dem Einzelnen erlauben, die zunehmende Komplexitat des Lebens und der Alltagsanforderungen in einer pluralen Gesellschaft zu er- kennen und Strategien fur ihre Bewaltigung zu finden. Zu den bundesweit am haufigsten angebotenen Elternkursen zahlen u.a. „Starke Eltern - Starke Kin­der" und „Triple P“. Ich habe mich daher dafur entschieden, mich im Rahmen dieser Arbeit mit den o.g. Elternkursprogrammen zu beschaftigen. Denn zum einen gehoren die beiden ausgewahlten Kurse zu den Angeboten, die durch vielfaltige Publikationen in der Offentlichkeit sowohl einen sehr hohen Be- kanntheitsgrad haben, als auch in ihrer Anwendung bundesweit eine hohe Zustimmung erfahren. Zum anderen werden gerade in diesen beiden Kursen sehr unterschiedliche, teilweise sogar gegensatzliche Positionen, Menschen- bilder und Methoden vertreten. Hinzukommt, dass beide Kurse sehr gut eva- luiert worden sind, so dass ich im Rahmen eines systematischen Vergleichs die Wirksamkeit und den Nutzen der Programme sehr gut herausstellen kann. Dadurch soll deutlich werden, fur welche Eltern diese Kurse eine ge- eignete Unterstutzung zur Starkung der Erziehungskompetenz darstellen konnen.

2 Wandel der Familie

2.1 Geschichte der Familie

Familiensoziologen beschaftigen sich schon seit geraumer Zeit mit der histo- rischen Entwicklung von Ehe und Familie. Lange haben sie der Familie einen Funktionsverlust attestiert. Denn noch bis Mitte der 1970er Jahre haben die fuhrenden Familienforscher geglaubt, dass in der vorindustriellen Zeit die Drei-Generationen-Familie die dominierende Familienform gewesen sei. Doch ein Ruckblick auf die Familienformen der letzten Jahrhunderte belehrt uns eines besseren: Die Familiensoziologie spricht nun nicht mehr von einem Funktionsverlust, sondern von einem Funktionswandel. Um die These des Funktionsverlustes entkraften zu konnen, bedarf es eines zeitgeschichtlichen Abrisses der Familie und der verschiedenen epochalen Familienformen. Ich kann in dieser Arbeit aufgrund des begrenzten Umgangs nicht die gesamtge- schichtliche Entwicklung der Familie darstellen. Um die These des Funkti­onsverlustes zu entkraften, reicht es jedoch aus, als VergleichsmaBstab die Familienformen der vorindustriellen Zeit heranzuziehen.

Vor der Industrialisierung gab es entgegen der lange verbreiteten Meinung eine Vielzahl von Lebensformen. „Zu allen Zeiten war nichteheliches Zu- sammenleben ein bekanntes Phanomen. Unterschiede bestanden jedoch hinsichtlich des Grades der Akzeptanz in der jeweiligen Gesellschaft und der Funktion dieser Lebensform uber die Zeiten hinweg“ (Alt 2001, S. 58). Da- mals existierten nicht-eheliche Lebensgemeinschaften vor allem aufgrund mangelnder okonomischer Voraussetzungen; heute existieren sie aufgrund gestiegener Scheidungsraten oder basieren auf einer bewussten freiwilligen Entscheidung.

Dennoch war man lange davon ausgegangen, dass die GroBfamilie, die auch als „ganzes Haus“ bezeichnet wird, die dominierende Lebensform der vorin­dustriellen Zeit gewesen ist. Kennzeichen des „ganzen Hauses“ ist die ge- meinsame Produktion von Gutern, die Versorgung von Alten und Kranken und der Einbezug des Gesindes in den Lebenszusammenhang - also eine Vereinigung von Produktion und Familienleben (vgl. Brunner 1968, S. 104f.). „Der Begriff des ganzen Hauses wurde auch deshalb gewahlt, weil das ,Haus‘ gegenuber den Bewohnern das bestandigere war: seine Bewoh- ner wechselten haufig und z.T. fur heutige Verhaltnisse relativ schnell durch Tod, Verheiratung, Geburten, okonomische Krisen, Kriege, Lehre, Wander- schaft etc.“ (Barabas&Erler 2002, S. 26). Bis zum 18. Jahrhundert war die Familie gleichbedeutend mit der Hausgemeinschaft. Leben und Arbeiten waren untrennbar miteinander verbunden. Alle Familienmitglieder wurden als Arbeitskrafte angesehen und unterstanden der patriarchalisch-autoritaren Herrschaft des Hausvaters „Die Familien in der vorindustriellen Zeit waren Haushaltsfamilien, d.h.im Mittelpunkt stand der ,Haushalt‘; sie unterschieden sich - entsprechend ihrer okonomischen Lage - in der GroRe und in der Zu- sammensetzung der Haushaltsmitglieder“ (Nave-Herz 2006, S. 40). Haufig gehorten zum „ganzen Haus“ neben den Familienmitgliedern auch familien- fremde Personen, wie das Gesinde. Kinder hatten in der vorindustriellen Zeit eine ganze andere Bedeutung als heute: Sie wurden als Arbeitskraft ange­sehen und verlieRen meist schon mit zwolf Jahren das elterliche Haus, um an einem anderen Hof zu arbeiten. Die Familienbeziehungen in dieser Zeit waren daher eher funktional als emotional und liebevoll.

Trotz allem war die GroRfamilie nur eine von vielen familialen Lebensformen. „Faktisch alle heute auftretenden Lebensformen haben schon in dieser histo- rischen Phase existiert; die einzelnen Strukturelemente ,neuer‘ Lebensfor­men sind also nicht neu“ (Peuckert 2008, S. 17). Die GroRfamilie war nur dort die dominierende Familienform, wo die okonomischen Voraussetzungen vorhanden waren: Dies war zumeist nur bei Bauern oder Adligen der Fall. In den unterstandischen Schichten, die nicht uber die finanziellen Moglichkeiten verfugten, war die Kernfamilie die vorherrschende Lebensform. „Zur Fehlein- schatzung der vorindustriellen Lebensform hat sicherlich auch die vermeint- lich groRe Kinderzahl in den Familien beigetragen“ (Barabas&Erler 2002, S. 29). Geburten- und Kinderzahlen divergierten zur damaligen Zeit sehr stark. Die hohe Kindersterblichkeit und die geringe Lebenserwartung fuhrten dazu, dass es nur selten zu einem Zusammenleben von drei Generationen kam. Denn einerseits hatte die hohe Kindersterblichkeit einen groRen Alters- abstand zwischen den Geschwistern zur Folge, so dass „[...] bei Geburt des jungsten Kindes die altesten nicht mehr im Hause lebten und die jungsten alsbald einen Elternteil durch Tod verloren“ (Barabas&Erler 2002, S. 29; Auslassungen: N.D.). Andererseits war es durch die geringe Lebenserwar- tung sehr selten, dass die erste Generation - die der GroReltern - mit der dritten Generation - den Kindern - zusammenlebte. Es bleibt also festzuhal- ten, dass es schon in der vorindustriellen Zeit eine Vielzahl von familialen Lebensformen gegeben hat und dass die GroRfamilie nur eine unter vielen Familienformen war.

Im Zuge der Industrialisierung, in der eine Trennung von Familienleben und Erwerbsarbeit - also von Wohn- und Arbeitsstatte - stattfand, entstand die burgerliche Familie als Vorlaufer der modernen Kleinfamilie. Die zu vorin­dustriellen Zeiten vorherrschende Vereinigung von Familienleben und Pro- duktion wurde aufgelost.

„Der Wandel der Arbeitsorganisation, also die Trennung von Wohn- und Ar­beitsstatte im Zuge der sozio-okonomischen Veranderungen, war jener Pro- zess, der es im Laufe der neueren Geschichte ermoglicht hat, dass es in den Rollenbildern von Mann und Frau sowie in deren Bewertung zu Veranderun­gen gekommen ist“ (Barabas&Erler 2002, S. 41).

Von nun an waren die Rollenverteilungen, die noch in der vorindustriellen Zeit geherrscht hatten - der Mann als Patriarch, mit der Kontroll- und Wei- sungsbefugnis gegenuber der Frau, und die Frau, die ebenso an der Produk- tion beteiligt war - umgekehrt. Der Vater, mit seiner Erwerbstatigkeit auRer Haus, nahm zwar immer noch die zentrale Stellung innerhalb der Familie ein, aber die Frau wurde im Zuge der Industrialisierung „verhauslicht“. Sie hatte nun die Pflicht, ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter nachzukommen. Die Frau hatte ihre Produktionsfunktion im Zuge der Industrialisierung verloren. Damit einhergehend fand gleichzeitig eine Emotionalisierung und Intimisierung der Familien statt. „Die einst - im ,ganzen Haus‘ - vor allem von okonomischen Anforderungen bestimmten Beziehungen sind im Verlauf dieses Prozesses zugunsten emotionaler Beziehungen zuruckgetreten“ (Peuckert 2008, S. 20). Mit der veranderten Rolle der Frau und der Freistellung der Kinder aus der Produktionsarbeit wurden die Familien zunehmend kindzentrierter. „Kin- der wurden jetzt nicht mehr als ein kunftiger, kostengunstiger Produktionsfak- tor gesehen, sondern ihre Kindheit wurde als eigenstandige Lebensphase anerkannt, die einer besonderen Obhut zu unterstellen war“ (Alt 2001, S. 40). „In der Emotionalisierung und der Individualisierung sind die entschei- denden Entwicklungselemente zu sehen, die traditionelle von modernen Partnerschaften unterscheiden“ (Barabas&Erler 2002, S. 43).

Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts war das Modell der burgerlichen Klein- familie - bestehend aus dem verheirateten Ehepaar und ihren leiblichen Kin- dern - die favorisierte Lebensform in Deutschland. Ihren Hohepunkt fand die Kleinfamilie Mitte der 1960er Jahre im Zuge des „Babybooms“, der zu dieser Zeit aufgrund der zunehmenden Geburtenzahlen in Folge des 2. Weltkriegs herrschte. Die Geburtenzahlen erreichten im Jahr 1964 mit 1,1 Mio. ihren Hohepunkt (vgl. Peuckert 2008, S. 21). Besonders in dieser Epoche war die Kleinfamilie die dominierende Lebensform. Es fand eine regelrechte Fixie- rung auf das normative Muster der burgerlichen Ehe statt. Dies hatte zur Fol- ge, dass nicht-eheliche Lebensgemeinschaften stark kritisiert und diskrimi- niert wurden.

Doch durch die zunehmende Individualisierung und die demografische Ent- wicklung hat sich das Bild der Familie seit den 1970er Jahren wieder gewan- delt. Die zunehmende Qualifizierung und Erwerbsbeteiligung der Frauen hat zu einem neuen Rollenverstandnis zwischen Mann und Frau gefuhrt. Dies hat dazu beigetragen, dass sich die Familienformen verandert haben und es zu einer zunehmenden Pluralisierung von Lebensformen gekommen ist. Sin- kende Geburten- und Heiratszahlen und gestiegene Scheidungszahlen bele- gen, dass die normative Kraft der Ehe immer mehr schwindet und sich zu- nehmend auch alternative Lebensformen entwickeln und etablieren. „ Familie [ist] nur noch eine unter mehreren moglichen Alternatives (Alt 2001, S. 43; Umstellung und Anpassung: N.D.).

2.2 Veranderungen familienbezogener Werte

Der Begriff „Individualisierung“ stammt aus der Soziologie und meint die He- rauslosung der Menschen aus historisch vorgegebenen Sozialformen - den standisch gepragten Klassen - und den Verlust von traditionellen Sicherhei- ten. Er entstand zeitgleich zur Industrialisierung und der damit einhergehen- den Entstehung der modernen burgerlichen Gesellschaft. Einige Autoren, wie Ullrich Beck, beschreiben einen zweiten Individualisierungsprozess Ende der 1950er Jahre. Kennzeichen dieses Individualisierungsschubes sind die Plu- ralisierung von Lebensstilen und die enorme Zunahme von Wahlmoglichkei- ten. „Die demographischen und familialen Veranderungen seit Mitte der 1960er Jahre werden analog als Ergebnis eines langfristigen stattfindenden Modernisierungs- und Individualisierungsprozesses gedeutet, der sich be- schleunigt und eine neue Qualitat gewonnen hat“ (Peuckert 2008, S. 326; Hervorheb. im Original). In der Diskussion um den Wandel der Familie spielt der Begriff der „Individualisierung“ eine bedeutende Rolle. Denn er be- schreibt gravierende gesellschaftliche Veranderungen und Umbruche. Beck beschreibt in seinem Buch „Risikogesellschaft“ die drei Dimensionen des Individualisierungsprozesses wie folgt: Die Herauslosung der Individuen aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhange (,Freisetzungsdimension‘), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitenden Normen (,Entzauberungsdimension‘) und eine neue Art der sozialen Einbindung durch Institutionen (,Kontroll- und Reintegrati- onsdimension‘) (vgl. S. 206). Das bedeutet, dass sich durch den Wegfall von traditionellen Sicherheiten und Normen die Wahlmoglichkeiten fur den Ein- zelnen erhoht haben. Die Biografie des Menschen wird herausgelost aus tra­ditionellen Vorgaben. Jeder hat nun die Chance - aber auch die Pflicht - sich eigenstandig zu entwickeln und Entscheidungen, die sein Leben anbelangen, selbstandig zu treffen. „In der individualisierten Gesellschaft muG der einzel- ne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsburo in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fahigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu be- greifen“ (Beck 1986, S. 217). Doch dies birgt gleichzeitig auch das Risiko, dass der Mensch mit seinen Wahlmoglichkeiten uberfordert und verunsichert ist und auch dass die getroffenen Entscheidungen „falsch“ sein konnen. Mit der „Kontroll- und Reintegrationsdimension“ beschreibt Beck, dass sich zwar traditionelle Lebenszusammenhange auflosen, dass aber an Stelle dieser neue Kontrollinstanzen entstehen.

„ [...] Der einzelne wird zwar aus traditionalen Bindungen und Versorgungsbe- zugen herausgelost, tauscht dafur aber die Zwange des Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz und der in ihnen enthaltenen Standardisierungen und Kontrollen ein. An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundare Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen pragen und ihn gegenlaufig zu der individuellen Ver- fugung, die sich als BewuBtseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhaltnissen, Konjunkturen und Markten machen“ (Beck 1986, S. 211; Her- vorheb. Im Original; Auslassungen: N.D.).

Hiermit meint Beck, dass der Mensch trotz aller individuellen Wahl- und Ge- staltungsmoglichkeiten einer Vielzahl von gesellschaftlichen Kontrollinstan- zen unterliegt.

„Standisch gepragte, klassenkulturelle oder familiale Lebenslaufrhythmen werden uberlagert oder erstsetzt durch institutionelle Lebenslaufmuster: Ein- tritt und Austritt aus dem Bildungssystem, Eintritt und Austritt aus der Er- werbsarbeit, sozialpolitische Fixierungen des Rentenalters, und dies sowohl im Langsschnitt des Lebenslaufes (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Pensio- nierung und Alter) als auch im taglichen Zeitrhythmus und Zeithaushalt (Ab- stimmung von Familien-, Bildungs- und Berufsexistenz“ (Beck 1986, S. 211f.).

Sichtbar werden die Individualisierungsprozesse auch an demografischen Trends: Gesunkene Geburten- und Heiratszahlen, gestiegene Scheidungsra- te, gestiegenes Bildungsniveau der Frauen, gestiegene Zahl nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften, mehr Alleinerziehende und mehr Ein-Eltern- Familien. Die Zahlen belegen, dass sich traditionelle soziale Beziehungen, wie die Institution der Ehe, immer mehr auflosen und an Bedeutung verlieren und gleichzeitig immer mehr alternative Lebensformen entstehen, die gesell- schaftlich anerkannt werden. An die Stelle von traditionellen Werten, wie Pflicht- und Akzeptanzwerten sind neue getreten, die dem Menschen mehr Selbstentfaltung zugestehen. Doch die neuen Werte haben die alten nicht komplett abgelost: Vielmehr basieren die Werte nun auf der freien Entschei- dung eines jeden Einzelnen. „Kennzeichnend fur diesen Wertewandlungs- prozess ist, dass sich oft alte Vorstellungen mit neuen Wertvorstellungen mi­schief (Peuckert 2008, S. 335). Das bedeutet, dass alte und neue Werte parallel existieren und somit in unserer heutigen Gesellschaft eine groBe Wertepluralitat und -vielfalt herrscht.

2.3 Veranderungen auBerer Familienformen

Soziologen sehen als weiteren Indikator des familialen Wandels die Plurali- sierung von Lebensformen, die sich parallel zur Individualisierung entwickelt hat. „ [...] Die beschriebenen soziodemographischen Veranderungen seit Mitte der 60er Jahre illustrieren den Wandel des traditionellen Leitbildes der Familie. Dieser Wandel auBert sich vor allem in einer groBeren Vielfalt fak- tisch gelebter Lebens- und Familienformen“ (Hoppner 2007, S. 81; Auslas- sungen: N.D.). Damit ist gemeint, dass sich zunehmend auch alternative Le­bensformen zur traditionellen Kernfamilie entwickelt und etabliert haben. Da- zu zahlen Stief- und Patchworkfamilien, Lebensgemeinschaften ohne Kinder, Lebensgemeinschaften mit Kindern, Alleinstehende, Alleinerziehende und Adoptivfamilien.

„Wahrend der letzten Jahrzehnte haben in der Bundesrepublik Deutschland de facto die verschiedenen Familienformen statistisch zugenommen, die nicht dem ,Normalitatsmuster‘ im Hinblick auf den Familienbildungsprozess und auf die Rollenzusammensetzung entsprechen, d.h. es ist ein stetiger Anstieg von Nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern, der Ein-Eltern-Familien und von Wiederverheiratungen (Stiefelternschaften) gegeben“ (Nave-Herz 2007, S. 18).

„Unverheiratet zusammen zu leben ist nicht nur zur grundsatzlichen Option geworden, sondern nimmt im BindungsprozeB eine Weichen stellende Rolle ein“ (Alt 2001, S. 57). Dies belegt auch die Grafik aus dem Datenreport 2008, des Statistischen Bundesamtes in ihrer Abbildung „Familien mit Kin- dern unter 18 Jahren nach Familienform“.

Abbildung 1: Familien mit Kindern unter 18 Jahren nach Familienform

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Statistisches Bundesamt 2008, S. 33f.)

„Als VergleichsmaBstab fur den Wandel der Formen familialen Zusammenle- bens dient das Leitbild der modernen burgerlichen Familie, welche die legale, monogame, lebenslange Ehe zwischen einem Mann und einer Frau fordert, die mit ihren gemeinsamen Kindern in einem Haushalt leben und in der der Mann Autoritatsperson und Haupternahrer und die Frau primar fur die Erzie- hung der Kinder und den Haushalt verantwortlich ist“ (Hoppner 2007, S. 37).

So lebten 1972 noch 43,3% aller Erwachsenen in einer Normalfamilie. 2004 waren es nur noch 28,5%. Demgegenuber hat sich der Prozentsatz der nicht- ehelichen Lebensgemeinschaften seit 1972 fast verelffacht. Parallel dazu ist seit 1972 die Anzahl der Gesamthaushalte von 23 Mio. auf 39,1 Mio. gestie- gen. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen alleine leben (vgl. Peuckert 2008, S. 24).

Dennoch kundigt eine Zunahme von Familienformen nicht gleichzeitig den Zerfall der Familie an. Denn bei der Auswertung der Zahlen muss man auch die Sozialstrukturen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit be- denken. „Im jungen Erwachsenenalter bis zum Ende der dritten Lebensdeka- de (insbes. in der zweiten Halfte der dritten Lebensdekade) ist die Pluralitat der Lebensformen am groBten und im anschlieBenden mittleren Alter (dem ,Familienlebensalter‘), vornehmlich in der vierten Lebensdekade, am gering- sten“ (Peuckert 2008, S. 25). Somit lasst sich die These der gestiegenen Pluralitat von Lebensformen nicht fur alle Bevolkerungsgruppen bestatigen.

Zudem ist die Familie trotz der Vielfalt von Familienformen immer noch eine der favorisierten Lebensformen. „Bezogen auf alle Familienformen mit Kin- dern unter 18 Jahren sind 75% Eltern-Familien mit formaler EheschlieRung, d.h. diese Familienform ist weiterhin quantitativ die weit uberwiegend domi- nante geblieben (errechnet aus: Stat. Bundesamt 2005: 47)“ (Nave-Herz 2007, S. 23). „So bedeutet insgesamt der als Pluralisierung familialer Le­bensformen zu begreifende Wandel der deutschen Familienverhaltnisse kei- neswegs den Niedergang der Familie. Die Familie ist fur die groRe Mehrheit der Menschen der wichtigste Bereich in ihrem Leben“ (Hoppner 2007, S. 84).

„Selbst die gestiegenen und derzeit hohen Scheidungszahlen weisen nicht auf einen Bedeutungsverlust, auf ein In-Frage-Stellen oder auf eine Abneigung gegen Ehe und Familie hin. Statistische Datenreihen stellen namlich keine Motivanalysen dar und so zeigen die Ergebnisse einer empirischen Erhebung uber die verursachenden Bedingungen fur Ehescheidungen, dass die Instabili- tat der Ehe gerade wegen ihrer hohen subjektiven Bedeutung fur den Einzel- nen zugenommen und dadurch die Belastbarkeit fur unharmonische Partner- beziehungen abgenommen hat. [...]“ (Nave-Herz 2007, S. 24f.; Auslassun- gen: N.D.)

Des Weiteren zeigt die Geschichte, dass es schon immer neben der traditio- nellen Kernfamilie alternative Lebensformen gegeben hat - wenn auch unter anderen gesellschaftlichen Vorrausetzungen.

„[A]lle bisher erwahnten Familienformen [sind] keine neuartigen Lebensfor­men, obwohl mit der Pluralitatsthese [...] immer gleichzeitig direkt, zuweilen auch nur indirekt, die Behauptung verknupft wird, dass es sich hierbei um neue moderne Lebensformen handelte. So gab es schon immer Mutter- und auch Vater-Familien; die Adoptions-, Pflege- und Stieffamilien waren sogar in den vorigen Jahrhunderten verbreiteter als heute“ (Nave-Herz 2007, S. 22; Umstellung, Anpassung und Auslassungen: N.D.).

Fruher waren diese Familienformen aber bedingt durch gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Voraussetzungen, wie die hohe Sterblichkeitsrate - heute sind sie eine Folge der hohen Scheidungsrate (vgl. Beck-Gernsheim 1998, S. 22).

Des Weiteren ist die These der gestiegenen Pluralitat von Lebens- und Fami­lienformen nur haltbar bei einer sehr weiten Definition des Familienbegriffs, um sich entwickelnde Familienformen nicht von vornerein auszuschlieRen. Verstehen wir unter der Familie das Zusammenleben von verheirateten Er- wachsenen mit ihren leiblichen Kindern, so ist die These der gestiegenen Pluralitat von Familienformen kaum haltbar, da alle alternativen Lebensfor- men per Definition ohnehin nicht als Familie zahlen wurden. Folgt man der Definition, die Cristian Alt aus dem Statistischen Jahrbuch 1997 entnommen hat, so kann man durchaus von einer Zunahme alternativer Lebensformen sprechen. Denn die Definition geht von einem sehr weiten Familienbegriff aus: „Familien im engeren Sinne sind Ehepaare bzw. alleinerziehende Vater oder Mutter, die mit ihren ledigen Kindern zusammenleben (Eltern-Kind- Gemeinschaft). In der Familienstatistik wird in Anlehnung an Empfehlungen der Vereinten Nationen von einem idealtypisch abgegrenzten Familienzyklus ausgegangen; das bedeutet, daB als Familie auch Ehepaare ohne Kinder gelten“ (Statistisches Bundesamt 1997, S. 44).

Dennoch haben sich im Zuge der Pluralisierung die Familien- und Lebens- zyklen der Menschen zeitlich verschoben. „Verandert hat sich vor allem der Phasenablauf bis zur Familiengrundung. Die Abfolge ,Kennen lernen - Ver- lobung - EheschlieBung - Geburt des Kindes‘ ist durch die Entstehung neuer Lebensformen (Wohngemeinschaften, Nichteheliche Lebensgemeinschaften, Alleinleben) und dem haufigen Wechseln zwischen ihnen durchbrochen wor- den.“ (Nave-Herz 2007, S. 25). Vor allem die Lebensphasen vor und nach der Geburt eines Kindes haben sich zeitlich geweitet. „Dagegen hat sich die eigentliche Familienphase, d. h. die Zeit der Pflege und Versorgung von Kin­dern, verkurzt, was - wie gesagt - auf die geringere Kinderzahl pro Familie und auf die hohere Lebenserwartung der Menschen zuruckzufuhren ist“ (Nave-Herz 2007, S. 26). Denn durch das steigende Erst-Gebaralter vieler Frauen hat sich die gebarfahige Phase deutlich verkurzt.

„Zusammenfassend ergibt sich als Antwort auf die Frage nach der gestiege­nen Pluralitat von Familienformen, dass weiterhin Eltern-Familie (mit formaler EheschlieBung) statistisch die dominante Familienform [...] geblieben ist, dass 79% aller Kindern unter 18 Jahren in dieser herkommlichen Kernfamilie auf- wachsen und dass weiterhin auch auf normativer Ebene ihr eine hohe subjek- tive Bedeutung zugeschrieben wird“ (Nave-Herz 2007, S. 25; Auslassungen: N.D.)

Es lassen sich zwar in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Lebens- und Familienformen auffinden, dennoch hat die traditionelle Kernfamilie ihre Be­deutung nicht verloren.

2.4 Veranderungen im Lebensverlauf

Der Wandel der Familie lasst sich neben der Pluralisierung auch an demo- grafischen Faktoren ablesen. Hierzu zahlen die sinkenden Geburten- und EheschlieRungszahlen und die gestiegenen Scheidungszahlen. All diese Faktoren symbolisieren eine abnehmende Attraktivitat von Ehe und Familie und eine sich verandernde demografische Entwicklung.

2.4.1 Daten zu Geburten und Todesfallen

Indikator des familialen Wandels sind u.a. die sinkenden Geburtenzahlen. Seit Mitte der 1960er wurden immer weniger Kinder geboren. In den Jahren 1964 und 1965, den Jahren des sog. „Baby-Booms“, stiegen die Geburten­zahlen aufgrund der Stabilisierung nach den Wirren des 2. Weltkriegs an. Letztmalig sind die Geburtenzahlen in den 1990er Jahren gestiegen. Doch dieser Anstieg ist nicht etwa auf ein verandertes generatives Verhalten, son- dern vorwiegend auf den Eintritt der geburtsstarken Jahrgange der 1950er/1960er Jahre ins gebarfahige und geburtenintensive Alter zuruckzu- fuhren (vgl. Peuckert 2008, S. 94f.). Seit diesem Zeitpunkt sinken die Ge­burtenzahlen kontinuierlich und haben im Jahr 2008 mit 682.514 Geburten ihren Tiefstand erreicht.

Tabelle 1: Anzahl der Lebendgeborenen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Statistisches Bundesamt (d))

Nicht nur die Geburtenzahlen, sondern auch die Geburtenziffern haben sich verandert. Im Jahre 1960 wurden im Durschnitt 2,5 Kinder pro Frau geboren. 2008 waren es nur noch 1,38 Kinder. Somit bekommt eine Frau heute im Schnitt 1,12 Kinder weniger als noch im Jahre 1960 (vgl. Statistisches Bundesamt (e)).

Zudem hat sich das Erst-Gebaralter der Frauen aufgrund ihres steigenden Bildungs- und Ausbildungsniveaus deutlich nach hinten verschoben. Im Jah­re 2005 betrug das Alter der Mutter bei der Geburt des ersten Kindes im Dur­schnitt 29,7 Jahre (vgl. Peuckert 2008, S. 101). Der demografische Trend geht also zu einer spaten ersten Mutterschaft.

Ein weiterer demografischer Trend ist die steigende Geburtenkonzentration, d.h. „[d]ie Kinder sind immer ungleicher auf die Frauen einer Geburtskohorte verteilt; ein immer groRerer Anteil der Kinder wird also von immer weniger Frauen geboren“ (Peuckert 2008, S. 105; Umstellung und Anpassung: N.D.). Zudem macht ein Vergleich von Geburten- und Sterbezahlen deutlich, dass seit Ende der 1970er Jahre mehr Menschen sterben als geboren wer- den. „Heute werden in Deutschland nur etwa zwei Drittel der Kinder geboren, die notig sind, um den derzeitigen Umfang der Bevolkerung (ohne Zuwande- rung) langfristig zu gewahrleisten“ (Peuckert 2008, S. 22). Dieser Trend hat weitreichende Auswirkungen auf die demografische Entwicklung der gesamt- deutschen Bevolkerung.

Tabelle 2: Anzahl der Gestorbenen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Statistisches Bundesamt (c))

Die Ursachen fur die kontinuierlich sinkende Geburtenzahl in Deutschland sind sehr vielfaltig.

„Die Forschung ist sich [jedoch] weitgehend darin einig, dass die Ursache fur den Geburtenruckgang in Deutschland seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahr- hunderts nicht in einer nachlassenden Wertschatzung der Familie zu suchen ist. Der Familie wird immer noch unter allen Lebensbereichen neben der Part- nerschaft der hochste Stellenwert eingeraumt“ (Peuckert 2008, S. 109; Her- vorheb. im Original; Umstellung und Anpassung: N.D.).

Vielmehr sind die Ursachen des Geburtenruckgangs in der sich stark veran- dernden und individualisierten Gesellschaft zu finden. Denn durch die Indivi- dualisierung und die damit einhergehende Erweiterung der Wahlmoglichkei- ten sind auch die Lebensbereiche Ehe und Familie liberalisiert worden.

„Ehe und Elternschaft sind immer weniger normativ vorgegebene und selbst- verstandliche Lebensperspektiven, sondern werden Gegenstand freier Wahl und individueller Entscheidung, zu einer denkenswerten und planenswerten Option neben anderen. Liebe fuhrt nicht mehr zwangslaufig zu Ehe und die Ehe nicht mehr zwangslaufig zur Elternschaft“ (Peuckert 2008, S. 115).

Des Weiteren haben auch die berufsbiografischen Unsicherheiten zuge- nommen, so dass gesicherte Einkommensverhaltnisse immer unwahrschein- licher werden. Durch langer werdende Bildungs- und Ausbildungszeiten hat sich der Prozess der Berufseinmundung zeitlich nach hinten verschoben, so dass immer mehr Heranwachsenden immer spater okonomisch selbstandig sind. Gleichzeitig haben sich auch die direkten Kosten fur die Pflege und Erziehung von Kindern erhoht. Dies fuhrt dazu, dass viele potentielle Eltern vor der Kinderplanung zuruckschrecken. Denn „[f]ur die uberwaltigende Mehrheit (69 Prozent) ist eine unabdingbare Voraus- setzung einer Familiengrundung, dass beide Partner ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben, dass sich zumindest einer der Partner beruflich in einer gesicherten Position befindet (67 Prozent), dass die finanzielle Situation gut ist (64 Prozent) und dass die Beziehung stabil ist (86 Prozent)“ (Peuckert 2008, S. 124; Umstellung und Anpassung: N.D.).

Doch gleichzeitig sind feste, gesicherte Partnerschaften aufgrund der gestie- genen Scheidungsrate seltener geworden.

Eine weitere Ursache fur die sinkende Geburtenrate ist die mangelnde Ver- einbarkeit von Familie und Beruf. „Besonders den hoher qualifizierten Frauen fallt es unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen schwer, die beruflichen Anforderungen und Ambitionen mit den Anforderun- gen und Erwartungen an die Mutterschaft zu vereinbaren“ (Peuckert 2008, S. 119; Hervorheb. im Original). Aufgrund der geringen Flexibilitat des Ar- beitsmarktes lassen sich Bildung, Beruf und Mutterschaft somit nur schwer vereinbaren. Zudem sind die Anforderungen an die Elternrolle gestiegen.

„Viele potentielle Eltern sind sich heute unsicher, ob sie den Anforderungen gewachsen sind, wobei die Zweifel und Angste paradoxerweise durch Ratge- ber eher noch verstarkt werden. Gleichzeitig sind aufgrund der Emotionalisie- rung des Eltern-Kind-Verhaltnisses die sozial-emotionalen Befriedigungen, die Kinder bieten, bereits mit einem oder zwei Kindern voll ausgeschopft“ (Peuckert 2008, S. 120).

Folglich vermeiden oder verschieben viele potentielle Eltern die Kinderpla- nung, weil sie sich den Anforderungen, die eine Elternschaft mit sich bringt, nicht gewachsen fuhlen (vgl. Peuckert 2008, S. 120).

2.4.2 Daten zu EheschlieBungen und Ehescheidungen

Auch die demografische Entwicklung der EheschlieBungs- und Eheschei- dungszahlen belegt eine abnehmende Attraktivitat der Ehe und steht als Symbol fur den familialen Wandel. Seit den 1960er Jahren sind die Ehe- schlieBungszahlen kontinuierlich gesunken. Wahrend im Jahr 1960 noch knapp 521.445 Menschen den Bund der Ehe eingingen, waren es im Jahre 2008 nur noch 377.055. Auch der kurzzeitige Anstieg der Zahlen in den 1990er Jahren war nicht auf ein verandertes Heiratsverhalten zuruckzufuh- ren; sondern es gab schlichtweg mehr Menschen im heiratsfahigen Alter.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Statistisches Bundesamt (b))

Die abnehmende Attraktivitat der Ehe lasst sich nicht nur an statistischen Werten ablesen, sondern wird auch an subjektiven Meinungsumfragen deut- lich. Im Jahre 1960 hielten noch 9 von 10 Befragten die Ehe fur unverzicht- bar. 2003 hingegen waren 86% der Befragten der Meinung, ein Zusammen- leben sei auch ohne Trauschein akzeptabel (vgl. Peuckert 2008, S. 28). Hinzu kommt, dass die Menschen aufgrund gestiegener Bildungs- und Aus- bildungszeiten immer langer mit der EheschlieRung warten. So ist das durch- schnittliche Heiratsalter seit den 1970er Jahren kontinuierlich gestiegen. Manner heirateten im Jahr 2006 im Durchschnitt mit 33 Jahren und Frauen mit 30 Jahren (vgl. Statistisches Bundesamt 2008, S. 32).

Parallel zu den gesunkenen EheschlieRungen sind die Ehescheidungszahlen seit den 1960er Jahren um ein vierfaches gestiegen. Wahrend sich im Jahre 1960 48.873 Menschen haben scheiden lassen, waren es 2008 191.948. „Es wird nicht nur seltener geheiratet, die Ehen sind auch zerbrechlicher gewor- den“ (Peuckert 2008, S. 22).

Tabelle 4: Anzahl der Ehescheidungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Statistisches Bundesamt (a))

Es ist statistisch nicht verwunderlich, dass sich die Ehescheidungs- und Ehe- schlieRungszahlen parallel in unterschiedliche Richtungen entwickelt haben. Da immer mehr Partnerschaften auseinanderbrechen und die Zahl der Scheidungen steigt, scheuen viele das Risiko einer Heirat oder einer Eltern- schaft. Es hat sich somit eine generelle Skepsis gegenuber der Stabilitat der eigenen Ehe eingestellt. Dies fuhrt auch dazu, dass immer weniger ehespezi- fische Investitionen, wie die Geburt von Kindern oder der Bau eines gemein- samen Hauses, getatigt werden. Die stetig wachsenden Scheidungszahlen sind somit auch eine Ursache der sinkenden Heiratszahlen. Dennoch liegen die Ursachen fur die gestiegenen Scheidungszahlen nicht zwangslaufig an einer abnehmenden Bedeutung der Ehe. Denn haufig werden Ehen gerade deshalb geschieden, weil die Anspruche der Menschen an Ehe und Partner- schaft gestiegen sind. „ [...] vielmehr ist der Anstieg der Ehescheidungen Folge gerade ihrer hohen psychischen Bedeutung und Wichtigkeit fur den Einzelnen, so dass die Partner unharmonische eheliche Beziehungen heute weniger als fruher ertragen konnen, und sie deshalb ihre Ehe schneller auf- losen.“ (Nave-Herz 2007, S. 122; Auslassungen: N.D.).

2.5 Veranderte Geschlechterrollen

Die traditionellen Geschlechterrollen haben sich seit den 1960er Jahren im Zuge der Individualisierung gewandelt. Wahrend die Lebensentwurfe der Frauen fruher primar familienorientiert waren, nehmen Frauen heute viel mehr am Erwerbsleben teil. „Frauen haben in besonderer Weise von der Bil- dungsexpansion profitiert. Der Anteil der Frauen mit hoheren schulischen Qualifikationen hat sich in den vergangenen 40 Jahren deutlich erhoht“ (Peuckert 2008, S. 230; Hervorheb. im Original). 1972 lag die Erwerbsquote von Frauen noch bei 48%; im Jahre 2004 lag sie bei 65% (vgl. Peuckert 2008, S. 231). Die veranderte Rolle der Frau zeigt sich vor allem an der stei- genden Berufstatigkeit von Muttern. „Die Erwerbsbeteiligung von Frauen zeigt seit 1882, als die ersten umfassenden amtlichen Statistiken erstellt wurden, eine relative Kontinuitat auf. Verandert aber hat sich, vor allem auch wahrend der letzten 30 Jahre, die Zahl der erwerbstatigen Mutter.“ (Nave- Herz 2007, S. 39). Die Zahlen belegen eine steigende Erwerbsbeteiligung von Muttern und eine fruhere Berufsruckkehr nach der Geburt eine Kindes. „Die Erwerbstatigenquote (= Anteil der Erwerbstatigen an der Bevolkerung im erwerbsfahigen Alter) von Muttern mit minderjahrigen Kindern im Haushalt ist zwischen 1965 und 2004 von 35 auf 62 Prozent angestiegen“ (Peuckert 2008, S. 231; Hervorheb. im Original). Die Erwerbsbeteiligung von Muttern hangt aber in besonderem MaBe vom Alter des Kindes und in gewissem Um- fang auch von der Familienform ab. Je alter die Kinder waren, desto hoher war der Anteil der Vollzeit erwerbstatigen und vor allem der Anteil der Teilzeit beschaftigten Mutter“ (Peuckert 2008, S. 237). Immerhin 2/3 aller Mutter mit Kindern unter 3 Jahren sind erwerbstatig (vgl. Nave-Herz 2007, S. 39). Die Erwerbstatigenquote von Muttern mit Kindern zwischen 0 und 15 Jahren liegt sogar bei uber 50% (vgl. Statistisches Bundesamt 2008, S. 36).

Dennoch ist „[t]rotz eigener Erwerbstatigkeit [...] fur die meisten Mutter in Paarhaushalten der Lebensunterhalt nur durch den Familienzusammenhang gewahrleistet“ (Peuckert 2008, S. 233; Hervorheb. im Original; Umstellung, Anpassung und Auslassungen: N.D.).

Parallel zum veranderten Rollenverstandnis von Frauen, hat sich auch die Rolle des Mannes gewandelt - wenn auch nicht so dramatisch wie die der Frauen. Der Mann hat seine Rolle als Patriarch und Familienoberhaupt, die er noch zu Zeiten der Industrialisierung inne hatte, zugunsten einer mehr gleichberechtigten Rollenverteilung verloren bzw. aufgegeben. Von nun an sollte nicht mehr nur die Frau fur Kindererziehung und Haushalt zustandig sein - auch der Mann bekommt seitdem die Chance diesen Aufgaben nach- zukommen. Das veranderte Rollenverstandnis wird auch an politischen Di- mensionen deutlich. So haben nun auch Manner die Moglichkeit, nach der Geburt eines Kindes in Elternzeit zu gehen. Dennoch hat die Divergenz zwi- schen der zunehmenden Emanzipierung der Frauen und die Vorstellung vom Mann als Familienoberhaupt zu tiefen Verunsicherungen auf Seiten des mannlichen Geschlechts gefuhrt. Die tatsachliche Emanzipation der Frauen ist nicht soweit fortgeschritten wie gefordert wird. Dies lasst sich auch sehen, wenn man die Inanspruchnahme der Elternzeit von Frauen und Mannern mi- teinander vergleicht. So nehmen im Bundesdurchschnitt immer noch deutlich weniger Manner (0,2%) als Frauen (60,1%) die Elternzeit in Anspruch (vgl. BUNDESMINISTERIUM F0R FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND 2005, S. 325f.). Ob dies an finanziellen Aspekten oder einer immer noch vorherr- schenden Rollenverteilung liegt, lasst sich letztlich nicht abschlieRend beur- teilen. Es kann vermutet werden, dass beide Faktoren eine Rolle spielen.

„Das Familienleitbild einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Manner [!] und Frauen, wie sie bei kinderlosen Paaren zunehmend gilt und gelebt wird, kann mit dem 0bergang zur Elternschaft zumeist nicht aufrecht erhalten wer­den; die Zustandigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen Vatern und Mut- tern folgen wieder starker den traditionellen geschlechtsspezifischen Aufga- benverteilungen [...]“ (Pettinger&Rollik 2005, S. 25; Einfuhrung und Aus- lassungen: N.D.).

In der Realitat zeigt sich: Immer noch sind die Frauen primar fur die Kindes- erziehung und den Haushalt zustandig. Daher fuhlen sich viele Frauen, die vor dem Spagat zwischen Familienleben und Erwerbsarbeit stehen, uberfor- dert. „Diese Doppelorientierung fuhrte [...] gleichzeitig zu einer besonderen Problematik im Lebenszusammenhang von Frauen: Denn weder Arbeitswelt noch Familie nehmen Rucksicht auf den jeweils anderen Bereich.“ (Nave- Herz 2007, S. 42; Auslassungen: N.D.). Durch die zunehmende Doppelbe- lastung stehen viele Frauen vor der Frage, wie sie Familie und Beruf „unter einen Hut bringen konnen“. Gerade hier ist die Politik gefragt, MaRnahmen zu entwickeln, die eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf fur Frauen, aber auch fur Manner, moglich machen. „Mittlerweile bildet sich auch auf der sozi- al- und familienpolitischen Ebene langsam ein Konsens heraus, dass unter den gegenwartigen demographischen und arbeitsmarktpolitischen Bedingun- gen nur ein solches Vereinbarkeits-Modell nachhaltig sein kann“ (Fuhrer 2007, S. 95). Die Politik hat durch ihre Plane zum Ausbau der Krippenplatze fur unter 3-jahrige Kinder, durch den Rechtsanspruch auf einen Kindergar- tenplatz fur uber 3-jahrige und durch den Ausbau von Ganztagsschulen hier erste Fortschritte gemacht. Wunschenswert waren auch flexiblere Arbeits- zeitmodelle, die es Frauen ermoglichen, Familie und Beruf zu vereinbaren. Doch hier steht die Politik mit ihren MaBnahmen erst am Anfang.

2.6 Veranderungen in den Erziehungszielen und -leitbildern

Parallel zu den gesellschaftlichen Umbruchen im Zuge der Individualisierung und Pluralisierung hat auch in den Erziehungszielen und -leitbildern ein tief- greifender Wandel stattgefunden.

„Als Folge dieser Veranderungen haben sich nicht bloB die Bedeutung von Kindern fur ihre Eltern, sondern auch Elternrolle und elterliches Erziehungs- verhalten verandert. Je hoher namlich der Industrialisierungs- und Individuali- sierungsgrad einer Gesellschaft ist, umso weniger werden mit Kindern mate- rielle und sozialnormative Werte, sondern immaterielle Werte verbunden, wie etwa die Befriedigung emotionaler Bedurfnisse, die Freude am Aufwachsen von Kindern oder der Austausch von Zartlichkeiten“ (Fuhrer 2005a, S. 157).

„Der Wandel von Erziehungszielen ist immer Folge einer Anderung von ge- sellschaftlichen, kulturellen, sozialen, politischen, okonomischen, wissen- schaftlichen, weltanschaulichen oder auch von subjektiven Verhaltnissen“ (Hobmair 2002, S. 201). So basieren die Erziehungsleitbilder und - vorstellungen immer auch auf den aktuell geltenden WertemaBstaben einer Gesellschaft. Findet eine Anderung in den Werteorientierungen statt, so an- dern sich haufig auch die Erziehungsvorstellungen und -ziele.

„Je nach dem jeweiligen Menschenbild und der Weltanschauung, je nach den politischen, militarischen oder wirtschaftlichen Gegebenheiten und Interessen einer Gesellschaft, je nach ihren aktuellen Wert- und Normvorstellungen wur- den und werden im Laufe der Zeit unterschiedliche Erziehungsziele formu- liert. [...] Im Dritten Reich war es die Ideologie des Nationalsozialismus, in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik die des Sozialismus, in der Bundesrepublik Deutschland ist es die Vorstellung einer freiheitlichen, demo- kratischen Gesellschaft, die den Wandel von erzieherischen Zielvorstellungen bestimmt“ (Hobmair 2002, S. 200; Hervorheb. im Original und Auslassungen: N.D.).

In dieser, historisch betrachtet recht kurzen Zeitspanne, haben sich auch die Erziehungsleitbilder grundlegend gewandelt. Noch bis in die 1960er Jahre hinein war die autoritare Erziehung die dominierende Erziehungsform. Ge- horsam und Bescheidenheit waren die obersten Pramissen der Erziehung. Doch im Zuge der studentischen Protestbewegung Mitte der 1960er Jahre, die sich gegen die herrschenden politischen und gesellschaftlichen Struktu- ren auflehnte, kam es zu einem Umdenken und kritischen Hinterfragen der bisherigen Erziehungsvorstellungen. „Die Forderung nach ,anti-autoritarer Erziehung‘ ging von anderen anthropologischen Grundannahmen aus, nam- lich dass Erziehung nicht durch Unterdruckung zu erfolgen hatte, sondern dass - das von Natur aus - Vorhandene zu fordern und zu unterstutzen sei“ (Nave-Herz 2006, S. 201). In dieser Zeit war die anti-autoritare Erziehung die vorherrschende Erziehungsform. „Primares Ziel des antiautoritaren Konzepts war es, die Befriedigung der Kinder auf jeder Entwicklungsstufe zu ermogli- chen. Das Gluck der Kinder sei nur dann zu erreichen, wenn sie ihre Bedurf- nisse auBern und frei regulieren konnen“ (Hohn 2003, S. 130). Doch seit ge- raumer Zeit haben erneut ein Umdenken und ein Wandel der Erziehungsvor­stellungen stattgefunden. Heute ist es vor allem die autoritative Erziehung, die von den Fachleuten als die „beste“ Erziehungsform betrachtet wird.

De Swaan hat den Wandel in den Erziehungsvorstellungen mit den Worten „Vom Befehlshaushalt zum Verhandlungshaushalt“ beschrieben (vgl. de Swaan 1982, S. 50). Das bedeutet, dass Kinder heute viel mehr, als noch zu Zeiten der autoritaren Erziehung, an Entscheidungen beteiligt werden. Eltern greifen bei der Durchsetzung ihrer Interessen immer mehr auf ihre Sprach- kompetenz und weniger auf korperliche MaBnahmen zuruck. „Dabei hat der Wandel von autoritarer, auf Anpassung gerichtete Erziehung, zu einer Erzie­hung in Richtung partnerschaftlicher Umgangsformen stattgefunden“ (Fuhrer 2005a, S. 160; Hervorheb. im Original). Kinder werden heute als nahezu gleichberechtigte Partner im Erziehungsprozess angesehen. „Die Unmittelbarkeit des Autoritats-Gehorsam-Verhaltnisses zwischen Eltern und Kindern wird also durch ein starker diskutiertes Verhalten abgelost. [...] Das Eltern-Kind-Verhaltnis wird mehr und mehr kommunikativ und symmetrisch“ (Fuhrer 2005a, S. 158; Auslassungen: N.D.). Kinder werden nun in ihrer Individualitat und als Person mit eigenen Wunschen und Bedurfnissen ernst genommen. „Der individuelle Eigenwert des Kindes wird zunehmend Erzie- hungsgrundlage“ (Barabas&Erler 2002, S. 162). Das Erziehungsverhaltnis ist zum Beziehungsverhaltnis geworden. „Mit dem Abbau familialer Macht- strukturen und dem Ubergang vom traditionalen Befehls- zum modernen Verhandlungshaushalt haben Gleichheits- und Mitbestimmungsprinzipien als SteuerungsgroBen in der Privatheit Einzug gehalten, die ursprunglich dem politischen Diskursgeschehen entstammen (,kommunikative Elternschaft‘)“ (Peuckert 2008, S. 165; Hervorheb. im Original).

Sichtbar werden der veranderte Stellenwert von Kindern und die Verande- rungen in den Erziehungszielen und —leitbildern auch, wenn man Umfragen zu diesem Thema betrachtet. Die Studien belegen, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein Wertewandel vollzogen hat. Statt der traditionellen Werte wie Sauberkeit, Ehrlichkeit und Gehorsam sind heute Werte, die auf Selb­standigkeit und Selbstentfaltung abzielen, von groBer Bedeutung fur die Erziehung und fur die Gesamtgesellschaft. „Erziehungsziele, die Anpassung reflektieren (wie Gehorsam, gute Umgangsformen, Sauberkeit und Ordnung) haben seit den 1950er Jahren an Bedeutung eingebuBt zugunsten von Er­ziehungszielen, die Selbstbestimmung ausdrucken (wie die Betonung von Selbstandigkeit, Interesse an den Dingen, Menschenverstand und Urteilsga- be, Verantwortungsbewusstsein)“ (Peuckert 2008, S. 157). Wahrend sich zwischen 1951 und 1964 noch 25% der Menschen fur eine autoritare Erzie­hung aussprachen, waren es 2001 nur noch 5% (vgl. Peuckert 2008, S. 157f.). Demgegenuber hielten 1951 nur 28% der Menschen eine Erziehung, die auf Selbstandigkeit und freien Willen abzielt, fur gut. 2001 waren es im- merhin 53% (vgl. Peuckert 2008, S. 158).

„Die traditionellen Leitbilder - Gehorsam und Unterordnung, Ordnungsliebe und FleiB - verlieren in der Wertschatzung der Bevolkerung [also] immer mehr an Gewicht zugunsten von Selbstandigkeit, Selbstbestimmung und Eigenver- antwortung“ (Tenorth 2008,S. 313f; Umstellung und Anpassung: N.D.).

Auch das Generationen-Barometer, dass das Allensbacher Institut 2009 ver- offentlicht hat, macht deutlich, dass sich die Erziehungsvorstellungen im Ver- gleich zwischen den Generationen deutlich gewandelt haben. Die Befragung zeigt, dass sich das Erziehungsverhalten der heutigen Eltern-Generation er- heblich von dem ihrer Eltern unterscheidet. Denn auf die Frage, ob Eltern ihr Kind schlagen sollen, wenn es ungezogen ist, gaben 1971 noch 44% der Befragten die Antwort: „Schlage gehoren auch zur Erziehung, das hat noch keinem Kind geschadet“. Im Jahr 1998 hingegen waren dies nur noch 15% (vgl. Noelle-Neumann&Kocher, S. 133). Des Weiteren sind nur 10% der Befragten der Meinung, dass sich ihr Erziehungsverhalten gar nicht von dem ihrer Eltern unterscheidet - 34% sind der Meinung, dass es sich sehr stark unterscheidet (vgl. Institut fOr Demoskopie Allensbach 2009, S. 4)

Dennoch gewinnen seit geraumer Zeit auch einige der traditionellen Werte wieder an Bedeutung. Eine Allensbacher Studie zeigt, dass 87% der Befrag­ten Hoflichkeit und gutes Benehmen zu den wichtigsten Erziehungszielen zahlen. Zehn Jahre zuvor waren es nur 73 %. Des Weiteren ist es 72% der Befragten wichtig, ihre Kinder zu Sparsamkeit zu erziehen. Anfang der neun- ziger Jahre hielten dies lediglich 59 Prozent fur wichtig (vgl. Institut fOr Demoskopie Allensbach 2003, S. 3). Somit existieren alte und neue Werte heute parallel. Man kann also nicht von einem Werteverfall, sondern eher von einer Wertepluralitat sprechen.

Die vorangegangenen Ausfuhrungen haben deutlich gemacht, dass sich die Familie in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten parallel zu den gesell- schaftlichen Veranderungen sehr stark gewandelt hat. Sie ist zwar fur viele Menschen immer noch die bevorzugte Lebensform, dennoch gibt es immer mehr Menschen, die in alternativen Familienformen leben. Durch den Wan­del der Familie und die Vielfalt an Lebensformen haben sich auch die Werte, die in unserer Gesellschaft wichtig sind, gewandelt. Viele Normen, die noch vor 50 Jahren fur alle Menschen verbindlich waren, haben ihre Gultigkeit zu- gunsten anderer verloren. Der Wertewandel und die Wertevielfalt wirken sich in betrachtlichem MaRe auf die Erziehung von Kindern aus. Viele Eltern sind verunsichert und wissen nicht mehr, auf welchen Werten ihre Erziehung grunden soll und welche Werte sie ihren Kindern mit auf den Weg geben sol- len. Denn sie konnen nicht mehr, wie noch die Eltern-Generation vor ihnen, auf die Werte ihrer Eltern zuruckgreifen. Vielmehr mussen sie selbst ent- scheiden, wie sie ihr Kind erziehen wollen. Dies fuhrt bei vielen Eltern zu ei­ner groRen Verunsicherung und Oberforderung - der Bedarf an Angeboten im Bereich der Elternbildung steigt daher immer mehr.

[...]

Fin de l'extrait de 123 pages

Résumé des informations

Titre
Elternbildungsprogramme als Mittel zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz
Sous-titre
Verdeutlicht am Beispiel zweier ausgewählter Elternbildungsprogramme
Université
Bielefeld University
Note
1,0
Auteur
Année
2010
Pages
123
N° de catalogue
V159894
ISBN (ebook)
9783640731572
ISBN (Livre)
9783640732012
Taille d'un fichier
1098 KB
Langue
allemand
Mots clés
Elternbildung, Starke Eltern-Starke Kinder, Triple P
Citation du texte
Nadine Deiters (Auteur), 2010, Elternbildungsprogramme als Mittel zur Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/159894

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