Empirische Längsschnittstudie zur phonologischen Entwicklung bei sukzessiver Zweisprachigkeit von serbischen Vorschulkindern


Mémoire de Maîtrise, 2003

129 Pages, Note: 1,65


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN
1. Was ist Zweisprachigkeit?
1.1 Terminologie und Begriffsbestimmung
1.1.1 Die Begriffsvielfalt
1.1.2 Definitionsansätze
1.2 Typologien der Zweisprachigkeit nach verschiedenen Kriterien
1.2.1 Bedingungen beim Spracherwerb
1.2.2 Linguistische Kriterien
1.2.3 Psycho- bzw. soziolinguistische Kriterien
2. Theorien zum Erwerb von Zweisprachigkeit
2.1 Die Kontrastivhypothese
2.2 Die Identitätshypothese
2.3 Die Interlanguage-Hypothese
2.4 Die Interdependenz-Hypothese
2.5 Aktuelle Diskussion zum Zweitspracherwerb
3. Der Erwerb des Lautsystems innerhalb der Sprachentwicklung
3.1 Unterscheidung Phonetik / Phonologie
3.2 Die Phonologische Entwicklung
3.2.1 Theorien und Ansätze
3.2.2 Die Phonologische Entwicklung im Erstspracherwerb
3.2.3 Die Phonologische Entwicklung im Zweitspracherwerb
4. Kontrastive Analyse des serbischen und deutschen Phonemsystems
4.1 Das serbische Konsonantensystem
4.2 Das deutsche Konsonantensystem
4.3 Kontrastive Analyse beider Konsonantensysteme

EMPIRISCHE LÄNGSSCHNITTSTUDIE
5. Entwicklung der Fragestellungen
5.1 Fragestellungen zur quantitativen Analyse
5.1.1 Hypothese
5.1.2 Hypothese
5.2 Fragestellungen zur qualitativen Analyse
5.2.1 Fragestellung
5.2.2 Fragestellung
5.2.3 Fragestellung
6. Methodische Vorgehensweise
6.1 Beschreibung der Stichprobe
6.1.1 Alter und Geschlecht
6.1.2 Nationalität der Eltern
6.1.3 Geburtsland und Sprachgebrauch in der häuslichen Umgebung
6.1.4 Dauer des Kindergartenaufenthalts
6.1.5 Form der Zweisprachigkeit
6.2 Vorstellung des Untersuchungsmaterials
6.2.1 Screening–Verfahren zur Ausspracheuntersuchung (SVA)
6.2.2 Konstruktion einer serbischen Variante des SVA
6.3 Durchführung der Untersuchung
6.4 Auswertung
7. Darstellung der Ergebnisse
7.1 Ergebnisse der quantitativen Analyse
7.1.1 Voraussetzungen
7.1.2 Überprüfung der Hypothese 1
7.1.3 Überprüfung der Hypothese 2
7.2 Ergebnisse der qualitativen Analyse
7.2.1 Ergebnisse zu Fragestellung 1
7.2.2 Ergebnisse zu Fragestellung 2
7.2.3 Ergebnisse zu Fragestellung 3
8. Diskussion der Ergebnisse
8.1 Die Beziehung zwischen Erst- und Zweitsprache
8.2. Die Phonologischen Prozesse
8.3. Die phonologische Entwicklung in der Zweitsprache Deutsch
8.4. Bezug zu den Ergebnissen der phonetischen Entwicklung
9. Methodenkritik.
10. Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abbildung 1: Das serbische Konsonantensystem

Abbildung 2: Das deutsche Konsonantensystem

Abbildung 3: Vergleichendes Konsonantensystem

Abbildung 4: Altersverteilung in der Stichprobe zu t1

Abbildung 5: Verteilung der monatlichen Dauer im Kindergarten zu t1

Abbildung 6: Altersgruppen zu t1

Abbildung 7: Verteilung der monatlichen Dauer im Kindergarten zu t1 nach Altersgruppen

Abbildung 8: Absolute Anzahl phonologischer Prozesse

Abbildung 9: Tests auf Normalverteilung

Abbildung 10: Testung der 1. Hypothese zu t1

Abbildung 11: Testung der 1. Hypothese zu t2

Abbildung 12: Mittelwerte der Differenzen

Abbildung 13: Testung der 2. Hypothese

Abbildung 14: Mittelwerte der Differenzen nach Altersgruppen

Abbildung 15: Testung der 2. Hypothese nach Altersgruppen

Abbildung 16: Prozentuale Anteile aller aufgetretenen phonologischen Prozesse zu t1 und t2

Abbildung 17: Relative Häufigkeit der Öffnung nach Altersgruppen

Abbildung 18: Relative Häufigkeit der ungewöhnlichen Prozesse zu t1 und t2

Abbildung 19: Relative Häufigkeit der ungewöhnlichen Prozesse nach Altersgruppen

Abbildung 20: Prozentuale Anteile aller phonologischen Prozesse nach Altersgruppen

EINLEITUNG

Im Gebiet des Erwerbs von Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit kann bereits auf einige Jahrzehnte intensiver wissenschaftlicher Auseinandersetzung zurückgegriffen werden. Die Literatur reicht von ersten Arbeiten Mitte der 30er Jahre bis zu zahlreichen Veröffentlichungen in der jetzigen Zeit, die ein zunehmendes Interesse an diesem Forschungsbereich erkennen lassen. Während sich die ersten wegweisenden Werke, die vornehmlich aus dem angloamerikanischen, kanadischen und skandinavischen Raum stammen, mit dem Zweitspracherwerb durch didaktische Vermittlung im Unterricht befasst haben, begann eine vermehrte empirische Forschung zum natürlichen Erwerb der Zweisprachigkeit erst Ende der 70er Jahre (zur Unterscheidung dieser Arten des Zweitspracherwerbs s. 1.2.1).

In Deutschland etablierte sich die Forschungsrichtung zur mehrsprachigen Sprachentwicklung aufgrund der wachsenden Zahl von Gastarbeitern, deren sprachliche Problematik eine bildungspolitische, pädagogische und soziale Herausforderung darstellte. Zwei Projekte an den Universitäten Heidelberg (Klein/Dittmar) und Wuppertal (Meisel) wurden ins Leben gerufen, die sich mit der deutschen Sprache von Gastarbeitern beschäftigten. Viele langjährige Gastarbeiter blieben dauerhaft in Deutschland und nahmen durch Gründung von Familien einen festen Platz in unserer Gesellschaft ein. Durch den gleichzeitigen Gebrauch der Sprache des Herkunftslandes in der häuslichen Umgebung und den Besuch von „deutschen“ Kindergärten und Schulen wuchsen ihre Kinder in einer zweisprachigen Umwelt auf. Diese veränderte gesellschaftliche Situation bewirkte, dass in die Erforschung der Zweisprachigkeit zunehmend auch die Sprache der Kinder von Gastarbeitern einbezogen wurde. Umfassendere Erkenntnisse der natürlichen zweitsprachlichen Entwicklung bei Kindern, die über Einzelfallbeschreibungen hinausgingen, gewann man in Deutschland erstmals (soweit der Autorin bekannt) durch das Kieler Projekt, mit dem vor allem die Namen Wode und Felix verbunden sind (Wode, 1993).

Heutzutage ist die Auseinandersetzung mit dem Thema der Zweisprachigkeit von Kindern, wie es auch in dieser Arbeit der Fall ist, hauptsächlich durch den Aspekt der wachsenden Immigration nach Deutschland geprägt. Äußerst deutlich wird dieser Wandel in den institutionalisierten Einrichtungen, d.h. in Kindergarten, Vorschule und Schule, deren Klientel längst nicht nur deutsche, sondern Kinder unterschiedlichster Nationalitäten umfasst. Meist sprechen die ausländischen Kinder kaum Deutsch, bevor sie in eine dieser Einrichtungen eintreten, wodurch die Erzieher und Lehrer vor eine außergewöhnliche Aufgabe gestellt werden, sofern es sich nicht zufällig um muttersprachliche Pädagogen handelt.

Mittlerweile treffen wir nicht nur in den Regelkindergärten und –schulen auf ausländische Kinder, sondern auch vermehrt in Schulen für Behinderte (u.a. an Sprachheilschulen) und sprachheilpädagogischen Praxen. Neben der zweisprachigen Sprachentwicklung der Kinder steht dort auch die oft durch sprachliche Einschränkungen auf Seiten der Pädagogen und Eltern erschwerte, aber besonders notwendige Zusammenarbeit zwischen Institution und Elternhaus im Blickpunkt (Triarchi-Herrmann, 2002).

Diese besonderen Anforderungen, denen alle genannten Personengruppen gegenüberstehen, verlangen von der professionellen Seite eine fundierte Grundlagenforschung auf dem Gebiet der kindlichen Zweisprachigkeit und dessen Erwerbsmechanismen, da sie für eine Rechtfertigung didaktischer bzw. therapeutischer Konzepte und Modelle unabdingbar ist. Die Sprachheilpädagogik hätte die Aufgabe, auf der Basis der Grundlagenforschung spezielle Diagnose- und Therapiemethoden für bilinguale Kinder zu entwickeln.

Den beschriebenen Aufgaben wurde sich bislang jedoch zu wenig gewidmet. Kracht stellt mit Bezug auf Borelli (1986) und Neumann (1991) fest:

„Gegenwärtig, so scheint es, sind wir auf nahezu allen Gebieten noch sehr weit von einer befriedigenden pädagogischen Forschungs- und Praxislage entfernt“.

(Kracht, 1995, 365)

Im Forschungsinstitut für Sprachtherapie und Rehabilitation am Lehrstuhl für Sprachbehindertenpädagogik an der Ludwig–Maximilians-Universität München unter der Leitung von Professor Dr. Manfred Grohnfeldt wird versucht, diesem Mangel an Forschung im Bereich Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit Abhilfe zu verschaffen. Im Rahmen dieses Forschungsinstituts durch Anregung von Frau Vassilia Triarchi-Herrmann, die das Gebiet der Mehrsprachigkeit besonders betreut, entstand die vorliegende empirische Längsschnittstudie, aus der zwei Magisterarbeiten hervorgingen.

Das Ziel der Untersuchung serbischer Vorschulkinder mit sukzessiver Zweisprachigkeit bestand darin, einen Beitrag zur Erhellung von Zweitspracherwerbsprozessen und deren Entwicklung, insbesondere beim Erwerb des Lautsystems, zu leisten. Gemeinsam mit meiner Kommilitonin Dunja Pavlović, die selbst bilingual mit den Sprachen Serbisch und Deutsch in Deutschland aufwuchs und dadurch über die notwendigen Sprachkenntnisse in der Erstsprache der Kinder verfügte, wurde die phonetisch-phonologische Entwicklung von 25 serbischen Kindern, die Deutsch als Zweitsprache erwerben, mit Hilfe von teilweise selbsterstellten Materialien untersucht. Um zwei separate Themengebiete für die Magisterarbeiten zu gewährleisten, fand eine Trennung zwischen der Beschreibung auf phonetischer bzw. phonologischer Ebene statt. Während Dunja Pavlović sich intensiver mit der phonetischen Entwicklung befasste, fokussiert mein empirischer Teil die phonologische Entwicklung. Dadurch soll nicht der Eindruck entstehen, dass es sich um zwei völlig unabhängige Entwicklungsebenen handelt. Vielmehr dient diese Trennung einem pragmatischen Zweck, wobei sie aufgrund theoretischer und praktischer Kenntnisse durchaus gerechtfertigt ist. Dennoch wird fortlaufend versucht, möglichst oft Bezug auf die Arbeit von Dunja Pavlović zu nehmen.

Beide Magisterarbeiten sind in einen theoretischen und einen praktischen Teil gegliedert. Da die Studie auf den gleichen theoretischen Grundlagen aufbaut, weichen die theoretischen Überlegungen bis auf die Unterteilung in der Beschreibung der phonetischen bzw. phonologischen Entwicklung kaum voneinander ab.

Zu Beginn des theoretischen Teils steht der Begriff Zweisprachigkeit zur Diskussion. Diese Ausführung ist notwendig, da sich im Laufe der Zeit verschiedene Wissenschaftsdisziplinen mit dieser Thematik beschäftigt haben und mittlerweile individuelle Begriffsbestimmungen kursieren. Es sollen jene Unklarheiten ausgeschlossen werden, die oftmals auf eine unreflektierte Begriffsverwendung zurückzuführen sind. Auf dieser Basis wird das Konzept Zweisprachigkeit aus verschiedenen wissenschaftstheoretischen Blickwinkeln beleuchtet und seine Komplexität und Abhängigkeit von verschiedenen Bedingungen herausgestellt. Nach den begrifflichen und konzeptuellen Erklärungen konzentriert sich der nächste Abschnitt auf den Erwerb von Zweisprachigkeit. Hierzu werden vier bekannte Hypothesen zum Zweitspracherwerb diskutiert, um aktuelle Aspekte für die Bildung eigener Hypothesen im empirischen Teil herauszufiltern. Im Anschluss widmen sich die Ausführungen der Phonologie als ein Strukturbereich des Spracherwerbs, wobei getrennt auf die phonologische Entwicklung im Erst- und Zweitspracherwerb eingegangen wird. Schließlich dient eine Darstellung des serbischen bzw. deutschen Konsonantensystems sowie ein kontrastiver Vergleich beider Systeme als Überleitung zur empirischen Längsschnittstudie.

Im praktischen Teil, der zugleich den Höhepunkt der Arbeit darstellt, steht die bereits angesprochene Untersuchung zur sukzessiven Zweisprachigkeit bei serbischen Vorschulkindern im Blickpunkt. Mit Hilfe eines für die serbische Sprache selbstentwickelten und bisher noch nicht erprobten Untersuchungsmaterials und des Screeningverfahrens zur Aussprache für deutsche Kinder nach Hacker & Wilgermein (2002) wurden die Kinder zu zwei Messzeitpunkten im Abstand von ca. sieben Monaten sowohl in der serbischen als auch in der deutschen Sprache getestet. Die gewonnenen Daten über den Entwicklungsstand des Konsonantensystems bzw. die phonologischen Prozesse standen im Anschluss einer quantitativen und qualitativen Auswertung zur Verfügung. Für meine Arbeit waren die phonologischen Prozesse und deren Entwicklung von besonderem Interesse. Die Ergebnisse werden hier präsentiert und mit Bezug auf theoretische Ansätze diskutiert.

Am Schluss steht ein Ausblick, der sich mit dem Einfluss dieses Beitrags zur Grundlagenforschung auseinandersetzt und der Frage nachgeht, welchen Weg er für die Erziehung, Therapie und Beratung von zweisprachigen Kindern weisen könnte.

THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

1. Was ist Zweisprachigkeit?

1.1 Terminologie und Begriffsbestimmung

1.1.1 Die Begriffsvielfalt

Bei der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Zweisprachigkeit und deren Erwerb stellt bereits die Literaturrecherche eine Herausforderung dar, da man nicht auf eine einheitliche Begrifflichkeit trifft. In der deutschen Literatur stößt man neben Zweisprachigkeit bzw. Erwerb der Zweisprachigkeit (Mertens, 1996, Kracht, 2000) auf die Begriffe Bilingualismus (Fthenakis, 1985), der überwiegend als Übertragung des aus dem englischsprachigen Raum stammenden bilingualism verstanden wird, oder Mehrsprachigkeit (Triarchi-Herrmann, 2002). Manche Autoren bevorzugen eine chronologische Unterscheidung in Form von Erst- bzw. Zweitsprache (oftmals als L1 und L2 abgekürzt), aus der Begriffe wie Erst- und Zweitsprach(en)erwerb (Felix, 1978) bzw. bilingualer Erstspracherwerb (Garlin, 2000) resultieren. Verständnisschwierigkeiten ergeben sich bei der Beschäftigung mit deutscher Literatur meist dann, wenn einige Autoren manche Begriffe synonym verwenden, sie bei anderen Forschern jedoch als Dichotomien Anwendung finden.

Bei der Übersetzung des französischen Artikels Le bilinguisme et le biculturalisme von Grosjean (1993) wird zum Beispiel auf die deutsche Bezeichnung Zweisprachigkeit verzichtet und ausschließlich von Bilingualismus gesprochen. Felix (1978) hingegen verwendet Bilingualismus nur in dem Zusammenhang, dass mehrere Sprachen gleichzeitig von Geburt an erworben werden. Dieser Erwerbstyp entspricht wiederum der Bedeutung von bilingualem Erstspracherwerb (Klein n. Mertens, 1996). Der Begriff Zweitspracherwerb bezieht sich nach Felix auf den „Erwerb einer zweiten Sprache, nachdem der Erwerb der Muttersprache bereits ganz oder teilweise abgeschlossen ist“ (Felix, 1978, 13). Der Erstspracherwerb steht demzufolge für den Erwerb der Muttersprache.

Die Differenzierung von Felix soll in dieser Abhandlung nicht verfolgt werden. Es wird versucht, den Begriff Zweisprachigkeit stringent beizubehalten. In bezug auf die englischsprachige Literatur ist er als Übersetzung von bilingualism zu verstehen, ohne dass daran ein besonderer Erwerbshintergrund geknüpft ist. Um eine dauerhafte Wiederholung zu vermeiden, wird sich der Vielzahl von Autoren angeschlossen, die Bilingualismus als deutsche Variante synonym mit Zweisprachigkeit gebrauchen. Bezüglich des Erwerbs von Zweisprachigkeit stehen die Abkürzungen L1- und L2-Erwerb bzw. Erst- und Zweitspracherwerb nicht mit der engen Verwendung von Felix in Beziehung, sondern tauchen nur dann auf, wenn eine chronologische Erwerbsreihenfolge der Sprachen gegeben ist. Die Beschränkung auf die Bezeichnung Zweisprachigkeit wird zudem dahingehend relativiert, dass es sich um die Verwendung von mindestens zwei Sprachen handelt:

„Die Mehrsprachigkeit ist mitgedacht, da (bis jetzt) keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen dem Lernen und dem Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen festzustellen sind.“ (Kracht, 2000, 133)

1.1.2 Definitionsansätze

Die kurz dargelegte Begriffsvielfalt lässt vermuten, dass Zweisprachigkeit ein komplexes und umfassendes Phänomen darstellt. Dies bestätigt sich in der Problematik, deren sich die Forschung bei der Definition dieses Begriffs gegenüber sieht. Baetens Beardsmore stellt zu Beginn seines Buches „Bilingualism: basic principles“ fest:

„It is not an easy task to start any discussion on bilingualism by positing a generally accepted definition of the phenomen that will not meet with some sort of criticism.“ (Baetens Beardsmore, 1982, 1)

Dennoch wird die Darstellung einiger Definitionsansätze für sinnvoll erachtet, um einen Überblick über die vielfältigen Wissenschaftsbereiche zu gewinnen, die sich mit der Thematik beschäftigen. Eine große Anzahl an Wissenschaften hat Erkenntnisse zum Thema Zweisprachigkeit beigetragen. Der anfangs vorwiegend aus der Linguistik stammenden Forschung folgten bald Arbeiten aus Psychologie, Soziologie, Psycho- bzw. Soziolinguistik und Pädagogik. Auch für die Wissenschaftsdisziplinen aus dem sprachtherapeutischen Bereich, in die sich die Sprachheilpädagogik einreiht, hat Bilingualismus in neuester Zeit zunehmend an Interesse gewonnen. Aufgrund spezifischer Forschungsinteressen stehen bei jeder Disziplin spezielle Aspekte im Vordergrund, welche die Basis für die Beschreibung von Konzepten bzw. Typologien der Zweisprachigkeit bilden.

Die Linguistik arbeitet auf der formalen Sprachebene, indem sie vorrangig die Struktur der bilingualen Sprache beschreibt und dadurch Rückschlüsse auf allgemeine Mechanismen von Sprachen und Spracherwerb ziehen möchte. Aus diesem Grund definiert sie Zweisprachigkeit über die Sprachkompetenz, die der bilinguale Mensch erreicht hat. Der Linguist Bloomfield bestimmt Zweisprachigkeit folgendermaßen:

„In ... cases where ... perfect foreign-language learning is not accompanied by loss of the native language, it results in bilingualism, native-like control of two languages.“

(Bloomfield, 1935, 55-56 zit. n. Baetens Beardsmore, 1982, 1)

Diese Definition kann durchaus auch innerhalb der Linguistik als kontrovers gelten, gesteht sie doch den Status der Zweisprachigkeit nur denjenigen Menschen zu, die über eine Sprachkompetenz wie die von zwei Monolingualen der jeweiligen Sprachen verfügen. Diese Annahme würde aber, wie sich noch zeigen wird, eine äußerst geringe Anzahl von bilingualen Personen einschließen.

Vorrangig im Zuge psycholinguistischer Definitionen, die statt der Sprachkompetenz die Funktion von Sprache in den Vordergrund stellen, wird diese Begriffsbestimmung kritisiert. So bemerkt Grosjean, dass diese Annahme den sprachlichen Fähigkeiten von bilingualen Menschen nicht entspricht.

„Das gleichzeitige Vorhandensein von zwei Sprachen und ihre Interaktion haben im Bilingualen ein Ganzes geschaffen, das schwer in zwei Monolingualismen aufteilbar ist.“ (Grosjean, 1993, 163)

Er versteht unter Bilingualismus den Gebrauch von zwei oder mehr Sprachen (Grosjean, 1982). Aus dieser sehr weitgefassten Definition ergibt sich, dass auch dann Zweisprachigkeit vorliegt, wenn nur eine der sprachlichen Modalitäten Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben in mehr als einer Sprache beherrscht wird. In einem Artikel von 1993 zeigt Grosjean weiterhin die Möglichkeit auf, den Bilingualismus nicht über die linguistische Kompetenz zu definieren, „sondern über die kommunikative Kompetenz, die sie (die bilinguale Person, eigene Anm.) bezüglich der alltäglichen Bedürfnisse aufweist“ (Grosjean, 1993, 163). Unter kommunikativer Kompetenz könnte man verstehen, dass der zweisprachige Mensch in der Lage ist, Mitteilungen in den jeweiligen Sprachen kontextangemessen zu verstehen und zu produzieren (Motsch, 1996, 75).

Die Psycholinguistik und auch die Psychologie beschäftigen sich neben der Fähigkeit des funktionalen Gebrauchs mehrerer Sprachen mit der Entwicklung, die zur Zweisprachigkeit führt. In dem Zusammenhang fallen Definitionen auf, die sich auf den Zeitpunkt beziehen, ab wann eine Person als bilingual gilt. Haugen legt fest:

„Bilingualism ... may be of all degrees of accomplishment, but it is understood here to begin at the point where the speaker of one language can produce complete, meaningful utterances in the other language.“ (Haugen, 1969, 6f. zit. n. Grosjean, 1982, 232)

Diese Definition ist jedoch insofern problematisch, da nicht zum Ausdruck kommt, was Haugen unter „ complete, meaningful utterances“ versteht. Sie könnte auch elliptische Ausdrücke einschließen, da sie ebenfalls komplette und bedeutungstragende Äußerungen darstellen. Ein Ausdruck wie zum Beispiel Prost! wird jedoch von vielen Menschen beherrscht, die oftmals keinen einzigen vollständigen deutschen Satz formulieren können. Es wäre äußerst fragwürdig, sie deshalb als bilingual zu bezeichnen.

Neben den bereits angesprochenen Wissenschaftsbereichen tragen auch die Soziologie bzw. die Soziolinguistik zu Erkenntnissen im Gebiet der Zweisprachigkeit bei. Aufgrund des spezifischen Forschungsgegenstandes, der in der Soziologie im Aufdecken von „formalen und inhaltlichen Zusammenhängen des Lebens gegenwärtiger und historischer Gesellschaften“ (Bertelsmann Lexikon, 1993, 5) besteht, wird die Rolle von Sprache(n) innerhalb der Gesellschaft untersucht. Dies wird vor allem in der Soziolinguistik deutlich, die sich zum Beispiel mit der Bedeutung von Dialekten, Jargons und Sprachstilen auseinandersetzt. Im Bereich Bilingualismus betrachtet sie den Einfluss von sozioökonomischen und sozialen Umständen, unter denen sich Zweisprachigkeit ausbildet (z.B.: unter Migrationsbedingungen).

Aus diesem Forschungsinteresse heraus erwuchsen neue Definitionen, die stärker den Zusammenhang von Sprache und Gruppenzugehörigkeit und die daraus resultierende wichtige Rolle von Spracherwerb im Rahmen der Identitätsfindung betonen.

Grosjean bemerkt dazu:

„It is a well-accepted notion among sociolinguistics that language is not just an instrument of communication. It is also a symbol of social or group identity, an emblem of group membership and solidarity.“ (Grosjean, 1982, 117)

Aus dieser Annahme wurde teilweise fälschlicherweise die Schlussfolgerung gezogen, Bilingualismus entspräche dem Zustand, wenn zwei Sprachen nebeneinander in einem Land existieren (Aucamp, 1926 n. Baetens Beardsmore, 1982). Diese Definition kann kaum die Mehrzahl von zweisprachigen Personen betreffen. Viele Menschen wachsen mit mehr als einer Sprache in einem Land auf, das allgemein als monolingual gilt. Bereits Haugen betont, dass Bilingualismus nicht notwendigerweise mit Bikulturalismus einhergehen muss (Haugen, 1956 n. Grosjean, 1982). Dennoch kann als soziolinguistischer Aspekt die Notwendigkeit festgehalten werden, Zweisprachigkeit mit Beachtung des jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und bildungspolitischen Hintergrundes zu erforschen.

Diesem Ansatz nähert sich auch die pädagogische Ebene, auf der Gogolin eine neue Perspektive hervorgebracht hat. Sie prägt den Begriff von „lebensweltlich zweisprachigen Kindern“ (Gogolin, 1997, 1) und kommt damit der oben genannten Forderung nach, die Zweisprachigkeit im Blickpunkt der besonderen Lebenssituation von bilingualen Personen, in ihrem Fall speziell der von Kindern zu betrachten. Gogolin hebt hervor, dass Kinder „neuer ethnischer Minderheiten “ in einer besonderen „Sprach–Lebens–Situation“ aufwachsen (Gogolin, 1988, 9f zit. n. Kracht, 1996, 357).

„Das 'Besondere' bestimmt sie (Gogolin, eigene Anm.) zum einen durch die notwendige zweisprachige Lebensorganisation einer emigrierten Familie im Einwanderungsland, zum anderen durch den Spracherwerb, der innerhalb dieses zweisprachig organisierten Lebens vollzogen werden muß.“ (Kracht, 1996, 357)

Dadurch liegt Zweisprachigkeit dann vor, wenn das alltägliche Leben nur über den Weg mehrerer Sprachen gemeistert werden kann.

Der hier gegebene Einblick in eine Auswahl an Definitionen, die versuchen, den Begriff Zweisprachigkeit zu fassen, machen durchaus das eingangs erwähnte Problem Baetens Beardsmores deutlich. Fraglich ist, ob eine einseitige Definition überhaupt anzustreben bzw. notwendig ist. Der Linguist Mackey macht bereits 1968 darauf aufmerksam, dass Bilingualismus „ nicht innerhalb der linguistischen Wissenschaft zu beschreiben [sei]: Wir müssen über sie hinausgehen“ (Mackey, 1968 zit. n. Fthenakis, 1985, 15). Diese Arbeit schließt sich dieser Meinung an und erachtet es als angemessener, statt Überlegungen zu einer „passenden“ Definition anzustellen, die ein allgemeines und wenig differenziertes Bild von Bilingualismus zeichnet, durch die Beschreibung verschiedener Konzepte bzw. Typen von Zweisprachigkeit der Komplexität des Phänomens und dessen Erwerbshintergründe gerecht zu werden. Solche Typologien bergen jedoch auch Gefahren der Vereinfachung, die zu einem „Schubladen-Denken“ führen können. Sie sollen an dieser Stelle nicht dazu dienen, jede bilinguale Person in ein einzelnes Schema zu pressen. Vielmehr verhelfen solche Typologien zu einer systematischen Vorgehensweise, um sich den umfassenden Kriterien für die Betrachtung von Zweisprachigkeit zu nähern und Anhaltspunkte für den individuellen Einzelfall zu gewinnen. Schließlich wird auch die Notwendigkeit einer interdisziplinären Sichtweise aufgezeigt. Dadurch soll keinesfalls die „Ganzheit“ des bilingualen Menschen (Grosjean, 1993) aus den Augen verloren werden.

1.2 Typologien der Zweisprachigkeit nach verschiedenen Kriterien

Für die Gliederung der Typologien wird ein Modell von Triarchi-Herrmann verwendet, das sie in ihrem Seminar „Zweisprachigkeit und Schriftspracherwerb“ im Wintersemester 2000 am Lehrstuhl für Sprachbehindertenpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München vorstellte. Sie unterscheidet drei verschiedene Bereiche zur Einordnung vorhandener Konzepte von Bilingualismus: Bedingungen beim Spracherwerb, linguistische und psycho- bzw. soziolinguistische Kriterien.

1.2.1 Bedingungen beim Spracherwerb

Triarchi-Herrmann hebt zwei Bedingungsfaktoren hervor, die bei Zweisprachigkeit eine Rolle spielen. Einerseits trifft man auf die Unterteilung in bezug auf das Alter, in dem die Person die Sprachen erwirbt. Andererseits liegen unterschiedliche Formen des Bilingualismus je nach Art des bilingualen Spracherwerbs vor.

Die wohl geläufigste Unterscheidung von Bilingualismus hinsichtlich des Alters bei Erwerb der Sprachen ist die Unterteilung in simultane versus sukzessive Zweisprachigkeit. Sie geht ursprünglich auf McLaughlin zurück:

„...a child who acquires two languages before the age of three is regarded as doing so simultaneously, whereas a child who acquires one language in infancy and the second after age three is considered to be doing so successively.“ (Grosjean, 1982, 179)

Beim Erwerb der simultanen Zweisprachigkeit werden die Kinder - oft durch den täglichen Einsatz von zwei oder mehr Sprachen innerhalb der Familie – von Geburt an mit Mehrsprachigkeit konfrontiert. Es erfolgt „ eine bewußte Erziehung zur Zweisprachigkeit“ (Mertens, 1996, 10).

Die erste umfangreiche Einzelfallstudie zu simultaner Zweisprachigkeit wird von Ronjat (1913) beschrieben. Er erzog seinen Sohn Louis von Geburt an nach dem Prinzip „une personne, une langue“. Dieses Prinzip wurde ihm von Maurice Grammont empfohlen, der in dieser Art von zweisprachiger Erziehung den Vorteil sah, dass jede Sprache eine feste Zuordnung zu einer Person erhält (Porsché, 1983) und möglichen Sprachmischungen vorgebeugt werden kann. Ronjat sprach mit seinem Sohn nur Französisch, während seine Frau sich ohne Ausnahme in Deutsch mit Louis unterhielt. Ein Problem stellt jedoch die Sprache dar, in der die Eltern vor dem Kind miteinander kommunizieren. Es muss vorher geklärt sein, welche Sprache als geeignet angesehen wird. Dies kann zum Beispiel wie bei Ronjat die jeweilige Sprache sein, die nicht Umgebungssprache ist, um dadurch ausreichenden Input von beiden Sprachen zu gewährleisten. Falls nicht beide Eltern über die erforderlichen Sprachkenntnisse verfügen und dennoch ihr Kind von Geburt an zweisprachig erziehen möchten, müssen andere Trennungsprinzipien gefunden werden. Penfield schlägt zum Beispiel vor, jede einzelne Sprache mit einer bestimmten Umgebung zu verknüpfen (Porsché, 1983). Weitere Ausführungen viel zitierter Einzelfallstudien zum Erwerb der simultanen Zweisprachigkeit können Porsché (1983) oder Taeschner (1983) entnommen werden.

Im Fall einer sukzessiven oder auch sequentiellen Zweisprachigkeit durchlaufen die Kinder zunächst einen gewissen Zeitraum der Einsprachigkeit und erwerben anschließend - meist in einem außerfamiliären Kontext - die zweite Sprache. Ein Beispiel dafür sind Kinder, die als Minorität in einem Land leben. Innerhalb der Familie erhalten sie zu Beginn des Spracherwerbs nur den Input einer Sprache und erst mit zunehmendem Alter treten sie mehr und mehr aus der Familie heraus - zum Beispiel mit Besuch des Kindergartens oder der Schule – und kommen mit der Umgebungssprache (d.h. der Sprache der Majorität) in engere Berührung.

Es muss jedoch betont werden, dass McLaughlins Grenze bei drei Jahren zur Bestimmung, ob simultane oder sukzessive Zweisprachigkeit vorliegt, eine willkürliche Festsetzung darstellt. Da der Spracherwerb je nach Sprache und Kind sehr variabel abläuft, wird vor einer allzu strikten Trennung bezüglich dieser Altersgrenze gewarnt. Jedoch könnte sie im Fall des Erwerbs der zweiten Sprache bei Kindern aus immigrierten Familien durchaus als sinnvolles Kriterium gelten, da die Mehrheit der Kinder mit drei Jahren in den Kindergarten kommt und zuvor kaum Kontakt mit der Landessprache hat.

Eine weitere Dichotomie in bezug auf das Alter bei Erwerb der Zweisprachigkeit stellt die Aufteilung in frühen versus späten Bilingualismus dar.

„By early bilingualism is meant the acquisition of more than one language in the pre-adolescent phase of life (...). Late bilingualism occurs when the first language is acquired before the age of more or less 11 and further languages are learned at some age beyond this period (...).“ (Baetens Beardsmore, 1982, 25)

Bei diesen zwei Formen von Bilingualismus geht man offensichtlich davon aus, dass der Erwerb einer zweiten Sprache vor Eintritt der Pubertät deutliche Unterschiede zu dem nach der Pubertät aufweist. Es gibt gerade im Zusammenhang mit dieser Fragestellung umfassende Diskussionen, inwieweit das Alter beim Erwerb der zweiten Sprache eine Rolle für den Grad der Beherrschung dieser Sprache spielt und ob im Allgemeinen eine kritische Periode im Spracherwerb existiert. Den Begriff der kritischen Periode hat der aus dem Bereich der Neurophysiologie stammende Forscher Lenneberg geprägt, wobei er die Pubertät als entscheidende Entwicklungsstufe ansieht, da circa mit dreizehn Jahren die zerebrale Dominanz für Sprache in vollem Ausmaß vorliegt (Fthenakis, 1985). Diese Hypothesen basieren auf Forschungen zur normalen Sprachentwicklung und Untersuchungen mit Aphasikern, welche meist zu der These führten, dass es ein optimales Alter für den Erwerb einer zweiten Sprache und damit auch für die bilinguale Erziehung gibt. Diese Diskussion leitet sich jedoch vor allem vom problematischen 1:1 Vergleich zwischen dem Spracherwerb bei Monolingualen und Bilingualen ab, der - wie bereits angesprochen - nicht kritiklos vollzogen werden kann. Zum Zusammenhang zwischen Lebensalter und Erwerb der Zweitsprache sei hier auf die umfangreiche Darstellung von Fthenakis (1985) verwiesen. Soviel sei dennoch hinzugefügt:

„Implizit sind mit der Frage nach dem optimalen Alter für den Zweitspracherwerb immer auch folgende Problembereiche mit angesprochen: Gestaltung und Durchführung pädagogischer Maßnahmen, Einfluß des kulturellen und sozialen Kontextes, Relation des Zweitspracherwerbs zur Muttersprache und zur kognitiven Entwicklung.“ (Fthenakis, 1985, 120)

Fthenakis weist zu Recht daraufhin, dass beim Zweitspracherwerb neben dem Alter zusätzliche Erwerbsbedingungen einen Einfluss auf die spätere sprachliche Kompetenz ausüben. Eine dieser Bedingungen ist die Art und Weise, in der die Sprachen erworben werden.

Dabei wird von natürlichem (Weiss, 1959 n. Fthenakis, 1985) bzw. ungesteuertem Zweitspracherwerb (Mertens, 1996) oder dem Begriff von primary bilingual (Houston, 1972 n. Baetens Beardsmore, 1982) gesprochen, wenn sich die Zweisprachigkeit nur durch den Kontakt mit Sprechern der jeweiligen Sprachen bzw. durch das Aufwachsen mit zwei oder mehr Sprachen ohne formale Unterweisung entwickelt. Demzufolge findet der Spracherwerb unter natürlichen Bedingungen und aufgrund von äußeren Umständen statt.

Demgegenüber steht der kulturelle bzw. gesteuerte Zweitspracherwerb oder auch die Bezeichnung secondary bilingual. Um die zweite Sprache zu erlernen, werden formale Lernverfahren eingesetzt, was einem „klassischen“ Fremdsprachenunterricht in der Schule oder in speziell angebotenen Sprachkursen entspricht.

Oftmals wird zur Stützung dieser differenzierten Betrachtung die Tatsache herangezogen, dass ein bilingualer Mensch mit dem Hintergrund eines natürlichen Zweitspracherwerbs nicht notwendigerweise in der Lage ist, von der einen Sprache in die andere zu übersetzen. Er verwendet die zwei Sprachen aktiv und passiv „ohne die Notwendigkeit des Übersetzens“ (Fthenakis, 1985, 17). Im Fremdsprachenunterricht wird jedoch speziell die Fähigkeit des Übersetzens von einer in die andere Sprache (oft mühsam) eingeübt.

Mertens (1996) wirft ein, dass insbesondere bei Kindern ausländischer Arbeitnehmer die Grenze zwischen beiden Erwerbsformen nicht eindeutig zu ziehen ist, da die Kinder bei Eintritt in eine Vorschule oder Schule auch mit gesteuertem Zweitspracherwerb durch Unterricht in der Landessprache konfrontiert werden.

Während sich die Einteilung aufgrund von Erwerbsbedingungen trotz einiger Kritikpunkte als einleuchtend erweist, gestaltet sich die Typologie nach linguistischen Kriterien eher schwierig. Die Linguisten bestimmen die Zweisprachigkeit über die Kompetenz in den Sprachen und unterscheiden verschiedene Konzepte zum Bilingualismus hinsichtlich der sprachlichen Fähigkeiten.

1.2.2 Linguistische Kriterien

Um die linguistischen Konzepte zur Zweisprachigkeit richtig zu deuten, muss die Zielsetzung betrachtet werden, mit der diese Modelle entworfen wurden. Sie entstanden aus Vermutungen darüber, wie ein bilinguales Sprachsystem aufgebaut ist. Eine der Fragen war, ob der zweisprachige Mensch über ein oder zwei Lexika verfügt. Es handelt sich also nicht um Versuche, bilinguale Person in Gruppen einzuordnen. Aufgrund dieser Fehlinterpretation haben sich bereits einige Missdeutungen dieser Modelle ergeben (Kritik s. Wölck, 1984).

Wenn wir der Gliederung von Triarchi-Herrmann folgen, ergeben sich zwei Kriterien zur Einordnung der in diesem Bereich thematisierten Typen von Bilingualismus. Auf der einen Seite steht der Zusammenhang zwischen sprachlichen Symbolen und Bedeutung, auf der anderen das Sprachniveau, das der Bilinguale in beiden Sprachen aufweist.

Zur Diskussion, in welcher Beziehung sprachliche Zeichen und Bedeutung im bilingualen Sprachsystem stehen, hat zweifellos U. Weinreich mit der theoretischen Auseinandersetzung in seinem Buch „Language in contact“ (1953, 1968) einen entscheidenden Anstoß gegeben. Weinreich unterscheidet drei Typen von Zweisprachigkeit: coordinative (koordinierter), compound (zusammengesetzter) und subordinate (untergeordneter) bilingualism (Grosjean, 1982).

Beim coordinative bilingualism werden zwei getrennte Sprachsysteme mit jeweils sprachspezifischen Bedeutungen und Symbolen angenommen, d.h. jede Sprache besitzt ein von der anderen Sprache unabhängiges System. Der compound bilingualism kennzeichnet sich dadurch, dass der bilinguale Mensch über ein Bedeutungssystem verfügt, das die gemeinsame Basis für die Bildung der entsprechenden Wörter in der jeweiligen Sprache stellt, „that is, each word conjures up the same reality“ (Grosjean, 1982, 240). Beim subordinate bilingualism existiert wiederum nur eine Bedeutung, die allerdings der Sprache zugehörig ist, die zuerst erworben wurde (meist als Muttersprache bezeichnet). Das äquivalente Wort der Zweitsprache leitet sich jedoch nicht aus der Bedeutungseinheit ab, sondern erst aus dem Wort der Erstsprache, d.h. eine Art Übersetzung findet statt. Daraus resultieren eine dominante und eine dominierte Sprache.

Grosjean (1982) betont zusätzlich, dass Weinreich dieses dreiteilige Modell auf alle sprachsystematischen Ebenen bezieht, d.h. neben dem Lexikon auch auf die Bereiche Phonologie und Syntax.

Mit Weinreichs Modell haben sich eine große Anzahl von Wissenschaftlern aller Gebiete, die sich mit Bilingualismus beschäftigen, auseinandergesetzt. Vor allem Ervin & Osgood (1954) gaben diesem Ansatz eine neue Dimension. Ihre Hypothese beinhaltet nur zwei Typen von Zweisprachigkeit: den coordinate und den compound bilingualism. Der subordinate bilingualism wird im compound bilingualism integriert. Ervin & Osgood bezogen sich hauptsächlich auf die lexikalische Sprachebene. Sie konzentrierten sich allerdings auf die Frage, wie ein Mensch jeweils zu einem koordinierten oder zusammengesetzten Bilingualismus gelangt. Somit entwickelten sie die Hypothesen, dass die Zweisprachigkeit vom koordinierten Typ, bei dem zwei völlig getrennte Sprachsysteme angenommen werden, dann entsteht, wenn die Person beide Sprachen in jeweils verschiedenen Kontexten erwirbt. Dies wäre zum Beispiel bei einem Kind der Fall, das eine Sprache ausschließlich zuhause spricht und die andere nur außerfamiliär im Kindergarten oder in der Schule. Der compound bilingualism hingegen, der sich durch ein gemeinsames Bedeutungssystem auszeichnet, bildet sich durch vermischte Lernkontexte heraus, in denen beide Sprachen im Wechsel angewandt werden, wie das zum Beispiel beim Fremdsprachenunterricht in der Schule der Fall ist (Grosjean, 1982).

Die von Weinreich aufgestellte Theorie und das von Ervin & Osgood überarbeitete und modifizierte Modell führte aufgrund von fehlenden oder widersprüchlichen empirischen Befunden zu einer Reihe von Kritik unter den Forschern. Zudem wurde das letztere Modell voreilig dahingehend gedeutet, den coordinate bilingualism als das anzustrebende Ideal von Zweisprachigkeit zu betrachten. Neben Grosjean (1982) übt Wölck (1984) immense Kritik an dieser Art von Anwendung des Modells von Ervin & Osgood:

„Auf der Suche nach Modellen, Zielen und Maßstäben für den zweisprachigen Unterricht wurden natürlich Lehrer und Planer bald auf das Ervin-Osgood’sche Modell aufmerksam. Hierbei kam es dann zu der m.E. tragischsten und folgenschwersten Mißdeutung und Fehlanwendung dieses Modells. Sie bestand und besteht leider immer noch darin, ein reines koordiniertes System, welches Ervin und Osgood ja nur als vielleicht idealen Endpunkt ihres Kontinuums hinstellten, nicht nur als realistisches Ziel des Zweitsprachen- oder Fremdsprachenunterrichts hinzustellen, sondern als ausdrückliches Endziel und alleinige endgültige Aufgabe der zweisprachigen Erziehung für Kinder sprachlicher Minderheiten offiziell zu deklarieren.“ (Wölck, 1984, 110)

Man kann sich unschwer vorstellen, welche Gefahr diese Art von freizügiger Deutung birgt. Wird vom bilingualen Kind das Erreichen eines koordinierten Bilingualismus verlangt, sieht es sich den meist unerfüllbaren Ansprüchen gegenüber, beide Sprachen auf dem Niveau der jeweiligen monolingualen Hochsprache zu beherrschen, d.h. ohne jegliche Beeinflussung der Sprachsysteme untereinander. Aber „the bilingual is not two monolinguals in one person“ (Grosjean, 1989, 3 zit. n. Kracht, 1996, 356). Deshalb sei davor gewarnt, die Hypothesen von Ervin & Osgood zur Begründung erzieherischer Zielsetzungen heranzuziehen. Obwohl das coordinate – compound – (subordinate) - Modell aus verständlichen Gründen starker Kritik ausgesetzt war, hat es richtungsweisenden Einfluss in der Zweitspracherwerbsforschung genommen und in Ansätzen Anstoß zu weiterer Theoriebildung gegeben.

Während sich das letztere Modell mit der Frage nach dem strukturellen Aufbau des bilingualen Sprachsystems beschäftigt, betrachten die Linguisten auch die funktionelle Ebene des Sprachniveaus. Gibt es ein Kriterium, ab wann man eine Person als bilingual bezeichnen kann? Baetens Beardsmore zufolge existiert eine große Bandbreite von Meinungen unter den Forschern, die sich von einem minimalistischen bis zu einem maximalistischen Standpunkt erstreckt (Baetens Beardsmore, 1982). Da unter dem Punkt Definitionen bereits teilweise darauf eingegangen wurde, beschränkt sich dieser Abschnitt auf die Begriffe des ambilingualism und balanced bilingualism.

Der ambilingualism wird von Halliday, McKintosh & Strevens (1970) vertreten, die eine maximalistische Haltung in bezug auf die notwendige Sprachbeherrschung eines „wahren“ Bilingualen einnehmen. Demnach muss die zweisprachige Person in der Lage sein, beide Sprachen in allen Lebensbereichen gleichwertig einsetzen zu können, ohne dass sich Einflüsse einer Sprache in der anderen finden lassen (Baetens Beardsmore, 1982). Wie bereits öfter erwähnt, ist diese Definition von Zweisprachigkeit äußerst problematisch und wohl eher unrealistisch. Allein die Tatsache, dass die Sprachen häufig in unterschiedlichen Kontexten erworben und angewendet werden, lässt an der Gleichwertigkeit in allen Lebensbereichen zweifeln. Selbst bei Monolingualen ist besonders der Umfang des Lexikons an das Ausmaß von Erfahrungen gebunden, die man im Laufe des Lebens sammelt. Baetens Beardsmore merkt zu der Theorie des ambilingualism an:

„As the discussion about ambilingualism is careful to point out, the complete ambilingual is a rare if not non-existent species since the implication is that the speaker in question has lived a double life in which all of his activities in one language have been or could be reduplicated in the other.“ (Baetens Beardsmore, 1982, 7)

Der Begriff des balanced (ausgewogenen) bilingualism ist eine Art abgeschwächtere Variante zum ambilingualism. Beim balanced bilingualism verfügt die zweisprachige Person über ein gleichwertiges Sprachniveau in beiden Sprachen und sie kann fließend in beiden Sprachen kommunizieren. Sie unterscheidet sich jedoch vom monolingualen Sprecher, da sich im Gespräch Abweichungen zeigen, die auf Einflüsse der momentan nicht gesprochenen Sprache hinweisen. Dennoch stellt der balanced bilingualism ebenso wie der ambilingualism einen Idealfall dar und repräsentiert nicht die „breite Masse“ von zweisprachigen Sprechern. Häufiger haben wir es mit non-fluent bilinguals zu tun, die in mindestens einer Sprache deutliche Unterschiede zur monolingualen Sprachnorm aufweisen (Baetens Beardsmore, 1982). Es bleibt erneut die Frage, inwieweit eine Messung des Sprachniveaus von zweisprachigen Personen anhand von monolingualen Kriterien sinnvoll ist und der außergewöhnlichen bilingualen Sprachfähigkeit Rechnung trägt. Aus diesem Grund fordert Grosjean geeignete Methoden, um Zweisprachigkeit nicht mehr auf der Grundlage monolingualer Standards und daraus entwickelten Untersuchungsmitteln zu erforschen, denn „jede Kommunikationsform besitzt ihre eigene Ökologie und müsste deshalb mit ihr entsprechenden Methoden analysiert werden“ (Grosjean, 1993, 175).

Eine weitere zentrale Fragestellung in der Forschung zum Bilingualismus betrifft den Einfluss, den Zwei- oder Mehrsprachigkeit auf die kindliche Entwicklung besonders im Bereich Kognition ausübt. Insbesondere Psychologen und Pädagogen interessieren sich dafür, ob das Erlernen von mehr als einer Sprache negative oder positive oder gar keine Auswirkungen auf die kognitive, emotionale und sprachliche Entwicklung des Kindes hat. Dieser Problematik widmet sich vorrangig die Psycho- bzw. Soziolinguistik. Schließlich wird damit auch der Bogen zur Sprachheilpädagogik geschlagen und zur Diskussion, ob mehrsprachige Kinder generell sprachlicher Förderung bedürfen. Auf dieses Problemfeld soll jedoch an anderer Stelle näher eingegangen werden.

1.2.3 Psycho- bzw. soziolinguistische Kriterien

In bezug auf die Effekte von zweisprachiger Entwicklung wurde von einigen Forschern festgestellt, dass soziologische, soziale und psychologische Variablen eine wesentlich größere Rolle spielen als die besondere Anforderung des Erwerbs von zwei Sprachen. Im Folgenden soll dies anhand der Termini des additiven und subtraktiven Bilingualismus sowie des Semilingualismus referiert werden.

Die Unterscheidung von additivem versus subtraktivem Bilingualismus wurde von Lambert in den 70er Jahren eingeführt. Er beschäftigte sich u.a. mit der zweisprachigen Erziehung in der Schule und mit der Frage, wie der Stellenwert und das Ansehen der Sprachen innerhalb der schulischen Ausbildung die sprachliche Entwicklung beeinflussen können. Kinder, die einen additiven Bilingualismus ausbilden, erlernen die Zweitsprache zusätzlich zu der Erstsprache, ohne dass damit Verluste oder negative Effekte auf die Erstsprache verbunden sind. Diese Kinder gehören meist besseren sozialen Schichten oder einer Majorität im Land an, wodurch der Erwerb der Zweisprachigkeit als Gewinn für das Kind betrachtet und demnach angestrebt wird, beide Sprachen gleichwertig zu behandeln.

„Beim subtraktiven Bilingualismus verdrängt die zweite Sprache das Sprachrepertoire der ersten Sprache, so dass diese nicht mehr so vollständig erlernt und gebraucht werden kann, wie dies bei einer einsprachigen Entwicklung der Fall ist“ (Mertens, 1996, 11). Es hat sich herausgestellt, dass der subtraktive Bilingualismus v.a. dort anzutreffen ist, wo der Erstsprache ein verminderter Stellenwert zugesprochen wird, wie dies oft bei ethnischen Minderheiten der Fall ist. In der Schule besteht eine Unterrichtung, die den Erwerb der Majoritätensprache anstrebt und die Erstsprache allmählich in den Hintergrund treten lässt. Ebenso kann es zu subtraktivem Bilingualismus kommen, wenn das Erlernen der Zweitsprache aufgrund von politischem Druck erzwungen wird (z.B.: in ehemaligen Kolonialstaaten).

Die Ausführungen zeigen, dass ohne die Betrachtung der sozialen, sozioökonomischen und bildungspolitischen Variablen, die beim Erwerb der Zweisprachigkeit eine Rolle spielen, Ergebnisse in bezug auf die Auswirkungen von Bilingualismus fehlinterpretiert werden würden. So könnte das Vorliegen eines subtraktiven Bilingualismus als Beweis gedeutet werden, dass der Erwerb einer zweiten Sprache zwingend zu einer „Verkümmerung“ der sprachlichen Fähigkeiten in der Erstsprache führt. Grosjean (1982) wirft deshalb die Frage auf, ob nicht eher die Unterschiede bezüglich psychosozialer und sozioökonomischer Voraussetzungen zwischen zweisprachig aufwachsenden Kindern zu den unterschiedlichen Ergebnissen führen, die sich bezüglich der Auswirkungen von Zweisprachigkeit auf die kindliche Entwicklung finden lassen:

„Es sind in erster Linie diese Faktoren (Schulbildung, Gruppenzugehörigkeit etc., eigene Anm.) , welche die angeblichen Vor- und Nachteile des Bilingualismus bestimmen und nicht die Tatsache, dass jemand sich täglich einer, zwei oder mehrerer Sprachen bedient. Verlassen wir unsere westlichen Gesellschaften, wo Bilingualismus oft mit der Zugehörigkeit zu einer sprachlich und kulturellen Minderheit gekoppelt ist, dann können wir uns von der Richtigkeit dieser Feststellung überzeugen.“

(Grosjean, 1993, 165)

Unter diesem Blickwinkel ist auch der Begriff Semilingualismus kritisch zu betrachten. Er entstand aufgrund von Untersuchungen, die Hansegård mit Schulkindern durchführte, die einer finnischen Minderheit in Schweden angehörten. Die Kinder zeigten nicht nur in einer Sprache, sondern sowohl in Finnisch (der Erstsprache) als auch in Schwedisch (der Zweitsprache) eingeschränkte Sprachfähigkeiten. Weiter verfolgt wurde diese Problematik der finnischen Kinder in Schweden vor allem durch Skutnabb-Kangas & Toukomaa. Viele Forscher verallgemeinerten diese Ergebnisse voreilig und unreflektiert und deuteten sie sogar als Beweis, dass zweisprachige Erziehung stets zu einer Art Halbsprachigkeit führt. Außerdem wendete man den Begriff des Semilingualismus auf verschiedenste Bereiche an, obwohl die skandinavischen Forscher ihn nur in bezug auf den schulischen Kontext und die besondere Situation von Minderheitenkindern definierten. Dies geschah auch in der Sprachbehindertenpädagogik (Kracht, 1995). Einige Forscher fanden jedoch heraus, dass die Identifikation mit der Erstsprache und der Grad ihrer Wertschätzung entscheidenden Einfluss darauf ausüben kann, ob Kinder einen Semilingualismus ausbilden. Zudem müssen die gefundenen Sprachrückstände der finnischen Minderheitenkinder in Schweden relativiert werden, da die Ergebnisse wieder auf dem Vergleich mit Sprachtests von monolingualen Kindern basierten. Baetens Beardsmore schlägt deshalb folgende Sichtweise vor:

„Although it may well be that the bilingual does not possess a complete repertoire of each separate language he uses, owing perhaps to functional specialisation determined by the circumstances of his life experience, his total range across both languages is likely to be similar to that of a monoglot.“ (Baetens Beardsmore, 1982, 11 f.)

Der Autor räumt die Existenz des Semilingualismus insofern ein, wenn eine bilinguale Person in beiden Sprachen auf der funktionalen Ebene deutlich eingeschränkt ist, wobei dies meist soziale oder psychologische Ursachen hat und sich nur in der Sprache äußert (Baetens Beardsmore, 1982). Auch Kracht (2000) erklärt, dass zum Beispiel Kinder aus immigrierten Familien besonderen sozialen Bedingungen und damit möglichen Problemen im Spracherwerb ausgesetzt sind. Obwohl der Begriff Semilingualismus für sie fraglich bleibt, weist sie auf das damit verbundene positive Ziel der skandinavischen Forscher hin, die für eine Gleichberechtigung von Erst- und Zweitsprache im Unterricht eintraten.

Die Darstellung der verschiedenen Kriterien, die zur Typologie von Zweisprachigkeit führen, hat gezeigt, dass Konzepte und Modelle nicht ohne ihre theoretischen Bezüge und ihre Entstehungskontexte betrachtet werden können, wenn man einer Fehldeutung vorbeugen möchte. Dies trifft auch auf die Theorien zu, die zum Erwerb der Zweisprachigkeit aufgestellt wurden. Vier der „großen“ Hypothesen werden im Folgenden beschrieben, um im Anschluss Einzelaspekte aufzugreifen, die in der heutigen Diskussion zur Zweitspracherwerbsforschung relevant sind.

2. Theorien zum Erwerb der Zweisprachigkeit

Großes Interesse in der Erforschung des Zweitspracherwerbs galt der Frage, inwieweit die Erstsprache auf die Zweitsprache Einfluss ausübt bzw. ob sich der Verlauf sprachlicher Entwicklung wesentlich verändert, wenn mehr als eine Sprache involviert ist. Diese Überlegungen spiegeln sich in vier verschiedenen theoretischen Ansätzen wider, wobei jede Hypothese Teilaspekte in die Diskussion zum Zweitspracherwerb einbringt, deren relative Bedeutung es in einer kritischen Betrachtung abzuwägen gilt.

2.1 Die Kontrastivhypothese

Diese Hypothese wurde erstmals Ende der 40er bzw. Anfang der 50er Jahre formuliert, in einer Zeit, als behavioristische Lerntheorien vorherrschten. Sie ist eng verknüpft mit Fries und Lado, die sich nicht mit dem natürlichen Zweitspracherwerb befassten, sondern mit der Gestaltung von effektiven Lernmethoden zum Erwerb des Englischen im Fremdsprachenunterricht.

Die Kontrastivhypothese besagt, dass der Lerner beim Erwerb der Zweitsprache Strukturen der Erstsprache (native language) kontinuierlich auf die Zweitsprache überträgt, was als Transfer bezeichnet wird (Selinker, 1992). „Führt der Transferprozeß zu einem sprachlichen Resultat, das mit den zweitsprachlichen Regeln und Normen übereinstimmt, so liegt positiver Transfer vor (...); führt der Transferprozeß jedoch zu zweitsprachlich fehlerhaften Äußerungen, so liegt negativer Transfer oder Interferenz vor (...)“ (Bausch & Kasper, 1979, 5).

Daraus resultiert folglich, dass der Erwerb einer zweiten Sprache durch die Struktur der Erstsprache beeinflusst wird und demnach wesentlich vom monolingualen Spracherwerb abweicht.

Da Fries und Lado im Fremdsprachenunterricht negativen Transfer soweit wie möglich ausschließen wollten, beschäftigten sie sich mit Kontrastiven Analysen der involvierten Sprachen, mit deren Hilfe Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede in den Strukturen der Erstsprache im Vergleich zur Zweitsprache herausgefiltert wurden. Sie stellten die Hypothese auf, dass ähnliche Strukturen in beiden Sprachen beim Zweitspracherwerb leichter erlernt werden, Unterschiede jedoch zu Schwierigkeiten führen. Diese Schwierigkeiten zeigen sich in Fehlern verglichen mit der jeweiligen monolingualen Sprachnorm. Auf der Grundlage von Kontrastiven Analysen sollte es möglich werden, diese Fehler im Zweitspracherwerb zu prognostizieren. Eine Prognose würde die Chance bedeuten, geeignete Lehrmethoden zu entwerfen, die jene Fehler weitgehend vermeiden.

Diese starke Version der Kontrastivhypothese gilt heute als widerlegt (Bausch & Kasper, 1979). Sowie von Felix (1978) als auch von Bausch & Kasper (1979) wird vor allem die Tatsache hervorgehoben, dass beim Zweitspracherwerb Fehler auftreten, die sich nicht auf Interferenzen bzw. auf den Einfluss der Erstsprache zurückführen lassen und demnach andere Prozesse am Erwerb der L2 beteiligt sein müssen. Felix (1978) stellt zudem fest, dass die Rolle von Interferenz je nach Strukturbereich differiert und demzufolge zum Beispiel Unterschiede im Einfluss von Interferenz zwischen Phonologie und Syntax bestehen. Wode zieht daraus folgende Konsequenz:

„Transfer kommt durchaus im natürlichen L2-Erwerb vor; die einzelnen sprachlichen Strukturbereiche sind jedoch unterschiedlich stark anfällig für Transfer.“

(Wode, 1993, 98)

2.2 Die Identitätshypothese

Mit dieser Hypothese verbindet man hauptsächlich die Namen Dulay und Burt. Ein wesentlicher Unterschied zur Kontrastivhypothese ist der veränderte Blickwinkel, in dem Spracherwerbsprozesse betrachtet werden (Bausch & Kasper, 1979). Diese Hypothese entstand im Zuge einer allgemeinen Wende Anfang der 70er Jahre, in der man sich von behavioristischen Ideen abwandte und kognitive bzw. nativistische Erklärungsansätze verfolgte.

Vertreter der Identitätshypothese oder auch L1 = L2 – Hypothese (Felix, 1978) gehen davon aus, dass der Erwerb der Zweitsprache (L2) auf denselben Prozessen bzw. Mechanismen beruht, die beim Erwerb dieser Sprache als Erstsprache (L1) ablaufen. Demzufolge wird der L2-Erwerb nicht durch die Struktur der L1 gesteuert, wie es die Kontrastivhypothese voraussagt, sondern durch die Struktur der L2. Auftretende „Fehler“, die in der Kontrastivhypothese als Interferenzen gedeutet werden, entstehen ebenso wie im L1-Erwerb aufgrund der Struktur der Zweitsprache. Grundsprachlicher Transfer wird von Dulay und Burt als Spracherwerbsprozess ausgeschlossen (Bausch & Kasper, 1979), andere Vertreter dieses Ansatzes sprechen den Interferenzen keine bzw. eine geringe Rolle beim Zweitspracherwerb zu (Wode, 1993).

Ähnlich wie die Kontrastivhypothese wurde die Identitätshypothese kritisch hinterfragt und scheint in dieser strikten Form nicht haltbar. Wie bereits zitiert, hebt besonders Wode (1982a) den grundsprachlichen Transfer als relevanten Prozess im bilingualen Spracherwerb hervor. Bislang konnten Interferenzen im Zweitspracherwerb zumindest nicht ausgeschlossen werden. Zudem bleibt die Tatsache unbestritten, dass eine Person beim Zweitspracherwerb gegenüber dem Erstspracherwerb andere Voraussetzungen für die Sprachentwicklung mitbringt. Schließlich hat sie allein aufgrund des Alters bei Beginn des L2-Erwerbs bereits bestimmte Entwicklungsstufen erreicht bzw. überwunden und befindet sich auf einem höheren kognitiven Niveau, als dass beim Kontakt mit der Erstsprache der Fall ist. Inwieweit diese veränderte Ausgangssituation den bilingualen Spracherwerb beeinflusst, wird in Wode (1993) ausführlich diskutiert. Trotz der genannten Kritikpunkte können einige universelle Prinzipien des Spracherwerbs, die der Identitätshypothese zugrunde liegen, heute als bewiesen gelten (s. Punkt 2.5).

2.3 Die Interlanguage - Hypothese

Obwohl sich bereits einige Forscher (u.a. Corder) mit der Idee von Lernersprachen auseinandergesetzt hatten, wurde durch den Begriff der Interlanguage von Selinker damit erstmals eine spezielle Zweitspracherwerbshypothese verknüpft. Er hält fest, dass in der Realität das Sprechen zweisprachiger Personen äußerst selten der erwarteten Norm in der Zielsprache entspricht. Selinker bringt im Begriff Interlanguage zum Ausdruck, welche Systematik in den Abweichungen von der Sprachnorm vorherrscht.

„The key idea is there, that the learner’s ’observable output...is highly structured...‘ and that it ’...must be dealt with as a system, not as an isolated collection of errors“ (Selinker, 1992, 231).

Der Zweitspracherwerbsprozess vollzieht sich, indem „learners regularly compare what they produce in IL with a perceived target, setting up interlingual identifications“ (Selinker, 1992, 251). Interlanguages stellen eigenständige Sprachsysteme dar, die nicht nur auf Strukturen aus Erst- bzw. Zweitsprache reduziert sind, sondern gleichzeitig eigene, zu keiner der involvierten Sprachnormen zugehörige Strukturen zeigen (Bausch & Kasper, 1979, 15).

Neben dieser allgemeinen Aussage erweist sich die Hypothese von Interlanguages von großem Nutzen in bezug auf eine differenziertere Betrachtung der Natur von Prozessen, die beim Spracherwerb ablaufen.

[...]

Fin de l'extrait de 129 pages

Résumé des informations

Titre
Empirische Längsschnittstudie zur phonologischen Entwicklung bei sukzessiver Zweisprachigkeit von serbischen Vorschulkindern
Université
LMU Munich  (Sonderpädagogik)
Note
1,65
Auteur
Année
2003
Pages
129
N° de catalogue
V16004
ISBN (ebook)
9783638209656
ISBN (Livre)
9783638699426
Taille d'un fichier
878 KB
Langue
allemand
Mots clés
Empirische, Längsschnittstudie, Entwicklung, Zweisprachigkeit, Vorschulkindern
Citation du texte
Anja Pfaff (Auteur), 2003, Empirische Längsschnittstudie zur phonologischen Entwicklung bei sukzessiver Zweisprachigkeit von serbischen Vorschulkindern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16004

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