Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung und Erläuterung der Vorgehensweise
2 Das Verhältnis zwischen Ignaz Denner und Andres
2.1 Die Konstruktion der ökonomischen Abhängigkeit
2.2 Die Bindung Denners an Andres
2.3 Die emotionale Verbindung zwischen Andres und Denner
3 Denner und Andres als polarisierte Seelenteile einer Person
3.1 Schubert und sein Einfluss auf das Werk Hoffmanns
3.2 Denner und Andres : Eine komplexe Figur?
4 Fazit und weitergehende Überlegungen
5 Literaturverzeichnis
1 Einführung und Erläuterung der Vorgehensweise
Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Nachtstücke[1] werden 1816 und 1817 von der Realschulbuchhandlung in Berlin veröffentlicht. Hatte die zeitgenössische Literaturkritik Hoffmanns Fantasiestücke in Callot’s Manier noch durchaus positiv aufgenommen, ist die Reaktion auf die Nachtstücke sehr viel verhaltener.[2] So weist der einflussreiche schottische Schriftsteller Sir Walter Scott den Sandmann, der den Erzählband eröffnet, als im Opiumrausch entstandenes Machwerk zurück, das gegen jeden guten Geschmack verstoße,[3] und Johann Wolfgang Goethe verurteilt die Nachtstücke als „krankhafte [...] Werke“ eines „leidenden Mannes“[4].
Auch die literaturwissenschaftliche Forschung hat die Bedeutung der Nachtstücke spät erkannt, doch die meisten der acht Geschichten waren und sind Gegenstand zahlreicher Arbeiten. Die selten beachtete Erzählung Ignaz Denner bildet in diesem Kontext eine große Ausnahme.[5] So verurteilt beispielsweise der Hoffmann-Biograph Eckart Klessmann dieses zweite Nachtstück als „eine der schwächsten Geschichten Hoffmanns“.[6] Wie kommt eine solche Einschätzung zustande? Renate Böschenstein sieht einen Grund in der „Textoberfläche, deren [...] transparente Struktur vom Kampf [...] des Göttlichen und des Teuflischen [...] beherrscht ist.“[7] Diese scheinbare Eindeutigkeit der Erzählung lässt sie womöglich als nicht-interpretationsbedürftig erscheinen.
Berichtet wird die Geschichte des Revierjägers Andres, der eines Tages Besuch vom Kaufmann Ignaz Denner erhält, der ihm in einer hoffnungslos erscheinenden Situation hilft. Es stellt sich bald heraus, dass Denner der Kopf einer Räuberbande, und darüber hinaus, der Vater von Andres’ Frau Giorgina ist. Er sucht immer wieder die Nähe zur Familie, um aus dem Blut von Andres’ Sohn ein lebensverlängerndes Elixier zu kochen. Nach weitläufigen Verstrickungen und dem Tod Giorginas erschießt Andres seinen Widersacher Denner, als dieser ein letztes Mal versucht seinen Enkel zu schlachten.
Diese Arbeit soll nun der Frage nachgehen, ob sich Hoffmanns Geschichte vom frommen Revierjäger Andres und dem Räuberhauptmann und Kindermörder Ignaz Denner als Studie über die Zwiegespaltenheit des Menschen interpretieren lässt. Demnach ließe sich die These formulieren, dass Denner und Andres eine Einheit darstellen, in der sowohl die gute, als auch die schlechte Seite der menschlichen Seele repräsentiert sind. Um diese These zu unterstützen werde ich in einem ersten Schritt Textstellen analysieren, um das Verhältnis zwischen Ignaz Denner und Andres zu beleuchten. Besondere Aufmerksamkeit gilt hier der Konstruktion der auf mehreren Ebenen wirkenden engen gegenseitigen Bindung, die beide Figuren im Laufe der Handlung in immer größere Abhängigkeit treibt. Das zweite Kapitel soll die Erkenntnisse des Arztes und Philosophen Gotthilf Heinrich Schubert, dessen Werk Hoffmann gut kannte und unter anderem in den Elixieren des Teufels literarisch verarbeitete,[8] in den Interpretationsvorgang einbeziehen. Abschließend werde ich auf den Geltungsradius einer solchen Interpretation eingehen.
2 Das Verhältnis zwischen Ignaz Denner und Andres
2.1 Die Konstruktion der ökonomischen Abhängigkeit
Um die Beziehung zwischen Andres und Ignaz Denner adäquat zu beschreiben, lohnt sich ein Blick auf das erste Zusammentreffen beider Figuren. Andres begibt sich hier in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Denner, das die folgende Handlung der Geschichte bestimmt und motiviert.
Nachdem der Graf von Vach Andres aus Dankbarkeit einen Posten als Revierjäger zugewiesen hat, fristen er und seine Familie ein „beschwerliches, mühseliges“ und „dürftiges Leben“.[9] Diese Ausgangssituation steigert sich zunehmend ins Ausweglose. So sind sie im Wald Gewalten ausgesetzt, die die Situation der Familie auf mehreren Ebenen negativ beeinflussen. Freischützen und Holzdiebe beeinträchtigen Andres’ Arbeit, da sie eine allgegenwärtige Gefahr darstellen, während Wildschweine und Wölfe den Gemüsegarten verwüsten und so das Leben auf einer existentiellen Stufe bedrohen. Eine weitere Komponente, die Andres’ Situation beeinträchtigt, sind die klimatischen Zustände, durch die sich der gesundheitliche Zustand seiner Frau Giorgina zunehmend verschlechtert. Zuletzt trifft der geübte Revierjäger nicht einmal mehr das Wild, das er seinem Herrn schuldet, und der Höhepunkt des Elends ist erreicht, als der Knecht für „das letzte Ersparnis“[10] Arznei für Giorgina herbeischaffen soll.
Als Retter taucht in dieser Situation der vermeintliche Kaufmann Ignaz Denner unvermittelt aus einem nächtlichen Sturm auf.[11] Der Fremde hilft Giorgina und ihrem gerade geborenen Kind und errettet sie vor dem fast sicheren Tod. Dennoch bleibt Denners Charakterzeichnung und seine Wahrnehmung durch Andres höchst ambivalent. Auf der einen Seite wird er vom frommen Revierjäger in einen religiösen Kontext eingeordnet und auf diese Weise erhöht. So ist ihm beispielsweise zu Mute, als „sei ein Heiliger herabgestiegen“[12], und kurz darauf nennt er Denner „seinen Schutzengel“.[13] Auf der anderen Seite verspürt Andres ihm gegenüber eine gewisse Unsicherheit, wobei das Motivfeld „Auge“ eine zentrale Rolle spielt.[14] Andres erschrickt über den „falschen Blick des Fremden“[15] und ein „rascher funkelnder Blitz aus den Augen“[16] Denners verunsichert ihn. Seiner Bedenken zum Trotz fühlt sich Andres ihm gegenüber zu Dank verpflichtet, und vor dem Hintergrund seiner christlich-moralischen Wertvorstellungen ist er bereit, die „edle Tat mit [s]einem Leben und Blut“[17] zu entlohnen. Fühmann formuliert in diesem Zusammenhang treffend: Sein „Ahnen bleibt dumpf.“[18]
Die grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Wohltätigkeit Denners legt Andres jedoch nicht ab, so dass nicht er selbst, sondern Giorgina den „Schwachpunkt“ darstellt, an dem sich Denner den für seine Anliegen wichtigen Zugang zur Familie verschafft.[19] Desweiteren fungiert Andres’ ältester Sohn Georg als „Hintertür“ für Denner, denn indem er ihn als Patenkind annimmt und auch als Erben des geheimnisvollen Schmuckkästchens bestimmt, etabliert er sich innerhalb der Familie als Wohltäter.[20] Andres manövriert er so auf einer ersten Ebene in ein ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis. Dem Revierjäger selbst ist es nicht möglich seiner Familie ein Leben in Wohlstand zu bieten, dies wird erst durch das Engagement Denners möglich.
2.2 Die Bindung Denners an Andres
Erscheint die Beziehung oberflächlich gesehen einseitig, wird schnell deutlich, dass auch Denner an Andres gebunden ist.[21] Zwei Jahre nachdem sie sich zum ersten Mal begegnet sind, „pochte es in einer stürmischen Nacht hart an Andres’ Tür“[22]. Wie schon bei der ersten Begegnung kündigt sich Denners Auftritt durch die Einordnung der Geschehnisse in einen nächtlichen Kontext an. Das Strukturmerkmal der Wiederholung erinnert zudem an ein bekanntes Kompositionsprinzip in Märchen.[23] Andres erkennt nach einem kurzen Moment auditiver Sinnestäuschung, in dem er mehrere Stimmen zu hören glaubt, seinen Gönner Ignaz Denner.[24] Dieser hat sich nicht nur äußerlich stark verändert, sondern enthüllt auch seine Identität als Hauptmann einer berüchtigten Räuberbande. Er erinnert Andres an sein Versprechen, die ihm „erzeigte Wohltat mit [s]einem Blut und Leben [zu] entlohnen“.[25] Durch einen nächtlichen Raubzug in der Gegend soll das Versprechen eingelöst werden. Denner erpresst den Revierjäger, an der Unternehmung teilzunehmen, indem er dessen Familie bedroht.[26] Dieser Raubüberfall auf einen reichen Pächter führt nicht, wie man aufgrund der bisherigen Charakterzeichnung des Andres als frommer und redlicher Untertan vermuten könnte, zum Eklat und zur totalen Entfremdung der beiden Hauptfiguren, sondern bewirkt auf der Ebene gegenseitiger Abhängigkeit eine weitere Annäherung. Die unfreiwillige Verstrickung des Revierjägers in die nächtlichen Aktivitäten der Räuberbande macht ihn, wie auch Denner anmerkt, zum „Geselle[n]“ und „Kumpan[en]“.[27] Die Mittäterschaft von Andres besteht nicht nur in der erpressten Teilnahme am Raubzug, sondern auch in seinem unwissentlich, aber zuletzt „ruhig und heiter”[28] genossenem Wohlstand, der ihm und seiner Familie erst durch Denners Verbrechen ermöglicht werden. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Kontext, dass sich auch der Räuberhauptmann durch die Enthüllung seiner wahren Identität angreifbar macht. Zwar kann er Andres in der Nacht des Angriffs durch die Bedrohung seiner Familie davon abhalten, den Schlupfwinkel der Bande an die Obrigkeit weiterzugeben, doch ist Denner danach gezwungen, die Gegend zu verlassen.
[...]
[1] Dieser Arbeit liegt die folgende Ausgabe zugrunde: E.T.A. Hoffmann: Werke Band 3. Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Hrsg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985.
[2] Vgl. Hartmut Steine>
[3] Vgl. Hartmut Steine>
[4] Steine>
[5] Vgl. Jun Imada: Funktion und Rolle der Familie in E.T.A. Hoffmanns Novelle Ignaz Denner. - In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 5 (1997), S. 48.
[6] Eckart Klessmann: E.T.A. Hoffmann oder Die Tiefe zwischen Stern und Erde. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1995, S. 399.
[7] Renate Böschenstein: Hoffmanns Nacht. Zum Verhältnis von Psychologie, Religiösität und Textstruktur in einigen seiner Nachtstücke. - In: Lese-Zeichen. Semiotik und Hermeneutik in Raum und Zeit. Hrsg. von Henriette Herwig (et al.). Tübingen: Francke 1999, S. 274.
[8] Zur Bedeutung von Schuberts Theorien für die Elixiere des Teufels vgl. Walter Hinderer: Die poetische Psychoanalyse in E.T.A. Hoffmanns Roman Die Elixiere des Teufels. - In: 'Hoffmanneske Geschichte'. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Hrsg. von Gerhard Neumann. Würzburg: Königshausen 2005, S. 46f.
[9] Hoffmann: Nachtstücke, S. 50. Franz Fühmann spricht in seinen Betrachtungen zu Ignaz Denner von einer „Rangerhöhung ins Elend“. Franz Fühmann: Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 119.
[10] Hoffmann: Nachtstücke, S. 52.
[11] Auf diese auffällige Konfiguration wird zu einem späteren Zeitpunkt noch explizit eingegangen.
[12] Hoffmann: Nachtstücke, S. 53.
[13] Hoffmann: Nachtstücke, S. 54.
[14] Zur Bedeutung des Augen-Motivs bei Hoffmann vgl. Jürgen Daiber: Die Autofaszination des Blicks. Zu einem Motivkomplex im Werk E.T.A. Hoffmanns. - In: Euphorion 93 (1999), S. 487f.
[15] Hoffmann: Nachtstücke, S. 53.
[16] Hoffmann: Nachtstücke, S. 55.
[17] Hoffmann: Nachtstücke, S. 55.
[18] Fühmann: Fräulein Veronika Paulmann, S. 123.
[19] Vgl. Imada: Funktion und Rolle der Familie, S. 49.
[20] Vgl. Niels Werber: Gestalten des Unheimlichen. Seine Struktur und Funktion bei Eichendorff und Hoffmann. - In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 6 (1998), S. 17.
[21] Vgl. Böschenstein: Hoffmanns Nacht, S. 277.
[22] Hoffmann: Nachtstücke, S. 65.
[23] Vgl. Detlef Kr emer: Prosa der Romantik. Stuttgart: Metzler 1997, S. 52f.
[24] Derartige Sinnestäuschungen sind in Hoffmanns Werk weit verbreitet, im Ignaz Denner jedoch selten. Insgesamt lassen sich nur zwei Stellen ausmachen. Vgl. auch Böschenstein: Hoffmanns Nacht, S. 277.
[25] Hoffmann: Nachtstücke, S. 66.
[26] Auch hier ist Andres Familie Denners Druckmittel. Fühmann hält fest: „Man muß Hoffmann da ganz genau lesen: Das Leben des Andres wird nicht bedroht, nur das seiner Frau und seines Knaben“. Fühmann: Fräulein Veronika Paulmann, S. 132.
[27] Hoffmann: Nachtstücke, S. 67f.
[28] Hoffmann: Nachtstücke, S. 65.