Migration im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne

Ein klinischer Beitrag zur Psychopathologie türkischer Patientinnen


Travail de Recherche, 2010

119 Pages


Extrait


Inhalt

1 AUSGANGSLAGE UND FRAGESTELLUNG
1.1 Ausgangslage
1.2 Fragestellung

2. sozio-kulturellER HINTERGRUND UND THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN
2.1 sozio-kultureller Hintergrund
2.2 Theoretischer Bezugsrahmen

3. MATERIAL UND METHODIK
3.1 Ablauf der Datenerhebung
3.2 Methodische Umsetzung und Datenvalidität
3.3 Erstellung des Dokumentationsbogens
3.4 Statistik

4. ERGEBNISSE
4.1 Untersuchungskollektiv
4.2 Soziodemographische Daten
4.3 Angaben zu den Herkunftsfamilien der Patientinnen
4.4 Migrationsspezifische Angaben und Trennungsereignisse
4.5 Symptomatik
4.6Aktuelle Erkrankungssituation
4.7 Transgenerationale Prozesse

5. DISKUSSION DER ERGEBNISSE
5.1 Diskussion der Methodik und zum Untersuchungskollektiv
5.2 Diskussion der Ergebnisse
5.3 Sozialisationsvariablen und ihre Auswirkungen
5.4 Folgen der elterlichen Erziehungsvariablen für die Symptomatik
5.5 ,Copingstrategien'
5.6 Symptomauslösende Konfliktdynamik aus Expertensicht

6. ZUSAMMENFASSUNG

7. ANHANG
7.1 Abkürzungsverzeichnis
7.2 Glossar
7.3 Verzeichnis der Tabellen
7. 4 Literaturverzeichnis

Vorwort

Anlass für die vorliegende Untersuchung war die Beobachtung, dass die gängigen Begründungen psychischer Erkrankungen von Migranten für die türkischen Patientinnen, die sich in der Ambulanz des Institutes für Psychotherapie e.V. Berlin im Zeitraum von 1997 bis 2006 zur Diagnostik vorgestellt hatten, im Erleben der Patientinnen nicht zutrafen. Entfremdungserlebnisse durch den Migrationsprozess, d.h. Trennung von Eltern und Geschwistern, häufiger Wechsel von Bezugspersonen, etc. wurden von den Patientinnen ebenso wenig vorrangig als krankheitsverursachend erlebt, wie etwa fremdenfeindliche Tendenzen der einheimischen Bevölkerung, deren Existenz andererseits nicht zu übersehen war.

Eine Durchsicht der klinisch orientierten Migrationsliteratur erschien für eine weitere Klärung insofern problematisch, als statistisch erfasste Risikofaktoren tendenziell mit Krankheitsursachen gleichgesetzt wurden, während gleichzeitig bedauert wurde, dass qualitative Daten im Hinblick auf eine tiefergehende Verallgemeinerung nicht vorlagen. Umgekehrt stellte sich die Situation für klinische Einzelfallstudien dar. Differenzierte psychologische Beobachtungen wurden in Ermangelung einer breiteren Datenbasis theoretisch-systematisierend generalisiert (Literatur s. u. S. 2 ff). Unter Einbeziehung vorliegender anamnestischer Daten von 86 türkischen Patientinnen wurde daher der Versuch unternommen, mit Hilfe quantitativer und qualitativer Verfahren die Bedeutung migrationsbedingter Trennungserlebnisse hinsichtlich ihrer pathogenen Wirkung zu klären, wohl wissend, dass es sich aufgrund des Fehlens breiter angelegter psychodynamisch orientierter Vergleichsuntersuchungen nur um eine deskriptive Studie handeln konnte. Aufgrund der überbezirklich spezialisierten Versorgungssituation des Institutes musste zudem ein Selektionseffekt in Erwägung gezogen werden, der bei der Interpretation und Verallgemeinerung der Ergebnisse zu bedenken war.

Da es sich um eine kulturvergleichende Arbeit handelt, wurden sowohl der sozio-kulturelle Hintergrund der Patientinnen und theoretische Bezugsrahmen im Teil 2, als auch Material und Ebenen psychosozialer Transmissionsprozesse im Teil 3 der Arbeit ausführlicher dargestellt. Die Ergebnisse wurden sodann im Teil 4 der Arbeit aufbereitet, im Teil 5 im Hinblick auf die zugrundeliegende Fragestellung interpretiert und abschließend im Teil 6 noch einmal zusammengefasst. Den Abschluss bildet Teil 7 mit Angabe der im Text zitierten Literatur.

Auch wenn in der Abfolge der Migrantengenerationen die aktuelle Situation zunehmend durch Integrationsprobleme der 3. Generation bestimmt ist, verspricht die Auswertung des Materials, selbst wo es von der demographischen Wirklichkeit überholt zu sein scheint, wissenswerte Erkenntnisse für die aktuelle klinische Praxis: Tiefgreifende sozio-kulturelle Veränderungen manifestieren sich oft erst als klinische Spätfolgen. Nicht zuletzt dienen die Ergebnisse der Arbeit aber auch der Darstellung einer bestimmten Zeitspanne in der demographischen Entwicklung Deutschlands, sei es, um die Ergebnisse einmal mit späterem Material vergleichen zu können, sei es, um besser vorbereitet zu sein für den Fall, dass es durch eine Aufnahme der Türkei in die EU (spätestens 2015) zu einem Einströmen einer großen Zahl von Migranten kommt, die z.Zt. das Gros der in den Randgebieten (Gececondus) der Großstädte lebenden, arbeitslosen Männern und Frauen im Alter von 20 - 40 Jahren ausmachen (2015 etwa 15 Millionen), und die in ähnlicher Weise noch traditionell gebunden sind, wie die Migranten der 1. und 2. Generation (Akkaya, C. 1998 ; http://www.hips.hacettepe.edu.tr).

DANKSAGUNG

Mein besonderer Dank gilt vor allem meinem psychoanalytischen Kollegen und Privatdozenten Dr. med. Werner Köpp, der - selber seit vielen Jahren mit der Materie vertraut - mir stets motivierend und fachkundig zur Seite stand. Herrn Privatdozent Dr. med. Dr. rer. nat. Werner Hopfenmüller danke ich sehr für seine Unterstützung bei der statisischen Auswertung der Daten. Bedanken möchte ich mich bei Frau Dipl. Psych. Meike Weiß für die zeitaufwendige Übertragung der Daten in das Statistikprogramm SPSS sowie Herrn Cordes Hauer für die Hilfe bei der graphischen Gestaltung der Ergebnisse. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meiner Kollegin und Psychoanalytikerin, Frau Dipl. Psych. Selma Yücel, für ihre Unterstützung bei der Sichtung und Übersetzung der türkischsprachigen Literatur und für ihren hilfreichen Gedankenaustausch.

1 AUSGANGSLAGE UND FRAGESTELLUNG

1.1 Ausgangslage

Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit richtete sich auf die Bedeutung migrationsbedingter Trennungserlebnisse für spätere psychische Erkrankungen.

Migrationsprozesse sind definitionsgemäß Ereignisse in einer zeitlichen, d.h vertikalen Abfolge, die sich im jeweils aktuellen Moment horizontal abbilden. Da die erste Zeit nach Ankunft im Einwanderungsland als besonders ,vulnerable' Phase betrachtet wird, sind Untersuchungen dazu überwiegend horizontal angelegt. Dabei werden Erkrankungen und die Zuordnung unterschiedlicher, statistischer Variablen im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung insbesondere unter dem Aspekt eines erhöhten Erkrankungsrisikos betrachtet (Häfner et al.1977, Cicek 1989, Köpp und Rohner 1993a, Hahn 2000). In diesem Zusammenhang angeführte sozialökonomische und sozio-kulturelle Faktoren sind sicher gewichtige Rahmenbedingungen bei der Entstehung seelischer Erkrankungen, andererseits aber so unspezifisch, dass sie keinen tatsächlichen Einblick in psychopathogenetische Vorgänge ermöglichen. Insgesamt wird die Datenlage in dieser Hinsicht daher auch als schlecht bezeichnet. Es wird nicht nur das Fehlen von breit angelegten Prävalenz- und Inzidenzstudien beklagt (Mösko et al. 2008, S. 181), sondern auch eine Beschränkung der Gesundheitsberichterstattung auf das Differenzierungsmerkmal der Staatsangehörigkeit (Weilandt et al. 2003). In neueren Arbeiten wird jedoch unter der Bezeichnung „türkischstämmig" unabhängig von der Nationalität auf den Migrationshintergrund abgehoben (Erim 2009, S. 81).

Ein weiteres Forschungsdefizit wurde im Zusammenhang mit der ,Gender'-Forschung insofern deutlich, als bei statistischen Angaben über die Situation von Migranten[1] in der Regel keine geschlechtsspezifischen Daten erfasst wurden (Koch 1995, Westphal 2000). Neuere Untersuchungen, die diesem Sachverhalt Rechnung tragen, richten sich entweder eher auf sozialmedizinische Aspekte der Betreuung und Versorgung von türkischen Migrantinnen (David 2001) bzw. deren Orientierung im Kontext sozio-kultureller Vielfalt (Borde 2002) oder grundsätzlicher auf „Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund (BMFSFJ 2002, Bulut 2002, Tepper 2002).

Des Weiteren finden sich in zunehmender Zahl Aussagen zu psychischen Folgen des Migrationsprozesses basierend auf ambulanten Einzelfallstudien (Grinberg & Grinberg 1990; Günay & Haag 1990, Güc 1991, Kohte-Meyer 1993, Stoikopulou 2001, Gül et al. 2008). Der Darstellung der Krankheitsgenese liegt dabei überwiegend folgendes Erklärungsmuster zugrunde: Der Eintritt in den fremden Kulturraum führt aufgrund unvereinbarer Normen und Werte zu einer Identitätskrise mit einer tiefen Verunsicherung des Selbstgefühls und damit einhergehender ICH-Labilisierung (Erikson 1950, 1953). Ungünstige äußere Rahmenbedingungen, u.a. soziale und juristische Benachteiligung, Schichtzugehörigkeit, Sprachbarrieren, mangelhafte schulische und berufliche Ausbildung, sowie Fremdenfeindlichkeit der einheimischen Bevölkerung führen dann dazu, dass Konflikte teilweise nur durch eine psychische bzw. psychosomatische Erkrankung zum Ausdruck gebracht werden können. In klinischer Hinsicht beziehen sich die Autoren auf Einzelfallberichte, die in Verbindung mit statistischen Erhebungen eine Krankheit verursachende Benachteiligung von Migranten in Deutschland belegen (z.B. Kremer und Spangenberg 1980; Koch 1995; von der Stein 2006).

David (2001, S. 160) weist in einer Zusammenfassung verschiedener Modelle zur Erklärung eines möglichen Zusammenhangs zwischen Migration und psychischen Belastungen bzw. Krankheiten zwar ebenfalls darauf hin, dass Migranten besonders deshalb gefährdet seien, weil lebensgeschichtlich erworbene Bewältigungsstrategien nicht mehr genügten oder neue Bewältigungsmöglichkeiten noch nicht erworben worden seien. Unter Bezug auf Hahn (2000) sowie Zeiler und Zarifoglu (1997) betont er weiter, dass das Verständnis psychischer und psychosomatischer Erkrankungen eine „nähere Betrachtung des individuellen Akkulturationsprozesses" voraussetzt und die Wichtigkeit personengebundener Merkmale nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Er nennt hier insbesondere „vorbestehende psychische Erkrankungen, prägende Belastungserfahrungen vor der Migration, Bewältigungsverhalten, Erwartungshaltungen und Informiertheit vor der Migration" (ebd. 2001, S. 163). Gleichzeitig räumt er aber ein, dass es dazu, abgesehen von Einzeldaten, keine gesicherten Daten größeren Umfanges gibt.

Auch Köpp und Rohner (1993b) wenden sich gegen eine „simple Ursachenzuordnung, was einen möglichen Zusammenhang von politisch-ökonomischen Verhältnissen und Erkrankungen betrifft". Andererseits räumen sie ein, dass „Arbeitslosigkeit (...) mit anderen ungünstigen Faktoren interagieren kann. Es ist vorstellbar, dass bislang latent gebliebene Konflikte vor dem Hintergrund ökonomischer Veränderungen manifest werden" (ebd. S. 59). Hierin stimmen sie mit Friessem (1986) und Tilli (1989) überein.

Neuere Arbeiten beziehen sich ebenfalls zunehmend auf die Darstellung und Bedeutung des ursprünglich kulturellen Kontextes türkischer Migranten (Erim und Senf 2002, Güc 2006, Kohte-Meyer 2006, Charlier 2006 und 2007; Özdaglar 2007). Dabei wird ein breites Spektrum sozio-kulturell potentiell relevanter Faktoren entfaltet, die quantitativempirisch jedoch noch nicht abgesichert sind. Kaum Beachtung finden jedoch aktuelle Ergebnisse der Bindungsforschung, die sich insbesondere mit den Folgen früher Störungen von Eltern-Kind-Interaktionen befasst (Bowlby 1984, Grossmann & Grossmann 2003).

1.2 Fragestellung

Zur weiteren Klärung dieser Sachverhalte rückten Fragen nach dem Zusammenwirken kulturspezifisch erworbener Erlebnisverarbeitungen im Zusammenhang mit migrationsbedingten Trennungsereignissen, die eine spätere Integration erschweren bzw. Krankheit als Lösungsweg für Konflikte nahelegen könnten, in das Zentrum des Forschungsinteresses. Aus den o.g. Arbeiten ließen sich dazu folgende Hypothesen ableiten:

1) Postmigratorische Hyothese : Primär ursächlich für aktuelle Erkrankungen sind vielfältige und andauernde Benachteiligungen seitens des Aufnahmelandes (These A).
2) Migratorische Hypothese : Aktuelle Erkrankungen sind Spätfolgen von Traumatiesierungen im Verlauf des Migrationsprozesses (These B).
3) Prämigratorische Hypothese : Psychische Erkrankungen bestanden bereits vor der Migration (These C).

Anhand einer sekundär-statistischen Analyse der Anamnesen von 86 türkischen Patientinnen, die in der Zeit von 1997 bis 2006 im Institut für Psychotherapie e.V. Berlin erhoben wurden, soll diesen Fragen nachgegangen werden. Da es dabei um den Einfluss kulturspezifischer und migrationsspezifischer Faktoren auf psychogenetische Entwicklungsprozesse geht, sei eine Betrachtung der ,sozio-kulturellen Ausgangslage' zum Zeitpunkt der Migration für das Verständnis und die theoretische Einordnung psychopathologischer Befunde vorangestellt.

2. sozio-kulturellER HINTERGRUND UND THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN

Der sozialökonomische und ideelle Hintergrund der Herkunftsfamilien bildet gleichsam die Matrix der Verortung theoretischer Kategorien für die Beschreibung der in ihnen ablaufenden Sozialisationsprozesse. In diesen Kategorien werden die auf die theoretische und empirische Forschung bezogenen Überlegungen hinsichtlich der Bedeutung früher Belastungsereignisse für psychogene Erkrankungen im Erwachsenenalter dargestellt.

Theoretischer Ausgangspunkt in dieser Arbeit sind die psychoanalytischen Grundannahmen über die Organisation des Psychischen im Prozess seiner phasenweise ,Ausreifung' in Verbindung mit den genetisch festgelegten, körperlichen Entwicklungsstufen vom Säugling zum Kleinkind.

Die zugrunde gelegten Theorien werden nicht im Sinne einer Hypothesenbildung im herkömmlichen Sinne verwandt, gleichwohl aber in ihren Grundzügen dargestellt, um die Entfaltung der eigenen theoretischen Kategorien vor dem Hintergrund des theoretischen und empirischen Forschungsstandes transparent zu machen und auch, um eine spätere Anschlussfähigkeit der eigenen empirischen Ergebnisse zu gewährleisten. Dabei geht es nicht um eine umfassende systematische Darstellung, sondern die Akzente werden durch das klinische Anliegen dieser Arbeit gesetzt. Das bedeutet auch, dass ergänzend Bezug zu Alternativtheorien genommen wird, soweit sie durch „identische Begriffe und gemeinsame Ausgangspunkte verbunden sind" (Rapaport 1970, S.13).

2.1 sozio-kultureller Hintergrund

Der überwiegende Teil der türkischen Bevölkerung versteht sich als Teil eines ethnischkulturellen Türkentums. Die größte ethnische Minderheit stellten nach offiziellen Angaben von 1974 die Kurden mit ca. 9,2 % dar (Kongar 1992, S. 382). Inoffizielle Schätzungen gehen jedoch von ca. 15 % aus (Kaya 1974, S. 127). Neben den Kurden bilden die Lazen der Schwarzmeerküste ebenfalls eine größere Minderheit neben kleineren Gruppen von Armeniern und Griechen. Auch wenn die einzelnen Ethnien ihre eigenen Traditionen pflegen und an ihre Kinder weitergeben, so hat sich durch die Zugehörigkeit zum Islam über Jahrhunderte ein Wertesystem entwickelt, das für alle islamischen Gruppen bis in die Familien hinein verbindlich ist. Die ethnische Zugehörigkeit der Patientinnen wurde deshalb bei der vorliegenden Untersuchung nicht besonders berücksichtigt.

Um einen Einblick in die innerseelische Ausgangslage im Hinblick auf die Herausforderungen des Migrationsprozesses zu gewinnen, war ein genaueres Wissen über die Stellung der Frau in der türkischen Gesellschaft und die damit einhergehenden Sozialisationserfahrungen bis zum Beginn der Migrationsphase 1973 wichtig.

Die weitgehende Übernahme des Schweizer Zivilgesetzbuches durch M. Kemal Atatürk 1926 führte in der Türkei zur rechtlichen Trennung von Religion und Staat und schaffte die Voraussetzung für die Durchsetzung einer demokratischen Verfassung. Die damit einhergehenden Reformen[2] ) führten zu einer rechtlichen Gleichstellung von

Mann und Frau und führten zu tiefen Einschnitten in das tradierte kulturelle Leben der Türkei. Diese Reformen veränderten in erster Linie das Leben einer politischen Elite und der Oberschicht in den Großstädten, vor allem in Ankara und einem Teil Istanbuls. „In den ländlichen Gebieten trafen die Neuerungen jedoch auf einen erbitterten Widerstand des islamischen Klerus, der die am Fortbestand des Feudalsystems interessierten Großgrundbesitzer gegen die Bodenreform (1937) unterstützte. Er setzte sich auch mit aller Macht gegen die Ablösung des arabischen Alphabets durch das lateinische, die Übersetzung des Korans ins Türkische, sowie die Abschaffung des Islam als Staatsreligion im Jahre 1928" zur Wehr (Schröter u. Welzel 1979, S. 53). Während in den Provinzen ein verstärktes Festhalten an den tradierten, islamischen Normen zu beobachten war, führte die zunehmende Industrialisierung mit dem ersten Wirtschaftsplan (1934-1938) zu beträchtlichen Wanderungsbewegungen aus den ländlichen Gebieten in die Industrieregionen (Istanbul, Izmir, Bursa, Adana). Eine zunehmende Verarmung vor allem der unteren Einkommensschichten in den Städten und in den ländlichen Gebieten führte dazu, dass eine sich bereits in Veränderung befindliche, traditionelle Großfamilie zunehmend ihre ökonomische Basis verlor, womit sich ein verstärkter Wandel von der Großfamilie zur Kleinfamilie vollzog. Die traditionellen Normen behielten in den Kleinstädten und ländlichen Gebieten jedoch weiterhin ungebrochen ihre Geltung (Steinhaus 1969, S. 117).

Ein entscheidender politischer Einschnitt war die Ablösung der Republikanischen Volkspartei Atatürks durch die Demokratische Partei im Jahr 1950. Es begann eine Re-Isla- misierung: Wiedereinführung des traditionellen Islamunterrichts, Gründung einer Islamakademie zur Ausbildung von Vorbetern und Einrichtung eines Religionsministeriums. Besonders in den ländlichen Regionen machten sich Polygamie, „Imam-Ehe und das Tragen des Schleiers wieder breit. Frauen, die in den Großstädten lebten, gerieten im Verlauf dieser Entwicklung zunehmend in einen Rollenkonflikt zwischen Tradition und Islam einerseits, sowie liberalen Wertorientierungen andererseits" (Onur 1995; Tan 1995, S. 70; Rieck 2003, S. 36).

Parallel zur Re-Islamisierung fand auch eine Ablösung des staatlichen Wirtschaftssektors mit Propagierung der „freien Marktwirtschaft" statt. Durch die „Technisierung der Landwirtschaft und Automatisierung vor allem in der Fertigungsindustrie in den Jahren zwischen 1950 und 1960 wurden Arbeitskräfte freigesetzt, die in den übrigen Wirtschaftsbereichen nicht aufgenommen werden konnten. Die Folge war ein ständig zunehmender Anteil an Arbeitslosen, der bis 1972 ca. 4 Millionen erreichte" und sich an der Peripherie der Großstädte, in den sog. ,Gecekondus' (Armenviertel in den Randgebieten der Großstädte) ansammelte" (ISOPLAN 1994, S. 8).

Diese Situation auf dem Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund eines seiner Zeit ansteigenden Geburtenüberschusses begründete das Interesse der Türkei an Gastarbeiterabkommen, speziell mit Deutschland, das aufgrund seiner eigenen wirtschaftlichen Entwicklung einen enormen Arbeitskräftebedarf hatte. „1960 kamen die ersten ca. 2500 türkischen Arbeitsmigranten nach Deutschland" (Länderberichte Türkei 1972, S. 58 ff, zit. bei Schröter u. Welzel 1979, S. 51 ff.).

Als Folge der bereits skizzierten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen in den Jahrzehnten 1940 - 1970 war es vielfach, wie bereits erwähnt, zu einer Auflösung und Neubildung von Familienstrukturen gekommen (Akpinar 1975, S. 21 ff.). Weil davon auszugehen ist, dass die genannten Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Sozialisationsprozesse der Patientinnen von Bedeutung waren, sollen die Wertorientierungen und Normen der traditionellen Großfamilie als der kleinsten traditionellen sozialen Einheit bzw. als „idealer polarer Typ" (Timur 1993, S. 60) genauer dargestellt werden. Denn trotz aller einschneidender Veränderung in der Familienstruktur „bleiben Lebensrhythmus und Lebensgewohnheiten ,wie eh und je' von der Religion" und damit von traditionellen, islamischen Vorstellungen bestimmt (Sen 1986, S. 63 ff). „Der Islam versteht sich als umfassende Lebensordnung, die alle Bereiche des Lebens regelt und keine Trennung in sakral und profan vorsieht" (Ferchl 2006, S. 8).

Um durchschaubare Strukturen in das komplexe Gefüge von patriarchalischer Großfamilie und Islam zu bringen, ist es hilfreich, sich diesem Thema von einer systematischen Seite zu nähern. Beide Gebilde haben eine eigene Herkunftsgeschichte, das Türkentum aus den Steppengebieten Asiens, der Islam aus dem Süden der arabischen Halbinsel kommend. Während die türkisch-patriarchalische Großfamilie kulturhistorisch auf ein normatives Regelsystem nomadisierender Reitervölker und militärischer Söldnerverbände mit impliziten Gewaltmustern zurückgeht, fußt die Scharia zunächst auf den Traditionen der archaischen Zivilisation des vorislamischen

Arabiens (Rahim 1911, Scharlipp 1992). Dieses prä-islamische Recht kannte kein Staatswesen, das Gesetze erließ oder durchsetzte. Es existierte eine Rechtsprechung, in der allein die Meinung des Stammeskollektivs oder die des Anführers zählte. Probleme zwischen verschiedenen Stämmen wurden zu dieser Zeit nicht beredet, sondern entweder durch Kameltransaktionen oder per Blutfehde ausgefochten (Hell 1909, Kettermann 2001, Grant 2003).

Im Zuge der Unterwerfung und Übernahme des Islam gingen die Grundmuster dieser prä-islamischen Stammesregeln in die von Mohammed verkündeten, allumfassenden Gesetzen der Muslime ein. Scharia [3] wird damit zum Schlüsselbegriff für das Rechtssystem des Islam. Es ist das von Gott dem Menschen vorgegebene Gesetz, verkündet durch Mohammed und niedergelegt im Koran und der Sunna . Während der Koran die direkten Worte des Propheten wiedergibt, umfasst die Sunna in Form der Hadithe [4] alle authentischen Überlieferungen dessen, was Mohammed gesagt, getan und gebilligt hat. Um den Aufbau des schariatischen Rechts zu verstehen, muss man wissen, dass alle im Koran oder in der Sunna vorgegebenen Regeln und Sanktionen oberste und absolute Geltung haben und nicht veränderbar sind. Dies sind die sog. „Hadd"[5] -Strafen. Lassen sich Meinungen nicht direkt aus diesen Quellen erschließen, wird auf Meinungskonsense der Rechtsgelehrten ( idschma[6] ) zurückgegriffen, oder es werden juristische Analogieschlüsse aus existierenden Urteilen gezogen (qiyas[7] ). Diese Systematik in der Abstufung der Rechtsfindung macht deutlich, dass Straftatbestände, die nach unserem Rechtsverständnis als Kapitalverbrechen gelten und die höchste Strafe nach sich ziehen, auf der Ebene der ,idschma'- oder ,q/'yas-Gerichtsbarkeit u.U. eine wesentlich geringere oder überhaupt keine Strafe nach sich ziehen können (el-Baradie 1983, Krawietz 1990, al-Buhari 2006) und damit u.a. Gewalthandlungen in Migrantenfamilien als gerechtfertigt erscheinen lassen.

Während Hauptziel der arabischen Expansion die Ausbreitung des Islam war (Salem 1984, S. 95 ff.), ging es auf türkischer Seite hauptsächlich um die Herstellung und Bewahrung einer türkischen Einheit und Türkisierung eroberter Gebiete mit der größten Ausbreitung in der Zeit der Osmanenherrschaft (Matuz 2006). Mit der Übernahme des muslimischen Glaubens durch die Türken fand nunmehr eine Verschmelzung der türkischen, auf kriegerische Eroberung ausgerichtete Stammeskultur, mit dem schariatischen Normen- und Wertesystem, das kriegerische Gewalt primär nur im Zusammenhang mit der Glaubensverbreitung zuließ, statt. Das hatte zur Folge, dass die Regeln der türkischen Stammeskultur eine religiöse Legitimation erhielten. Da das tragende Fundament der türkischen Sozialstruktur auch heute auf einem Ethnozentrismus basiert, besitzt dieser weiterhin eine religiöse Legitimation, auch wenn dieser Zusammenhang im Alltagserleben nicht präsent ist. Rangfolge, Statuspositionen, Verhaltensregeln und Sanktionen wurden daher über viele Jahrhunderte als Ausdruck einer Ordnung gesehen, die die Alltagserfahrung nach gottgegebenen Regeln, sozusagen ,naturhaft', organisiert. Dies prägt insbesondere das Verhältnis der Geschlechter zueinander.

Obwohl es im Islam in seiner ursprünglichen Form einen Gleichheitsgrundsatz für alle Gläubigen gibt, so sind doch - wie in der türkisch-ethnischen Tradition - die Status- und Chancengleichheit in bestimmten Punkten eingeschränkt. Während der Rang eines vollwertigen Mitglieds der Gesellschaft den freien männlichen Muslimen vorbehalten bleibt, galten, bzw. gelten Frauen, Ungläubige oder Sklaven als nicht vollwertig. „Diese dreifache fundamentale Ungleichheit von Herr und Sklave, Mann und Frau, Gläubigem und Ungläubigem wird nicht lediglich als gegeben anerkannt; sie war und ist festgeschrieben und vom religiösen Gesetz geregelt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den drei Gruppen ist das Element der freien Wahl" (Beck 2004, S. 18 ff.). Während eine Frau es sich nicht aussuchen kann, ob sie lieber ein Mann werden will und ein Sklave nur freigelassen werden kann, wenn sein Herr dies will, hat der Ungläubige seinen minderwertigen Status freiwillig gewählt denn: „Durch den Übertritt zum Islam wird er zum Mitglied der herrschenden Gemeinschaft, und damit ist der Status legaler Inferiorität aufgehoben(...) Der Ungläubige ist somit der einzige, der aus freier Wahl bei seinem Status bleibt. (...) Die Frau wie der Sklave befinden sich (...) in einer Position unfreiwilliger, für die Frau zudem unabänderlicher Inferiorität", woraus sich die hierarchische Rangfolge ableitet (ebd. S. 19).

Was speziell das Verhältnis der Geschlechter zueinander angeht, wird die männliche Dominanz hauptsächlich aus folgenden Stellen des Korans hergeleitet (Khoury 2005, S. 288) :

Höll (1979, S. 68) zitiert Baidawi (gest. 1316) als einen bis heute von den Sunniten hochgeschätzten Korankommentator, für den diese Verse „die absolute Überlegenheit des Mannes über die Frau beweis(en)". Aufgrund dieser Überlegenheit sei dem Mann das Prophetentum und die Führung vor Gericht und die Verpflichtung zum heiligen Krieg auferlegt worden. Dem Mann stehe auch das Privileg zu, den Stammesobmann zu wählen, ein größerer Anteil am Erbe und die Bevollmächtigung zur Scheidung.

Charlier (2007, S. 1119) weist auf die religiöse Fundierung der islamischen Erziehung hin und die geforderte Unterwerfung unter das patriarchalische Prinzip, was eine kollektive Identität fördere und keine individuellen Entfaltungsmöglichkeiten zulasse. Er betont weiter, dass „die Unterwerfung unter die religiöse Autorität" zur „Unterwerfung des Knaben unter die väterliche Autorität" führe[8] ). Durch den Ritus der Beschneidung erreiche der Sohn den Status der Männlichkeit und werde so in direkter Abfolge Teilhaber an der väterlichen Autorität gegenüber den weiblichen Mitgliedern der Familie. Diese Zweiteilung ziehe sich wie ein Band durch Mohammeds Denken und durch die islamische Lehre"[9] ) (Kelek 2006, S. 168). Schwiegertöchter nehmen den untersten Platz in der Machtpyramide ein und müssen sich ihre Achtung durch Gehorsam und Dienen erarbeiten. Nur durch die Geburt eines Sohnes rücke sie in der Rangfolge neben die Schwiegermutter, der sie dennoch aufgrund des Alters und des Generationenunterschiedes Achtung zu zollen habe.

Der Mann hat als Familienoberhaupt für die Ernährung der Familie und für ihren guten Ruf zu sorgen, wovon im Wesentlichen sein Ansehen in der Gesellschaft abhängt. Eine zentrale Bedeutung hat der Begriff der Ehre („Namus"), der hauptsächlich an die Jungfräulichkeit und damit Reinheit der Töchter gebunden ist. Eine Folge davon ist, dass eine Tendenz besteht, die Töchter möglichst früh zu verheiraten, in ländlichen Gegenden nicht zuletzt auch, um durch den Brautpreis in den Genuss einer finanziellen Verbesserung angesichts einer desolaten ökonomischen Lebenssituation zu kommen.

Da ungeachtet der vorherrschenden Familienform und ungeachtet des bestehenden Zivil- und Strafrechts islamische Norm- und Wertvorstellungen der traditionellen Großfamilie weiterhin die Rangfolge und das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander bestimmen (Schirrmacher, Spuler-Stegemann 2006, S. 13 ff.), bedeutet dies auch das Weiterbestehen islamischer Rechtsvorstellungen bis in die Familie hinein. Dieser Sachverhalt ist im Zusammenhang mit dem hier vorliegenden Forschungsvorhaben insofern von Bedeutung, als die Einhaltung kultureller Normen unabhängig vom bestehenden ,offiziellen' Rechtssystem ,subkulturell' durch tradierte Strafen und Maßnahmen durchgesetzt wird, die nicht nur hinsichtlich der Strafbegründung und des Strafmaßes, sondern auch hinsichtlich einer unterschiedlichen Behandlung von Frauen und Männern gekennzeichnet sind (Krawietz 1990, S. 5 ff., Schirrmacher und Spuler- Stegemann 2006, S. 15).

Die unterschiedlichen kulturellen Positionen finden ihren Niederschlag in den Erziehungszielen und Erziehungsstilen, sowie in ihrer Umsetzung in den familiären und nachfolgenden Sozialisationsprozessen. Die gegensätzlichen Positionen sollen im Folgenden noch einmal aufgeführt werden. Grundlagen sind einerseits das Nationale Bildungsgesetz (Nr. 1739) und andererseits die aus der Scharia und Sunna abgeleiteten „Strafen und Maßnahmen der Sicherung der Erziehung" (El Baradie, A. 1983; Rahim, A. 1911; Schwarländer, J. 1993; Tan, M.1995; Tibi, B. 1994; Toprak, A., 2004; Yücel, S. 1995).

2.2 Theoretischer Bezugsrahmen

Psychoanalytische Persönlichkeitstheorien

Die psychoanalytische Strukturtheorie (Freud, S. 1923, S. 239-289) ermöglicht, die ICH-Entstehung im Zusammenspiel von Trieben und von außen einwirkenden Faktoren in einem System dynamischer Kräfte zu beschreiben, indem diese den psychischen Instanzen ,Es' und ,Über-ICH/ ICH-Ideal' zugeordnet werden. In diesem Modell lassen sich seelische Vorgänge nicht nur hinsichtlich Richtung, Stärke und ihrer Dynamik, sondern auch hinsichtlich ihrer inneren Wahrnehmung im Ablauf psycho-genetischer Reifungsschritte beschreiben. Das ,ICH' der psychoanalytischen Theorie meint nicht das „ICH" im philosophischen oder auch anthropologischen Sinn. Das ,ICH' im psychoanalytischen Sinne ist eine Instanz, eine Substruktur der Persönlichkeit, die durch ihre Funktionen definiert ist.

Werden im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung bestimmte ICH-Funktionen übermäßig gefordert oder eingeschränkt, so kommt es entweder zu Fixierungen oder Regressionen. Fixierungen bedeuten, dass nur bestimmte ICH-Funktionen im weiteren Verlauf vorrangig zur Lebensbewältigung eingesetzt werden. Gelingt dies dann in Konfliktsituationen nicht mehr, kommt es entweder zu einer Symptombildung oder zu einem Rückgriff (Regression) auf früher erworbene ICH-Funktionen: Beide Vorgänge dienen dem Abbau einer unerträglichen inneren Spannung, sie stellen regressive Lösungswege dar und haben Symptomcharakter. Klinische Erfahrung stützen die Annahme, dass es in Konfliktsituationen zu einer Mobilisierung latenter Aggressionen kommt, die im Zuge der frühkindlichen Einschränkungen des ,Lustprinzips' unter Androhung von Strafe unterdrückt bzw. verdrängt werden mussten. Sie sind für die inneren Spannungen verantwortlich. Dürfen sie aufgrund der im Über-ICH deponierten Verbote nicht ,bewusstseinsoffiziell' werden, findet ihre Bindung über eine Symptombildung statt (s.u. S. 18). Die ursprünglichen Impulse unterliegen einem Verdrängungsvorgang, dessen Inhalt mittels verschiedener unbewusster Operationen, den sog. Abwehrmechanismen (Freud, A., S. 34 ff.), am Eintritt ins Bewusstsein gehindert wird. Störungen in den einzelnen Entwicklungsphasen führen zu spezifischen Beeinträchtigungen in den jeweils folgenden Phasen. Später erworbene ICH-Funktionen können diese Störung überlagern, sowie ICH-Funktionen grundsätzlich eine kompensatorische Funktion im Persönlichkeitsaufbau haben können.

Je nachdem zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung es zu Fixierungen mit entsprechender Verfestigung gekommen ist, resultiert eine phasenspezifische Ausprägung charakterlicher Merkmale in Gestalt einer schizoiden, einer depressiven (oralen), einer zwangsneurotischen (analen) oder einer hysterischen (,ödipalen') Struktur. Durch sie hindurch findet, wie durch ein Prisma, eine jeweils spezifische Erlebnisverarbeitung statt, ohne dass der Einzelne davon eine bewusste Wahrnehmung hat.

Konstitutionelle und genetische[10] Faktoren als Teil der menschlichen Naturgeschichte spielen in der analytischen Theorie zwar eine zentrale Rolle, jedoch von Anfang an stets in einer Verschränkung mit der Sozialgeschichte über konflikthafte Auseinandersetzungen mit dem ,Realitätsprinzip'. Strukturbildend für die ICH-Funktionen sind dabei die bereits erwähnten Abwehrmechanismen, deren Funktion im Wesentlichen in der sozial geforderten Modulation der Triebwünsche und begleitender Affekte besteht. Eine weitere wichtige Funktion bei der Übernahme sozialer Erwartungen haben die Identifikationsprozesse (s.u. S. 19 und Freud 1921, S. 115-121), die entweder in Anlehnung an positiv erlebte Beziehungspersonen, d.h. ,anaklitisch', oder unter Angst und Gefahr, d.h. als ,Identifikation mit dem Aggressor', erfolgen. Die Identifikationen als Teil der ICHFunktionen werden ich-synton, d.h. als ihr genuiner Anteil, erlebt. Ihre Aufrechterhaltung wird unbewusst durch die normativ-moralische Funktion des Über-ICHs gewährleistet. Daneben werden auch sog. autonome ICH-Funktionen beschrieben, deren Entwicklung an Reifungsprozesse und nicht an psychosoziale Vorgänge gebunden sind (s.u. S. 14; ICH-psychologischer Ansatz von Hartmann).

Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie

Während in der klassischen, psychoanalytischen Theorie als zentrales Geschehen die Trieb/-Triebabwehrkonflikte im ICH mit Lösung der ödipalen Situation, dem Erreichen der Fähigkeit ,Dreier-Situationen' (trianguläre Konstellationen zwischen Kind und beiden Eltern) zu ertragen, betrachtet wird, hat sich mit dem Auftreten neuartiger Störungsbilder und weiter entwickelter therapeutischer Verfahren der Focus auf psychogenetisch frühere Störungsebenen gelegt. Schwerwiegende Beeinträchtigungen der Frühphase der psychischen Entwicklung führen dazu, dass ,Zweierbeziehungen' (dyadische Konstellationen zwischen Kind und einem Elternteil) nur konflikthaft erlebt werden und für eine konfliktfreie Bewältigung triangulärer Situationen keine ausreichenden psychischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

Charakteristisch für diese Strukturentwicklungen ist, dass widersprüchliche Wünsche und Impulse, sehnsuchtsvolles Begehren und Enttäuschungswut, Liebe und Hass nur schwer nebeneinander ertragen, und wenn, dann auch nur mit Hilfe einer Symptombildung integriert werden können. Es kommt entweder zu einer Spaltung von ,gut' und 'böse' im späteren Leben, u.a. erkennbar an einem plötzlichen Wechsel von absoluter Idealisierung zu hasserfüllter Ablehnung bei geringfügigen Irritationen, oder zu Fragmentierungen des Selbst mit diffusen Ängsten, in manchen Fällen auch zu körperlichen Symptomen. Aufgrund ihrer frühgenetischen Entstehungsbedingungen werden diese Störungsbilder unter dem Begriff ,Frühstörungen' zusammengefasst. Zu ihnen zählen:

die Borderline-Persönlichkeitsstörung, ein Krankheitsbild, das sich im Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose bewegt, ohne jedoch eine echte psychotische Symptomatik zu entwickeln (Wahnbildung; paranoid-halluzinatorische Episoden; Katatonie; schizophrene Denk- und ICH-Störungen fehlen),

die Narzisstische Persönlichkeitsstörung, bei der es zu einer kompensatorischen Selbstwertregulierung kommt,

eine Strukturelle ICH-Störung mit brüchigen ICH-Funktionen, Labilisierung des ICH-Selbstgefüges und somatoformen Reaktionen.

Je nach Auffassung des psycho-pathologischen Geschehens und der aus ihm abgeleiteten Therapieformen haben sich diese unterschiedlichen Aspekte zu eigenen Theorien verfestigt, die im Folgenden lediglich zur Übersicht genannt sein sollen:

Selbst-Objekt-psychologischer Ansatz (Kernberg, O. 1980, 1993; Rohde-Dachser, C. 1979, 1987; Kohut, H. 1971)

Objektbeziehungstheoretischer Ansatz (Klein, M. 1997, Bion, W.R. 1962)

Entwicklungspsychologischer Ansatz (Erikson, E. H. ,1950, Jacobson, E. 1973)

ICH-psychologischer Ansatz (Hartman, H. 1960, 1964, 1972)

Hartmann, als ein Vertreter des ICH-pychologischen Ansatzes, kommt in seiner Untersuchung über die Entstehung von ICH-Funktionen zu dem Ergebnis, dass diese sich nicht in Gänze von Anfang an im Konflikt zwischen Triebverlangen und Realitätsprinzip entfalten. Er beschreibt Funktionen, die - vermittelt über die sensorische, d.h. physiologische Grundausstattung - unabhängig vom ES dem ICH zur Verfügung stehen. Im Zusammenhang mit diesen Funktionen, die somit nicht vom Trieb ableitbar sind, spricht Hartmann von einer ,autonomen ICH-Entwicklung', bzw. von autonomen ,ICH-Funktio- nen'. Das bedeutet, dass sie einerseits zwar Teil der vermittelnden Funktion zwischen Es und Über-ICH sind, sie andererseits aber Anpassungsleistungen außerhalb dieser Konfliktsphäre ermöglichen. Hartmann spricht von der Entwicklung einer ,primären' zu einer ,sekundären Autonomie' und meint damit die von Trieben unabhängige und phasenspezifische Entwicklung des ICHs. Hinsichtlich eines strukturellen Zusammenhanges von Kindheits- und Erwachsenenneurose verlangt dies eine Trennung von phasenspezifischen ,Funktionsveränderungen des ICHs' und genetischer Aspekte späterer Konflikte. Im Hinblick auf die Übernahme von Werteordnungen spricht Hartmann von „synthetischen Faktoren, die teils dem Über-ICH, vor allem aber dem ICH" mit seinen konfliktfreien Regulationen angehören (1960, S. 63). Diese Werteordnungen können alternativ zu der Aufrichtung eines allzu strengen Über-ICHs eine Organisierung der Aufgaben und Lösungsmittel darstellen, die dem Kind einen Weg eröffnen, „in einer zweckmäßigen Form mit seinen libidinösen und aggressiven Triebregungen fertig zu werden" (ebd. S. 64). Hartmann nimmt dabei vergleichend Bezug auf Max Webers Theorie zweckrationalen und wertrationalen Handelns (1980, S. 70 ff.), die eine Verbindung zu dem ,Habitusbegriff' Bourdieus (1976), als sozio-genetischer Kategorie, ermöglicht. Dieser Zusammenhang soll im Teil 5 der Arbeit noch einmal aufgegriffen werden.

Mit der Grundannahme, dass Störungen im Erwachsenenalter auf Dispositionen in der frühen Kindheit zurückgehen und entwicklungsbedingt sind, bestehen verschiedene psychoanalytische Modelle der Symptomentstehung: ,Verdrängungs'-Modell

Dieses Modell entspricht der Entstehung neurotischer Störungsbilder. Eine aktuelle Ver- suchungs- und/ oder Versagungssituation reaktiviert einen unbewussten infantilen Konflikt, der über eine Entstehung von Angst bestimmte Abwehrmechanismen in Gang setzt und schließlich im Symptom eine vorübergehende Lösung findet (sog. primärer Krankheitsgewinn). Die Bindung der inneren Spannung stellt einen Selbstheilungsversuch dar. Soweit ein Patient an dieser Beeinträchtigung leidet und zu einer inneren Auseinandersetzung um mögliche unbewusste Konflikte bereit ist, steht er unter einem ,primären Leidensdruck'. Bietet das Symptom jedoch angenehme Vergünstigungen, Entlastung von Alltagsproblemen, Zuwendung durch Ärzte, soziale Dienste, Familienangehörige, etc. entsteht eine Tendenz, diese Situation aufrecht zu erhalten. Der Leidensdruck richtet sich nun nicht mehr primär gegen das ursprüngliche Symptom, sondern als sog. ,sekundärer Leidensdruck' gegen den drohenden Verzicht auf diese Vergünstigungen.

,Frühstörungs'-Modell

Dieses Modell nimmt seinen Ausgang von frühen Traumatisierungen und/ oder Deprivationen, in deren Folge es durch Spaltungsprozesse und Verinnerlichung von Teilobjektrepräsentanzen (,gut' vs. ,schlecht') zu einer tiefgreifenden Störung der psychischen Struktur kommt. Die Folgen sind eine mangelnde Ambivalenztoleranz und Schwäche der Affektsteuerung. Es handelt sich in diesen Fällen um sog. strukturelle Störungen, zu denen die o.g. Frühstörungen und die Antisoziale Störung (i.S. chronifizierter, sozialer Fehlhaltungen) gezählt werden.

Psychoanalytisch-psychosomatische Modelle

Diese Modelle stützen sich auf die klinische Erfahrung, dass innerseelische Konflikte nicht nur eine psychische Verarbeitung finden, sondern gleichzeitig oder auch nur vorwiegend zu somatischen Störungen führen. Je nach Organisationsniveau des ICH- Selbstgefüges erfolgt die Spannungsverarbeitung bei relativ intakten ICH-Funktionen als neurotisches Symptom. In Verbindung mit massiven Regressionsvorgängen des

ICHs kann es jedoch zu unkontrollierten Resomatisierungen körperlicher Funktionen kommen (Klussmann 1998, S. 6 ff.).

Identifikatorische Konfliktabwehr

Ein weiterer zentraler Mechanismus der Bewältigung innerer Spannungen ist der bereits genannte Vorgang der Identifikation (s.o. S. 15). Angesichts realer oder übermächtig erlebter Gewalt dient insbesondere die ,Identifikation mit dem Aggressor' der Überwindung des Gefühls von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Identifikatorische Unterwerfung unter die verlangten Ziele und Vorstellungen, sowie deren bedingungslose Übernahme, bilden eine Möglichkeit, die anfängliche, narzisstische Kränkung in narzisstische Befriedigung zu verwandeln. Destruktivität des Täters und Selbstdestruktion des Opfers gehen im Prozess der Identifikation gleichsam ineinander auf und werden schließlich von beiden in ihrer aggressiven Destruktivität nicht mehr wahrgenommen. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge ist für die Analyse neurotogener Sozialisationsprozesse von Bedeutung, in denen institutionalisierte Gewalt als ,kulturelle Norm' nicht thematisiert wird.

,Coping'-Strategien

Während sich Abwehrmechanismen gegen bedrohliche Triebimpulse und Affekte richten, um die Funktionsfähigkeit des ICHs, seine Affekt und Selbstwertregulation aufrecht zu erhalten, sind sog. ,Coping'-Strategien primär auf die Bewältigung von Reallitätsanforderungen gerichtet. Battegay (1989, S. 224) zitiert Lazarus (1966), der ,Coping' in diesem Sinn definiert hat. Sie dienen dem Abbau von emotionalen und kognitiven Spannungen. Battegay sieht in ihnen u.a. den Versuch, bei langandauernder, psychosozialer Belastung die narzisstische Homöostase aufrecht zu erhalten. Da es sich um gleichsam automatisierte Reiz-Reaktionsmuster handelt, die ihren Ursprung primär nicht in einem Trieb/- Triebabwehrkonflikt haben, leitet er ihre ICH-Funktionen aus der „konfliktfreien Sphäre" Hartmanns ab (s.o. S. 17), auch wenn die ,Coping'-Strategien persönlichkeitsstrukturelle Ausprägungen zeigen. Porsch unterscheidet zwischen hand- lungs-, emotions- und kognitionsbezogenen ,Coping'-Strategien (2007, S. 16).

Schwere Belastungs- und Anpassungsstörungen

Es handelt sich um Reaktionen auf außergewöhnlich belastende Lebensereignisse, die akut oder kontinuierlich einwirken, die primär ausschlaggebende Kausalfaktoren darstellen und ohne deren Einwirkung die Störung nicht entstanden wäre (ICD-10, 1994, Bd. I, S. 356 ff., ICD-10-GM 2005).

Sprache und soziales Handeln

Sprache ist ,Gegenstands-konstitutiv' in den Dimensionen von Raum (,ICH-DU'-Rela- tion) und Zeit (Formen der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit). Ihre soziale Funktion hat die Sprachwissenschaftler seit der ersten Hälfte des 20. Jh. mit Aufkommen des Strukturalismus (Saussure 2001) besonders beschäftigt.

Grinberg & Grinberg (1990, S. 113 ff.) haben auf die besondere Funktion der Sprache im Zusammenhang mit der Migration hingewiesen: „Die Merkmale der Sprache enthalten eine bestimmte Weltanschauung, die die Art und Weise, wie wir die Realität wahrnehmen, bestimmt. Die Sprache ,erzeugt' das Bild, das wir uns von der Realität machen, und zwingt es uns gleichzeitig auf". Unter Bezug auf Schaff (1969) handele es sich bei der Sprache „um eines der traditionellsten Element der Kultur" (ebd. 1990, S. 113).

Die Vertreter des .Symbolischen Interaktionismus' gehen davon aus, dass Identitätsbildungen immer nur im Rahmen von Beziehungen und Interaktionen des gesellschaftlichen Lebens erfolgen.

Für Mead (1948) erhalten alle Gegenstände, Lebewesen und Verhaltensweisen erst durch gemeinsame Interpretationen, vermittelt durch Symbole, eine soziale Bedeutung. Die Verständigung ist an sozial anerkannte Symbole, Sprache, Gestik und Mimik gebunden.

Für Habermas (1966, S. 58) gilt, dass sich soziales Handeln überhaupt erst unter Bedingungen sprachlicher Kommunikation bildet.

Goffman (1963, S. 2 f.) unterscheidet zwischen einer

personalen Identität, die die Einzigartigkeit eines Menschen vor dem Hintergrund seiner persönlichen Biographie meint, und einer

sozialen Identität. Diese beinhaltet alle normativen Erwartungen, die von außen an das Individuum gerichtet werden, und die es zu erfüllen hat. (ebd. S. 51 ff. und S.105)

Individualität basiert daher auf einem Zusammenspiel beider Arten von Identität, d.h. einerseits die Erwartungen zu erfüllen, andererseits sich gleichzeitig dazu distanzierend in Beziehung zu setzen, um einen eigenen Standpunkt einnehmen zu können. Dies gilt sowohl in der Begegnung mit Anderen, als auch hinsichtlich unterschiedlicher Ebenen, in die ein Gesellschaftssystem gegliedert ist. Regeln legen zwar fest, was für eine soziale Rolle wichtig ist, sie lassen auch einen gewissen Interpretationsraum zu. Dieser ist jedoch bei einem starren Normensystem eingeengt, so dass keine Eigeninterpretationen möglich sind.

Für Krappmann (2005, S. 133) sind zwei Grundqualifikationen sozialen Handelns für die Ausgestaltung sozialer Rollen von Bedeutung:

Rollendistanz meint die Fähigkeit, Rollenerwartungen zu übernehmen, sie zu überprüfen, sie teilweise zu verändern ohne die Rolle ganz aufzugeben.

Ambiguitätstoleranz meint die Fähigkeit, Widersprüche und unterschiedliche Rollenerwartungen, die sich gleichzeitig ergeben können, zu ertragen.

Die Vermittlung dieser Grundqualifikationen sozialen Handelns werden über subkulturell geprägte Erziehungsstile und Inhalte an die nachfolgende Generation weitergegeben.

Im Gegensatz zum Symbolischen Interaktionismus, bei dem es um symbolisch vermittelte Sinnzusammenhänge und damit um Bewusstseinsakte geht, ist beim ,linguistischen Ansatz' Intersubjektivität mit den grammatischen Regeln symbolgesteuerter Interaktionen gegeben. „Die Regeln, nach denen Lebenswelten strukturiert sind, werden (...) sprachanalytisch greifbar in den Regeln von Kommunikationsprozessen. Soziale Handlungen können (so) in der gleichen Weise analysiert werden, wie die internen Beziehungen zwischen Symbolen" (Habermas 1966, S. 124 f.).

Im Prozess des Spracherwerbs findet in Form begrifflicher Symbolisierung die Transformation von der soziologischen auf die psychologische Ebene statt. Als Erklärungsmodell eignet sich die linguistische Theorie von Chomsky (Grinberg & Grinberg 1990; Bußmann 2008, S. 241-245):

Er unterscheidet zwischen

„grammatical competence", als einem abstrakten, linguistischen Regelsystem, und

„grammatical performance", dem konkreten Sprachgebrauch. Sprachliche Symbole werden erst in der Ordnung dieses Regelsystems verstehbar.

Oevermann begreift diese Regeln „als sozial eingespielte Strategien (...), die mit den Strukturbedingungen von Sozialbedingungen und institutionalisierten Rollenerwartungen variieren". Er sieht einen Zusammenhang zwischen ,competence' und Performance', und damit einen „soziologischen Zugang zur Erklärung schichtspezifischer Differenzen im sprachlichen Ausdruck" (1970, S. 39).

Angewandt auf das normativ-sozialstrukturelle Verhältnis von Subkulturen und übergreifender Gesamtkultur bedeutet dies, dass ,competence' und ,performance' stärker durch Tradition und Eigenarten von Subkulturen bestimmt sind. Dies würde über eine jeweils subkulturell geprägte, symbolische Repräsentanz von Sozialbeziehungen die Bedingungen einer milieuspezifischen Sozialisation erklären (Oevermann 1970).

Psychoanalytischer Symbolbegriff

Auf psychologischer Ebene findet die Verinnerlichung von Eigenschaften und Traditionen von Anfang an in einem leiblichen Prozess der Bedürfnisbefriedigung im sozialen Zusammenspiel der frühen Kindheit statt. Diesem Prozess entspricht die Bildung innerer, symbolischer Repräsentanzen, die sich mit zunehmendem Spracherwerb in einem Prozess der Mentalisierung zu ganzheitlichen Objekt- und Selbstrepräsentanzen vervollständigen.

Lorenzer (1970, S. 107 ff.) weist auf die besondere Beziehung von symbolischer Repräsentanz und dem Mechanismus der Verdrängung hin, der einen Ausschluss aus dem Bewussten bewirkt. Dies bedeutet eine Desymbolisierung, die ihrerseits einer eingeengten Erlebnisverarbeitung entspricht (Kohte-Meyer 1999, S. 71-97).

Die getrennte Berücksichtigung des soziolinguistischen und des psychodynamischen Aspekts der inneren Symbolbildung ist insofern von Bedeutung, als es sich bei der Verdrängung um einen ehemals bewussten, im anderen Fall, um einen ,habituell', aufgrund subkultureller Alltagspraxis nicht Vorhandenen, damit bisher noch nicht bewusst erlebten, ,mentalisierten' Inhalt handelt, was behandlungstechnisch von bedeutender Relevanz ist.

Internalisierung und psychosoziale Belastbarkeit

Die Weitergabe kultureller Normen findet transgenerational in Sozialisationsprozessen auf unterschiedlichen, gesellschaftlichen Ebenen und ,alltagspraktisch' über Erziehungsstile und Erziehungspraktiken der Eltern statt. Ziel ist die Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, um die nachfolgende Generation auf ihre Aufgaben im Erwachsenenleben vorzubereiten. Gleichzeitig geht es auch um eine motivationalemotionale Vorbereitung auf die Übernahme kultureller Werte und Pflichten. Die gelingende Verbindung beider Sozialisationsanforderungen ist die Voraussetzung für die Entwicklung einer tragfähigen Identität. Damit ist unter Bezug auf Erikson der soziale Bezug des ICHs gemeint, d.h. die Fähigkeit, bei der Bewältigung der Lebensaufgaben ein psychosoziales Gleichgewicht zu bewahren. Diese ICH-Qualität ist weder angeboren noch beständig, sondern muss immer wieder neu, von einer Generation zur nächsten, erlangt werden. Das Bewusstsein des eigenen ICHs, seine persönliche Identität, erwirbt das Kind durch Internalisierungsprozesse im Verlauf seiner Entwicklung (Erikson 1953, S. 147). Je nach sozialökonomischer und kultureller Zugehörigkeit beinhaltet die persönliche Identität verschiedene Teilaspekte, die sich auf die Familie, auf das unmittelbare soziale Umfeld (Dorf, Kleinstadt, Stadtviertel) mit seinen sozialisierenden Einrichtungen (verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Beziehungen, Schule, Arbeitsstätten), oder auch auf übergreifende, staatlich-nationale oder religiöse Einflüsse beziehen.

Während Internalisierung als soziologische Kategorie ganz generell die Übernahme kultureller Normen und Werte unter dem Aspekt von Rollen- und Verhaltenserwartungen meint, stellt dieser Begriff als psychologische Kategorie einen Oberbegriff für unterschiedliche Verinnerlichungsprozesse je nach Stadium der Ich-Entwicklung dar. Im klassischen, psychoanalytischen Strukturmodell bezieht er sich auf die Übernahme von elterlichen Identifizierungsangeboten im Zusammenhang mit den Bewältigungsmustern der ödipalen Phase. In ihr sind die Prozesse der Identifizierung und verschiedene Abwehrvorgänge für die Bildung und Verfestigung der Substrukturen (ÜBER-ICH und ICH) wirksam. Von zentraler Bedeutung für den Aufbau von Charakterzügen ist dabei der Abwehrmechanismus der Reaktionsbildung als mächtigste Form der Triebregulierung anzusehen (Freud, A., S. 11). Dabei wird eine ,verpönte' Triebregung durch eine gegenteilige Regung unterdrückt (z.B. Entwicklung einer besonderen Friedfertigung als permanente Abwehr einer unterdrückten Aggression).

Hoffmann und Trimborn haben 1979 eine systematische Analyse der Bedeutung sozialer Faktoren für die Entstehung psychischer Substrukturen vorgelegt. Sie bringen psychologische Substrukturen mit unterschiedlichen Teilaspekten elterlicher Identifizierungsangebote in Verbindung. Sie sehen das Selbstwertgefühl als Koeffizient der einzelnen Identifizierungserlebnisse an (ebd. S. 145).

Die Autoren betonen, dass es ihnen um die Strukturentwicklung im Modell der klassischen psychoanalytischen Theorie als Folge von Triebentwicklungen und den damit verbundenen Abwehrvorgängen „(der) Entwicklung von Objektbeziehungen und (den) daraus resultierenden Affekte(n)" (ebd. S. 146) geht. Die Übernahme sozialer Rollen ist an die gelingende Auseinandersetzung mit den elterlichen Identifikationsangeboten der ödipalen Phase gebunden, was dann wiederum eine Voraussetzung für eine weitere Entwicklung von ICH-Reifung und ICH-Stärke und damit einer psychosozialen Belastbarkeit ist. Die Differenzierung in operative und kognitive Aspekte des Identifikationsangebotes ermöglicht einen methodischen Anschluss an Schule und berufliche Ausbildungsinstitutionen, an die sog. ,sekundären Sozialisationsagenturen'. Sie umfasst auch den Erwerb von Sprache. Sprache ist durch die Bedeutung ihrer Begriffe und durch die Ordnungsfunktion hinsichtlich der Wahrnehmungsstruktur ,gegenstands-konstitutiv' (s.o. S. 20). Sie eröffnet, bzw. limitiert somit Wahrnehmungsund Erfahrungsbereiche und ist die Voraussetzung für eine Mentalisierung des Erlebens in allen seinen Bereichen. Dies bezieht sich sowohl auf das Ausmaß einer intrakulturellen Durchlässigkeit, als auch auf das Gelingen interkultureller Anpassungsprozesse.

Die ödipale Konstellation ist triangulär. Während sie für die Vertreter der klassischen Triebtheorie, wie bereits dargestellt (s.o. S. 14 ff.) als die entscheidende psycho-dyna- mische Konflikt-, bzw. Störungsebene betrachtet wird, sehen Vertreter neuerer psychoanalytischer Theorien die frühe dyadische Beziehung zwischen Mutter und Kind als zentrale Störungsebene für Internalisierungsprozesse an (s.o. S. 15 ff.). Für die Frühformen einer leibnahen Verinnerlichung mütterlicher Teilaspekte finden wir bei Jacobson (1977) daher den Begriff der Inkorporation als eine Vorform der Internalisierung. Je nach weiterer Ausreifung der ICH-Funktionen werden komplexere ,Teil- Aspekt-Verinnerlichungen' als Introjektionen bezeichnet. Identifizierungen stellen schließlich die reifste Form der Verinnerlichung bzw. Internalisierung, dar und sind die Grundlage einer stabilen ICH-Identität.

Während Hoffmann und Trimborn die Verinnerlichung sozio-kultureller Gegebenheiten auf der Ebene einer metapsychologischen Begriffsbildung analysieren, untersuchen Holden und Edwards (1989) und besonders Perris et al. (1994, zit. bei Albani et al. 2002, S. 164) die Qualität elterlichen Erziehungsverhaltens als ätiopathogenetischen

Faktor unter Einbeziehung der frühen, dyadischen Mutter-Kind-Beziehung. Gestützt auf eine breit angelegte Untersuchung hatte Perris, auch im transkulturellen Vergleich, Ablehnung, emotionale Wärme und Überbehütung als besonders wirksame „Vulnerabilitätsfaktoren" gefunden. Schumacher et al. (1999 und 2000) übernahmen seinen Untersuchungsansatz und entwickelten mit einem ,Fragebogen zum erinnerten elterlichen Verhalten' (FEE[11] ) eine deutsche Kurzform seines Untersuchungsbogens EMBU[12] mit einer Differenzierung von drei Kategorien (s.o. Tab. 3).

Bereits seit Ende 60-er Jahre gibt es im deutschsprachigen Raum klinisch orientierte Veröffentlichungen bezüglich der Auswirkung des elterlichen Erziehungsverhaltens auf die frühkindliche Entwicklung. Eine Sichtung entsprechender Arbeiten von Hau (1968), Dührssen (1984), Tress (1986), Richter et al. (1990) zeigt, dass diese Autoren mit der Beachtung von emotionaler Zuwendung, Körperkontakt, Rollen/- und Leistungserwartung zu den gleichen, pathogenetisch relevanten Kategorien gekommen waren.

Eine besondere Rolle bei der Durchsetzung von Erziehungszielen spielen unterschiedliche Formen elterlicher Gewalt (s.o. S. 13). Brockhaus Multimedia 2003[13] definiert in diesem Zusammenhang ganz allgemein Gewalt als „die Anwendung von physischem oder psychischen Zwang gegenüber Menschen" und unterscheidet zwischen einer positiven und einer negativen Form von Gewalt:

Die positive Form von Gewalt betrifft ein kulturell legitimiertes Durchsetzungsvermögen in Macht- und Herrschaftsbeziehungen als legitimes Zwangsmittel zur Sicherung von Recht und Ordnung" (lat.: potestas = Amtsgewalt).

Die negative Form von Gewalt betrifft die „rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen" als unrechtmäßiges Mittel zur Durchsetzung von Herrschaft gegen den Willen des Opfers" (lat.: violentia = Gewalttätigkeit, Unterwerfung).

Gewalt tritt auf in Form persönlicher, körperlicher oder verbaler Gewalt oder als dauernder Zustand indirekter, verdeckter Gewalt, z.B. auch als Anwendung von Zwang in Form gesellschaftlicher oder institutioneller, kulturell gebilligter Ordnungsgewalt, sog. struktureller Gewalt'.

Gewalt i.S. von ,violentia' ist Äußerungsform von Aggression, die unter einem allgemeinen, einem psychologischen oder einem völkerrechtlichen Gesichtspunkt definiert wird (Brockhaus Multimedia 2003):

Allgemein wird unter Aggression ein körperliches oder sprachliches Angriffsverhalten gegenüber Sachen oder Lebewesen aufgrund eines angeborenen Triebes, als Folge von Frustrationen oder Lernen am Modell verstanden.

Die psychologische Definition bezieht sich auf ein affektbedingtes Angriffsverhalten aufgrund eines Aggressionstriebes, als Folge von Frustrationen oder als Ausdruck einer milieubedingten Verhaltensprägung.

Im völkerrechtlichen Sinn wird Aggression als „manifestes Verhalten, dessen Ziel die körperliche oder bloß symbolische Schädigung oder Verletzung einer anderen Person, eines Tieres oder auch einer Sache (...)"ist, definiert.

Toprak (2004, S. 91) betont in diesem Zusammenhang, dass „die Reichweite psychischer Gewalt (...) sehr unterschätzt oder überhaupt nicht wahrgenommen" wird. Er zitiert Lamnek (1997, S. 232), der darauf hinweist, dass bei der psychischen „Gewalt (Drohung, Nötigung) (..) die intersubjektive Prüfung erschwert" sei, da die „Einschätzung als psychische Gewalt von der subjektiven Wahrnehmung" abhänge. In Gesellschaften mit subkulturell unterschiedlichen Wertsystemen kann ein- und dieselbe Form von Gewalt daher je nach Zugehörigkeit des Betroffenen entweder als kulturell legitimierte Normalität oder als ungerechtfertigte Gewalttätigkeit erlebt werden.

Bei der vorliegenden Untersuchung wurden sowohl das erinnerte, elterliche Erziehungsverhalten als auch ein gegenseitiges, partnerschaftliches Verhalten der Patientinnen und ihrer Eltern unter psychologischem Aspekt einer erlebten Gewalttätigkeit geordnet. Dabei wurde nicht von dem gelegentlichen Vorkommen eines Gewaltmerkmals ausgegangen, sondern von einem die Beziehungssituation dauerhaft prägenden Zustand, wie er sich im Erleben der Patientinnen widerspiegelte (s.u. S. 28, Tab. 4).

[...]


[1] Der Einfachheit halber wurde für die allgemeinen Bezeichnungen Patienten, bzw. Migranten, nur die männliche Form verwendet, außer wenn es sich, bezogen auf den empirischen Teil der Arbeit, explizit um Frauen handelt.

[2] Legitimierung der Ehe zwischen Muslimen und Nicht-MuslimenAnerkennung der Ziviltrauung als einzige Form der Ehe Seit 1934 aktives Wahlrecht für die Frau Abschaffung der Polygamie Festlegung eines Mindestheiratsalter Gleiches Recht für Frauen im Fall der Scheidung Gleiches Sorgerecht für Kinder Gleiches Erbrecht Seit 1936 Kopftuch/- Schleierverbot in allen öffentlichen Bereichen Einführung der allgemeinen SchulpflichtVerbot der existierenden Religionsschulen

[3] Gesetzlichkeit, Rechtmäßigkeit;

[4] Gespräche;

[5] Strafe;

[6] Übereinstimmung;

[7] Analogieschluss

[8] Als Beleg für die absolute Autorität des Vaters und den rückhaltlosen Gehorsam des Sohnes führt Baidawi die Stelle im Koran an, in der es um Isaaks Opferung durch Abraham geht: Sure 37, Vers 102 : „ Ich sah im Traum, dass ich Dich schlachten werde. Sieh und sag, was Du meinst!" - Er sagt:" Vater, tu was Dir befohlen wird ! Du wirst mich, so Gott will, als einen der Standhaften finden". (Übers. D.S.)

[9] Ein sorgfältiges Studium der Originalquellen ( u.a.: Koran Sure 4 , oder Sure 30, Vers 21), wo es unter Bezug auf die menschliche Schöpfungsgeschichte heißt : „. und Er setzte zwischen euch Liebe und Mitleid .. " gibt eine derartige Interpretation zumindest für Mohammeds Denken nicht her. Kelek verallgemeinert hier m.E. einen Teil der türkischen Alltagserfahrung. - Auch Khoury (2005, S. 291) räumt eine „ ziemliche Kluft zwischen den Angaben des Rechts (Regeln im Koran, D.S.) und der Alltagspraxis" ein.

[10] hier : erbbiologisch gemeint.

[11] Schumacher, J., Eisemann, M., Brähler, E. (1999:194 – 204): FEE = „Fragebogen zum erinnerten elterlichenVerhalten“.

[12] EMBU: „Egna Minnen Beträffando Uppfostra" (schwedisch: „Meine Erinnerung an die (zur) Kindheit", zit. bei Albani et al. 2002-164.

[13] http://www.gewalt-online.de/der-gewaltbegriff

Fin de l'extrait de 119 pages

Résumé des informations

Titre
Migration im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne
Sous-titre
Ein klinischer Beitrag zur Psychopathologie türkischer Patientinnen
Auteur
Année
2010
Pages
119
N° de catalogue
V160565
ISBN (ebook)
9783640739240
ISBN (Livre)
9783640739554
Taille d'un fichier
880 KB
Langue
allemand
Annotations
Überarbeitete Ausgabe der Dissertation ‚Die Bedeutung früher Trennungsereignisse im Hinblick auf psychogene Erkrankungen im Erwachsenenalter bei türkischen Patientinnen‘, Medizinische Fakultät Charitè, Universitätsmedizin Berlin, 2010
Mots clés
Migration, Psychopathologie, Türkische Patientinnen, kulturelle Variablen
Citation du texte
Dieter Schmidt (Auteur), 2010, Migration im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/160565

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