Klangvolle Verfasser sind uns aus der Blütezeit des Bodenseeklosters Reichenau überliefert. Im 9. Jahrhundert ragen Persönlichkeiten wie Heito, Waldo, Walahfrid Strabo, aber auch Reginbert und Wetti aus dem ansonsten nicht besonders quellenreichen Frühmittelalter heraus. Der Wirkungskreis dieser gelehrten Äbte und Brüder im Reichenauer Skriptorium fällt in die Zeit eines reichsweiten kulturellen Umbruchs, initiiert im zu Ende gehenden 8. Jahrhundert durch Karl den Großen. Die heute als sogenannte „karolingische Renaissance“ bekannte Reformbewegung in Erziehung, Schrift und Sprache bewirkte eine neue Hinwendung zur Antike. Im Gegensatz zur humanistisch begleiteten Renaissance des 15. Und 16. Jahrhunderts bewegte sich der karolingische Vorgänger jedoch noch fest eingebettet in die patristisch-theozentrische Glaubenswelt des christlichen Mittelalters.
Im Kontext mit dem Kloster Reichenau stellt sich nun die Frage, wie intensiv und in welcher Form diese neue Gedankenwelt auf der Insel Einzug hielt. Welchen Beitrag lieferten die oben genannten Autoritäten im Hinblick auf ihr schriftliches Vermächtnis? In die Untersuchung soll ebenfalls die Auswirkung der benediktinischen Reform auf die klösterliche Kultur unter Benedikt von Aniane einfließen. Doch auch der, auf der Reichenau entstandene, St. Gallener Klosterplan mit seiner beispielhaften Trennung von interner und externer Schule ist eine nähere Betrachtung wert. Ist es noch nachzuvollziehen, ob und wie dieses Ideal im Inselkloster umgesetzt wurde?
Bedauerlicherweise sind die Bestände des Reichenauer Skriptoriums nicht mehr an Ort und Stelle anzutreffen. Auch lässt sich nicht immer zweifelsfrei sagen, ob die überlieferten Werke, deren sich eine größere Anzahl in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe befinden, auch tatsächlich Reichenauer Provenienz sind. Mit Sicherheit sind hingegen Schriften, wie die Visio Wettini, die Vita Sancti Galli, der Hortulus oder (Hermann der Lahme) ihren Verfassern zuzuordnen. Im Rahmen der Möglichkeiten soll in der Arbeit herausgearbeitet werden, ob das kulturelle Leben in der Inselabtei, ihrer Bedeutung entsprechend, ein Musterbeispiel der karolingischen Erneuerung darstellte.
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- Ralph Manhalter (Author), 2024, Das Skriptorium der Reichenau, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1609412