Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Identität, Sozialisation und Gesellschaft
2.1 Was ist Identität
2.2 Was ist Sozialisation
2.3 Sozialisationstheorien
2.3.1 Psychologische Bezugstheorien
2.3.2 Sozialökologische Sichtweise
2.3.3 Rein soziologisch orientierte Theorien
2.3.4 Konstruktivistische Sichtweise von Sozialisation
3. Selbstsozialisation
3.1 Bedeutungsräume
3.2 Begriffsfassung – Umfeld und Gegenpol
3.3 Historischer Exkurs und pädagogische Bedeutung
4. Handlungstheorie
5. Resümee
6. Literaturverzeichnis
7. Quellenverzeichnis
8. Versicherung
1. Einleitung
Jeden Tag aufs Neue muss ein soziales Wesen ein gewaltiges Maß an auf ihn einstürmenden Reizen aufnehmen, welche verarbeitet, antizipiert und interpretiert werden wollen, um Leben in gesellschaftlichem Rahmen möglich zu machen. Der Mensch leistet dies indem er in einem Prozess zu einem sozial funktionierenden und berechenbaren Rollenträger[1] wird und so Teil der Gesellschaft sein kann. In dem Prozess der sozial – Werdung bildet sich jenes heraus, was wir als Identität verstehen. Ihre Entstehung, extrinsischen Einflüsse, sowie Prozesse der Vergesellschaftung sollen Ansatzpunkte dieser Arbeit sein.
In dem Seminar zur (Selbst-)Sozialisation befassten wir uns weiterführend mit dem Stellenwert der Eigenleistungen des Menschen im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Angeboten, welche unter Verwendung von Schlagworten wie Selbstorganisation, Selbststeuerung, Selbstmanagement, Selbstkontrolle, Selbstregulation sowie Eigenverantwortung geführt werden. Den Schwerpunkt bildete die Betrachtung der aktiven Aneignungsprozesse der Sozialisation, betitelt als Selbstsozialisation. Das Präfix „Selbst-“ wird den Begriffen Sozialisation und Bildung häufig dann vorangestellt, wenn es darum geht, die Selbsttätigkeit und Eigenaktivität des Individuums in den Vordergrund zu rücken. Im pädagogischen Kontext sind es aktuell beispielsweise Konzepte der Selbstwirksamkeit oder auch des Empowerment (als Ablösung des Begriffs der Selbsthilfe), die diskutiert werden.
Den Prozess der Sozialisation beschreibend wurden im Seminar Kinder und Jugendliche besonders hervorgehoben. Sie erleben den Prozess des Erwachsenwerdens zwischen zwei Polen: die Fremdsozialisation, durch pädagogisches Wirken auf der einen, die Selbstsozialisation auf der anderen Seite. „Das Verhältnis von Fremd- und Selbstsozialisation ist vorstellbar als ein Kontinuum, dessen Endpunkte (Fremdsozialisation – Selbstsozialisation) nur als Konstrukte existieren: Es gibt weder reine Selbst- noch reine Fremdsozialisation. Verschiedene soziokulturelle Kontexte bergen jeweils unterschiedliche Selbst- und Fremdsozialisationspotenziale“ (Müller 2004, S.2). Die Herausbildung des Menschen als soziales Wesen findet nun zwischen diesen Polen statt.
Die Aufgabe dieser Arbeit soll es sein, sich dem theoretischen Begriff der Selbstsozialisation mit einem Umweg über die gängigsten Sozialisationstheorien zu nähern, um dann Anhand eines Essays von Jürgen Zinnecker (2000) ausführlich den Begriff selbst zu erörtern.
2. Identität, Sozialisation und Gesellschaft
Um einen Prozess zu beobachten und zu verstehen, bietet es sich an, diesen in seine kleinsten Bestandteile und Aktionspotentiale zu zerlegen. Bei der Sozialisation, welche im weiteren Verlauf Gegenstand der Betrachtung sein soll, verhält es sich nicht anders. Die Frage nun, um was es eigentlich geht, ist leicht gestellt: „Wie und warum wird aus einem Neugeborenen ein autonomes, gesellschaftliches Subjekt? Oder anders: Wie werden wir ein Mitglied der Gesellschaft?“ (Zimmerman 2000, S.13). Die Antwort auf diese Frage ist mit den in der Überschrift genannten Begriffen verbunden und ließe sich damit lapidar schnell formulieren: Der Mensch bildet in einem dialektischen Prozess der Sozialisation seine Identität und Persönlichkeit, welche, für eine bestimmte Gesellschaft, relativ zeitstabiles Verhalten bestimmt und das Zusammenleben in gesellschaftlichem Rahmen ermöglicht. Hierbei ist der Mensch Träger verschiedenster Rollen.
Um diese Aneinanderreihung von Begriffen aus der Sozialisationstheorie hinreichend zu verstehen ist eine Auseinandersetzung mit den einzelnen Begriffen notwendig. So ist die Identität des Individuums, als quasi kleinste Kenngröße des sozialen Konstrukts „Gesellschaft“, bestimmend für eine soziale Anordnung von Beziehungen. Sie wird gebildet durch den Prozess der Sozialisation und bestimmt später, in fast reproduktiver Art und Weise durch ihre, verhaltensbestimmende Ausprägung, den Sozialisationsprozess der eigenen Person sowie den von anderen Subjekten in der unmittelbaren und mittelbaren gesellschaftlichen Umgebung. Die Gesellschaft ist die Rahmen gebende Instanz und bestimmt mittels komplexer Sozialbeziehungen ein entsprechendes Sozialsystem.
2.1 Was ist Identität
Was aber ist nun Identität und welche Rolle spielt sie? Es ist nachvollziehbar, anzunehmen, dass Identität nicht von Beginn an gegeben ist. „Identität entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu diesem Prozess als Ganzen und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses“ (Mead 1980, S.177). Es stellen sich zwei Fragen: Zum einen die nach dem Wesen von Identität und zum anderen nach der Entstehung derselbigen. Zweites soll im weiteren Verlauf in Verbindung mit dem Begriff der Sozialisation in Ansätzen behandelt werden. Beim Wesen von Identität gilt es, sich auf einem Umweg der Fragstellung zu nähern. So gibt es generell mehr als eine Dimension um sich dem Begriff der Identität zu nähern und es muss sich zuerst diejenige vergegenwärtigt werden, welche Grundlage der Betrachtung sein soll.
In psychologischer Hinsicht steht der Begriff Identität im Kontext zu Konzepten vom Ich, der Persönlichkeit und der Selbstwahrnehmung. Sie geben Aufschluss über einen wie auch immer gearteten Ist-Zustand, zum Beispiel in der von Freud konstatierten Theorie vom Es, Über-Ich und Ich, welche die verschiedenen Persönlichkeitsunterschiede der Menschen, wobei der Begriff hinreichend mit dem der Identitätsunterschiede gleichgesetzt werden kann, aus dem Umgang mit den Grundtrieben heraus zu erklären versucht (vgl. Zimbardo 2004, S.617). Diese Theorie befasst sich mit den intrinsischen Faktoren der Persönlichkeits- oder Identitätsbildung[2] und gehört zum Komplex der psychologischen Bezugstheorien von Sozialisation. Hierzu später mehr.
Eine zweite Ebene befasst sich mit dem Begriff aus erkenntnistheoretischer Position heraus. Hierbei dient das Wort „Identität“ der Beschreibung einer generellen Identifizierung von Objekten. So besitze jeder Gegenstand der Vorstellung „Identität“ im Sinne seiner Sich-selbst-Gleichheit (vgl. Reck 1974, S.21f). Hierbei ist die Erkenntnis der Einzigartigkeit von Objekten und der Attributionen von spezifischen Eigenschaften fundamental für die menschliche Bewusstseinstätigkeit. Das heißt schlicht und ergreifend, dass ein Objekt, ob es nun Mensch oder Stuhl sei, habe Identität weil es als solcher Gegenstand mit den jeweiligen Eigenschaften zu erkennen sei und von anderen zu differenzieren ist. Dieser Ansatz aus dem Bereich der Erkenntnistheorie, wenn auch nur oberflächlich angerissen, zur Erklärung von Identität scheint nun zwar nicht angemessen, wenn im späteren Verlauf hieraus die Überleitung zu soziologischen Aspekten geschehen soll. Allerdings leitet er schon fast in einen, von Mead geprägten sozialanthropologischen Ansatz zur Erklärung der Gewinnung von Identität ein.
Mit dem Begriff der Gewinnung kommt nun untrennbar die Erkenntnis hinzu, dass, spricht man vom Wesen der Identität des Menschen als solchen, diese nicht losgelöst von dem Prozess ihrer Entstehung betrachtet werden kann. Bei der Gewinnung von Identität geht es nach Mead in erster Linie um die Objektivierung des Subjekts sowohl durch sich selbst als auch durch andere (vgl. Mead 1980, S.178f). Alois Hahn (1987) spricht in diesem Zusammenhang von einem Perspektivenwechsel, welcher eine Objektivität des eigenen „Ich“ entstehen ließe, sich selbst quasi von außen wahrzunehmen. Die Objektivierung des eigenen „Ich“ wird hierbei maßgeblich von der Fähigkeit bestimmt, sich mit den Augen der Umgebung zu sehen. Von ihr wird das Bewusstsein der personalen Identität vermittelt. Das Individuum schlüpft in die Rolle der anderen, sieht sich selbst und erfährt so die Gesamtheit der eigenen Handlungen, losgelöst von der Selbstempfindung (vgl. Hahn 1987, S.9).
So geht es also grundsätzlich um das „Selbst“ eines Menschen und wie es wahrgenommen wird, erfahrbar gemacht über reflektierende Instanzen innerhalb seines sozialen Gefüges. Den Eindruck, den das Subjekt dann von sich selbst, von seiner Persönlichkeit erhält bzw. Bildet nennt man Identität.
Inhaltlich wird der Begriff „Identität“ in der soziologischen Literatur auf zwei Arten beschrieben. Zum Einen ist Identität als Lebenslaufresultat zu verstehen und zum anderen als Ergebnis von sozialen Zurechnungen durch das Individuum selbst (vgl. Hahn 1987, S.10f). „Einmal nämlich ergibt sich eine Identität als Inbegriff von im Laufe des Lebens erworbenen Gewohnheiten, Dispositionen, Erfahrungen usw., die das Individuum prägen und charakterisieren. Man könnte vom Ich als einem Habitusensemble sprechen. […] Die Identität in diesem Sinne wäre lediglich das Selbst in der Form des An-Sich“ (Hahn 1987, S. 10). Dieses, als Lebenslaufresultat zu verstehende, erworbene, den Menschen beschreibende Handlungsspektrum, wird nun, als zweite Art der Beschreibung von Identität, erweitert durch die Bewusstmachung desselbigen. Hierbei steht der Selbstbezug durch die Übernahme von Fremdperspektiven im Vordergrund. Der Mensch abstrahiert Teilmengen seiner Persönlichkeit, welche er durch die Objektivierung erfahren hat und erhebt diese zum Gegenstand von Kommunikation und der eigenen Darstellung. Kennzeichnend hierfür sind Sätze in denen das eigene Subjekt Gegenstand der Betrachtung ist und mit Eigenschaften attributiert wird (Ich bin so; Ich habe folgende Eigenschaften…). In erster Instanz ist die Identität also das Ergebnis der Verbindung von angenommenen Einstellungen zu geäußertem Verhalten, wahrgenommen durch die Gruppe und dem Subjekt gespiegelt. In zweiter Instanz entsteht dann das Selbstbild, die Identität, als Resultat von zurechnungsfähigen Selbstäußerungen. Zurechnungsfähig deswegen, weil in ein bestimmtes Identitätskonzept passend. Hierbei spielen Wertevorstellungen, Wirklichkeitsauffassungen, Richtigkeits- und Wichtigkeitskriterien einer umgebenden Gesellschaft eine essentielle Rolle (vgl. Hahn 1987, S.11). Es ergeben sich aus dem Kontext der sozialen Erfahrungen Attribute einer Person, welche sie ihrer kulturellen Wertigkeit wegen für würdig befindet, zur eigenen Identität zu werden bzw. beizutragen. Die Unterschiede bei Individuen aus unterschiedlichen Kulturkreisen ergeben sich folglich auch aus der soziokulturellen Ausprägung einer Gesellschaft und weisen somit ausdrücklich auf den Prozess der Sozialisation und der Identitäts- und Wesensbildung hin.
[...]
[1] Auf die verschiedenen Rollentheorien soll in dieser Arbeit nur am Rande eingegangen werden, da die Rezeptionen der Arbeiten von Autoren wie Mead, Dahrendorf, Parsons oder Krappmann den Rahmen sprengen würde (vgl. Schulte-Altenburg 1977, Rollentheorie).
[2] Grundsätzlich ist zwischen den Begriffen zu unterscheiden, so beschreibt Persönlichkeit in erster Linie ein spezifisches Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften und Handlungskompetenzen eines Menschen während Identität das Bild hiervon beschreibt, welches er oder die Außenwelt von diesem Ensemble hat.