Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 EINLEITUNG
2 DEFINITIONEN
2.1 Was ist ein soziales Problem?
2.2 Was ist Gewalt? - Unter besonderer Berücksichtigung von Jugendgewalt
2.3 Jugendgewalt also soziales Problem
3 jugendgewalt im öffentlichen diskurs - exemplarisch am fall brunner
3.1 Jugendgewalt im Spiegel der Medien
3.2 Jugendgewalt - eine empirische Bestandsaufnahme
3.3 Die verschiedenen Akteure im öffentlichen Diskurs um Jugendgewalt
4 THEORETISCHE HINTERGRÜNDE ZU URSACHEN UND BEDINGUNGEN VON JUGENDGEWALT
4.1 Labeling- Approach als soziologischer Erklärungsansatz abweichenden Verhaltens
4.2 Modell für abweichende Karriere nach Quensel
5 Probleminterventionen zwischen Justiz und Pädagogik
5.1 Jugendgewalt und Justiz
5.1.1 Begriffsklärung und rechtliche Grundlagen
5.1.2 Jugendstrafe als Entwicklungsintervention
5.1.3 Möglichkeiten und Grenzen des Jugendstrafvollzug
5.2 Jugendgewalt und Pädagogik
5.2.1 Die konfrontative Pädagogik
5.2.2 Das Anti-Aggressivitäts-Training
5.2.3 Möglichkeiten und Grenzen konfrontativer Pädagogik
6 FAZIT
LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Die Entwicklung der Kriminalität zwischen 1993 und 2003 (ausgewählte Straftaten) nach der Einschätzung der Bevölkerung (Pfeiffer; Windzio; Kleimann 2004, S.417)
Abbildung 2: Gewaltkriminalität mit vorsätzlich leichter Körperverletzung (Bundeskriminalamt 2004, 2008, 2009)
1 Einleitung
Seit ein paar Jahren scheint es, als wäre Jugendgewalt zu einem Dauerbrenner im Internet, in den Zeitungen oder in Fernsehreportagen geworden. Man kommt nicht daran vorbei, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt der Massenmedien stehen meist ungewöhnliche und spektakuläre Einzelfälle, die Eindruck vermitteln, dass die Brutalität der Jugend in den vergangenen Jahren immer mehr zugenommen hat und die TäterInnen immer jünger geworden sind. Die sozialen Ursachen von Jugendgewalt werden dabei häufig nicht beleuchtet und ebenso wenig veröffentlicht.
Der Blick in die Geschichte des Erziehens und Strafen verdeutlicht, dass die Debatte um einen richtigen Umgang mit sogenannten Problemjugendlichen nicht erst in der heutigen Zeit aktuell ist. Durch aktuelle Vorfälle, wie den Fall Brunner, als zwei jugendliche Männer Dominik Brunner zu Tode prügeln, der Zivilcourage zeigte und andere Jugendliche schützen wollte, die in brutaler Art und Weise ohne offensichtlichen Grund in der Öffentlichkeit agieren, erneut aufgebrochen. In den Medien wird im Umgang mit Problemjugendlichen ein dringender Handlungsbedarf postuliert. Die Gestalt des Problemjugendlichen erscheint sehr weitreichend und umfangreich, denn es stellt sich die Frage, was problematisches Verhalten kennzeichnet. Der Rückblick auf die historische Entwicklung zeigt, dass eine abstrakte Bestimmung und Formulierung dessen, was einen Problemjugendlichen ausmacht nur schwer möglich ist. Laut Zwick stellt „der Begriff schwierig eine konzeptionelle Klammer dar, die unterschiedlichste Phänomene zusammenhält (2007, S.111)“. Problemverhalten stellt ein wechselseitiges Geschehen dar. Normalität und Abweichung können und müssen als gesellschaftliches Konstrukt gedeutet werden (Zwick 2007, S. 111).
Der Fokus der vorliegenden Arbeit im Kontext der Diskussion über Problemjugendliche ist auf Jugendgewalt gerichtet. Antisoziales, gewalttätiges und aggressives Verhalten nimmt unter den umfassenden Kategorien von Problemverhalten im Jugendalter eine zentrale Bedeutung in den Medien ein, da die Sicherheit der Gesellschaft bedroht ist. Entwicklungspsychologisch ist es normal, dass Kinder und Jugendliche „im Prozess des Erwachsenwerdens delinquieren (Müller 2001, S.138)“. Durch verschiedene Faktoren, wie die Verlängerung der Ausbildungszeit, hat sich die Jugendphase heutzutage weiter ausgedehnt. Jugendgewalt bleibt damit zwar ein vorübergehendes Phänomen, gewinnt aber durch die Ausdehnung der Lebensphase Jugend an stärkerer Gewichtung. Als brisantes Problemverhalten in der Lebensphase Jugend, sind insbesondere Gewaltdelikte junger Männer in den Fokus der Medi- en geraten. Sie beschädigen Menschen, Dinge, sie beschädigen das Sicherheitsgefühl in ihrem Umfeld und lösen Ängste aus.
Im 2. Kapitel soll zunächst definiert werden, was unter den Begriffen .soziales Problem' (2.1) und .Gewalt' (2.2) - insbesondere der Jugendgewalt - verstanden wird. Welche Kriterien für die Definition einer Sache als .soziales Problem' existieren und welcher Gewaltbegriff im Rahmen dieser Studienarbeit für geeignet erscheint. Es folgt dann die explizite Darstellung der Jugendgewalt als soziales Problem (2.3).
In Kapitel 3 soll am Beispiel des Fall Brunners beschrieben werden, wie das Thema Jugendgewalt, den öffentlichen Diskurs beherrscht. Zunächst soll die Diskrepanz zwischen Schein (3.1) und Realität (3.2) dieser Thematik herausgearbeitet werden, um dann in einem nächsten Schritt darzustellen, welche verschiedenen Akteure im öffentlichen Diskurs an dieser Diskrepanz interessiert bzw. nicht interessiert sind (3.3).
Im 4. Kapitel sollen die theoretischen Hintergründe zu Ursachen und Bedingungen von Jugendgewalt anhand des Labeling- Approach Ansatzes (4.1), ein soziologischen Erklärungsansatz für abweichendes Verhalten dargestellt werden, um dann konkret den Fall Brunner an Hand des Modells für abweichende Karriere nach Quensel (4.2) darzulegen.
In Kapitel 5 wird der Umgang mit dem Problem Jugendgewalt beleuchtet. Zunächst werden Interventionen auf Seiten der Justiz (Jugendstrafvollzug) kurz erläutert und bewertet (5.1), um dann im Bereich der Pädagogik die konfrontative Pädagogik mit ihrer speziellen Methode des Anti-Aggressivitäts-Training charakterisiert, um dann ebenfalls auf Möglichkeiten und Grenzen einzugehen (5.2).
2 Definitionen
Lisa Aberle
2.1 Was ist ein soziales Problem?
Während ein persönliches Problem das Individuum betrifft, bezieht sich ein soziales Problem meist auf die Gesellschaft als Ganzes. Des Weiteren muss man Probleme, die eine Personenmehrheit betreffen, dahingehend unterscheiden, ob es sozial oder natürlich verursacht wurde. Nur ein sozial verursachtes Problem, dass heißt auf Grund von gesellschaftlichen Strukturen und Bedingungen, kann auch als soziales Problem definiert werden (Garhammer 2010a, S.9)
Betrachtet man die einschlägige Literatur so wird deutlich, dass sich keine allgemeingültige, übereinstimmende Definition sozialer Probleme finden lässt. Vielmehr haben sich bei näherer Betrachtung des Diskurses um eine Definition des Begriffs .soziales Problem' zwei unterschiedliche Positionen herausgebildet: So lassen sich Definitionen einer objektivistischen oder einer interaktionistischen Position zuordnen (Albrecht 1990, S.5ff).
Objektivistische Definitionen gehen davon aus, dass ein Problem unabhängig von seiner Wahrnehmung von den Betroffenen oder der Gesellschaft existiert. Einer der bekanntesten Vertreter dieser Position ist Roland Merton. Er unterscheidet zwischen manifesten und latenten Problemen, wodurch soziale Probleme nicht nur auf jene Probleme reduziert werden, die Betroffenen als solche titulieren, sondern auch jene Bedingungen als soziale Probleme anerkennen, welche von den Betroffenen oder der Gesellellschaft noch nicht erkannt und definiert worden sind: „For social problems are not only subjective states of mind; they are also objective states of affairs (Merton 1971, S.806).“
Dieser Ansatz wird seit mehreren Jahren durch die interaktionistische Perspektive verdrängt. So machen Kituse und Spector ihre Abgrenzung zum theoretischen Dualismus - manifeste und latente Probleme als soziale Probleme anzuerkennen - durch folgende Definition deutlich: „Thus, we define social problems as the activities of groups making assertions of grievances and claims with respect to same putative conditions (Kituse; Spector 1973, S.415).“ Hier wird besonders der konstruktive Charakter sozialer Probleme deutlich, indem von (Teilen) der Öffentlichkeit beklagenswerte, sozial verursachte, Situationen und Lebenslagen bestimmter Gruppen oder der gesamten Gesellschaft, skandalisiert, im öffentlichen Diskurs als veränderbar interpretiert und somit zum Objekt politischer Debatten, Interventionen und Programmen gemacht werden (Peters 2002, S.32ff).
Anhand dieser vier Kriterien soll in 2.3 Jugendgewalt als soziales Problem kurz dargestellt werden.
2.2 Was ist Gewalt? - Unter besonderer Berücksichtigung von Jugendgewalt
Sucht man nach der einen Definition des Gewaltbegriffs, so wird man nicht fündig. Sie erscheint als komplexes Phänomen, die sich weder exakt wissenschaftlich noch im Alltag einheitlich definieren lässt (WHO 2003).
Richtet man seinen Fokus auf die öffentliche Diskussion so fällt auf, dass hier oft unterschiedliche Dinge gleichzeitig als Gewalt beschrieben werden: Von Beleidigungen und Beschimpfungen hin zu Mobbing, Vandalismus, Gewaltkriminalität (Raub- und Morddelikte), Ausschreitungen bei Massenveranstaltungen, politisch motivierter Gewalt und vieles mehr. Umgangssprachlich bedeutet Gewalt, die Schädigung und Verletzung von Personen und Sachen. Häufig wird .Gewalt' synonym zum Begriff .Aggression' gebraucht, da sich die beiden Begriffe nicht klar trennen lassen (Gugel 2010, S.55). Auf den Aggressionsbegriff soll im Rahmen dieser Studienarbeit jedoch nicht näher eingegangen werden.
John Galtung führte Ende der 1960er Jahre die Unterscheidung von struktureller bzw. indirekte Gewalt und personaler bzw. direkte Gewalt in den Diskurs mit ein, welche er Anfang der 1990er Jahre durch den Begriff der kulturellen Gewalt ergänzte. Gewalt liegt nach Gal- tung dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre tatsächliche körperliche und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre mögliche Verwirklichung. Bei personaler Gewalt lassen sich Opfer und Täterinnen eindeutig identifizieren und zuordnen. Strukturelle Gewalt, produziert zwar ebenfalls Opfer, jedoch sind dafür keine Personen, sondern bestimmte gesellschaftliche oder organisatorische Strukturen und Lebensbedingungen verantwortlich. Als kulturelle Gewalt werden Ideologien, Überzeugungen, Überlieferungen und Legitimationssysteme bezeichnet, mit deren Hilfe direkte oder indirekte Gewalt legitimiert wird (Galtung 1990, S.291ff).
Zwischen diesen Gewaltformen sieht Galtung einen engen Zusammenhang: „Direkte Gewalt, ob physisch und/oder verbal, ist sichtbar. Doch menschliche Aktion kommt nicht aus dem Nichts; sie hat Wurzeln. [...] eine auf Gewalt basierende Kultur und [...] eine Struktur, die selbst gewalttätig ist, indem sie repressiv und ausbeuterisch ist (Galtung 2005, S.3).‘‘
Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gewalt
der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, die entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt (WHO 2002).“
Dieses Gewaltverständnis scheint zurzeit am differenziertesten, weil es zwischenmenschliche Gewalt ebenso einbezieht wie selbstschädigendes bzw. suizidales Verhalten und (bewaffnete) Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und Staaten.
Nach Gugel (2010) lässt sich Gewalt in drei Kategorien gliedern: Gewalt gegen die eigene Person, interpersonelle und kollektive Gewalt. Dabei wird selbstschädigendes und suizidales Verhalten als Gewalt gegen die eigene Person und eine instrumentalisierte Anwendung von Gewalt durch eine Gruppe - um politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Ziele durchzusetzen - gegen eine andere Gruppe als kollektive Gewalt beschrieben (Gugel 2010, S.58).
Während personale Gewalt,,[...] die beabsichtigte psychische und/oder psychische Schädigung einer Person, von Lebewesen und Sachen durch eine andere Person (Kunczik 1998, S.13)“ beschreibt, bezieht sich der Begriff der interpersonalen Gewalt noch spezifischer auf das gewalttätige Handeln einer oder mehrerer Personen gegenüber einer oder mehrerer anderer Personen (Scheithauer; Rosenbach; Niebank 2008, S.7). Jugendgewalt, als die von Jugendlichen ausgeübte Gewalt, lässt sich dieser Definition gut unterordnen.
Strafrechtlich betrachtet fallen TäterInnen dann unter das Jugendstrafrecht, wenn sie zwischen 14 und 21 Jahre alt sind. Soziologisch und psychologisch betrachtet lässt sich die Jugendphase heutzutage quantitativ nicht mehr ganz so genau abgrenzen. Meist gilt die Pubertät als Beginn und eine abgeschlossene soziale Reifung als Endpunkt der Jugendphase (Gugel 2010, S.158). Wie auch schon bei der Definition von Gewalt festgestellt, stellt auch Jugendgewalt ein Sammelbegriff für unterschiedliche jugendspezifische Delikte dar. Die Begriffe psychische und physische Gewalt sind hier von besonderer Bedeutung: Mobbing, Drohungen und weitere verbale Angriffe, sowie Ignoranz oder auch Stalking werden als psychische Gewalt definiert. Als physische Gewalt hingegen bezeichnet man körperliche Angriffe, die von Kratzen und Beißen bis hin zu schweren Körperverletzungen und Tötungsdelikten reichen (Brockhaus Enzyklopädie). In der öffentlichen Wahrnehmung überwiegt als Form von Gewalt die Gewalt von Jugendlichen, insbesondere in Form von physischer Gewalt (Gugel 2010, S.158).
Verwendet man den Begriff der Jugendgewalt ist es wichtig, zwischen zwei verschiedenen Formen zu unterscheiden: Einerseits existiert Jugendgewalt als zeitlich begrenztes Phänomen im Kontext von Entwicklungsproblemen und Einflüssen der Peer-Group, andererseits beinhaltet der Begriff Jugendgewalt auch Gruppen von Jugendlichen, die Gewalt in einer massiven Art und Weise anwenden und auf längere Sicht delinquentes Verhalten aufweisen (Lösel; Bliesener 2003, S.10).
In der folgenden Ausarbeitung soll Jugendgewalt als eine Form von Devianz betrachtet werden, was in Kapitel 4 näher ausgeführt werden soll.
Des Weiteren soll darauf hingewiesen werden, dass im Kontext von Gewaltprävention (Kapitel 5) Gewalt häufig als physische Gewalt verstanden wird. Im Rahmen der Gewaltforschung stellt dies jedoch eine unzulässige Reduzierung dar, denn was überhaupt als körperliche Gewalt gilt, hängt primär auch davon ab, wie wir den Leib selber interpretieren, das heißt vom kulturellen Kontext, von geschlechtsspezifischen, religiösen, politischen und sonstigen Vorstellungen und Deutungen (Hügli 2005, S.21).“ Gewaltprävention benötigt daher einen Gewaltbegriff, der ein umfassendes Verständnis von Gewalt ermöglicht und die unterschiedlichen Ebenen und Formen (sexuelle Gewalt, frauenfeindliche Gewalt, fremdenfeindliche Gewalt, Jugendgewalt,...) von Gewalt einbezieht, da Gewalt sonst nicht ausreichend erklärt, bestimmte Gewaltphänomene nicht erfasst und keine gemeinsamen Strategien gegen Gewalt entwickelt werden können (Gugel 2010, S.54f).
2.3 Jugendgewalt also soziales Problem
Wie in Kapitel 2.1 bereits vorgestellt, scheint der Begriff .soziales Problem' als Sammelbegriff für unterschiedliche negative Zustände in der Gesellschaft zu sein. Deutlich wurde, dass die Erläuterung und Erklärung sozialer Probleme in hohem Maße abhängig von zu Grunde liegenden Problemdefinitionen sind, welche in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen formuliert und durchgesetzt werden und woran interessierte Akteure und Organisationen sowie die Massenmedien beteiligt sind.
Wie auch später in Kapitel 4 deutlich werden soll, stellt Jugendgewalt kein individuelles, sondern ein sozial verursachtes Problem dar. Jugendgewalt wird als ubiquitär definiert, also als allgegenwärtig und somit fast alle Jugendliche betreffend (Dollinger; Schmidt-Semisch 2010, S.11). Dies scheint bei näherer Betrachtung der Lebensphase .Jugend' sehr plausibel: Diese Phase im Lebenslauf gilt als besonders schwierig, da Jugendliche mit sozialer Integration und Identitätsbildung konfrontiert sind und Devianz, also gewalttätige Handlungen von Jugendlichen, somit als mögliche Folge dieser Doppelbelastung vermehrt auftreten kann (Hurrelmann 2007, S.30f).
Da Jugendgewalt, im Gegensatz zu Gewalt durch Erwachsene, meist im öffentlichen Raum stattfindet, ist sie öffentlich sichtbar und präsent in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Dies ist ein Grund dafür, dass sie im öffentlichen Diskurs heiß diskutiert wird (Brusten 1999, S.510f). Die Medienberichte über gewalttätige Jugendliche, in denen Jugendgewalt skandali- siert und die heutige Jugend als gewalttätigste Jugend aller Zeiten beschrieben wird, boomen. Durch diese mediale Inszenierung fühlen sich viele Menschen in der Gesellschaft von Jugendgewalt bedroht, weswegen sie öffentlich als veränderungsbedürftig definiert und diskutiert wird. Die Politik reagiert darauf mit Änderungen in der Vollziehung des Jugendstrafrechts, sowie mit der Schaffung zahlreicher Präventions- und Gegensteuerungsmaßnahmen (mehr dazu siehe Kapitel 3 und 5): Seit 2007 wird von unterschiedlichen Akteuren diskutiert, längere Strafen verbunden mit einem härteren Durchgreifen bei Straftaten zu verhängen, sowie das Jugendstrafrecht abzuschaffen und bei Jugendlichen das gleiche Strafrecht wie bei Erwachsenen anzuwenden (Gugel 2010, S.171).
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass Jugendgewalt 1. als sozial verursachtes Problem angesehen werden kann, 2. es als solches die Mehrheit der Gesellschaft betrifft, 3. dadurch als veränderungsbedürftig definiert wird und 4. zum Gegenstand politischer Gegensteuerungsmaßnahmen und Programmen wird.
Inwiefern der öffentliche Diskurs über Jugendgewalt jedoch der Realität entspricht und welche Gruppen in der Gesellschaft Interesse an der Aufrechterhaltung des Bildes der gefährlichen Jugend haben könnten, soll im folgenden Kapitel näher betrachtet werden.
3 Jugendgewalt im öffentlichen Diskurs - exemplarisch am Fall Brunner
Lisa Aberle
3.1 Jugendgewalt im Spiegel der Medien
„S-Bahn München: Fahrgast tot geprügelt (Netplosiv 2009)“, „S-Bahn-Fahrgast stirbt nach brutaler Attacke (Spiegel Online 2009a)“, „Sie schlugen und traten ihn wieder und wieder (Spiegel Online 2009b)“. So - und noch weitaus mehr - hießen die Schlagzeilen rund um den 12. September 2009: Zwei Jugendliche, 17 und 18 Jahre alt, erschlagen den 50-jährigen Finanzvorstand Dominik Brunner in München-Solln, der sich schützend vor eine Gruppe 13- bis 15-jähriger Schülerinnen gestellt hat (Spiegel Online 2009c).
Jeden Tag gab es neue Informationen über das Ereignis, so dass aus dem tödlichen Überfall der Fall Brunner, aus den beiden jugendlichen Tätern die „Minutenmonster (Spiegel Online 2009d)‘‘ und aus dem Einzelfall auf eine brutale Jugend rückgeschlossen wurde. Den Schlagzeilen ist dabei allesamt gemeinsam, dass sie nicht neutral geschrieben sind, sondern die Leserinnen in eine gewisse Richtung lenken: Der hoch angesehene deutsche Geschäftsmann wird von mit Frust und Hass erfüllten Jugendlichen tot geprügelt, die Drogen und Alkohol konsumieren, wovon sich einer in einer Jugendhilfeeinrichtung befindet, die die Jugendlichen an diesem Tag einfach haben gehen lassen, da Strenge nicht zu deren Konzept gehöre. Die Schuld wird nicht in den gesellschaftlichen Strukturen gesehen, sondern, wie beispielsweise im Fall Brunner, auf die Jugendhilfeeinrichtung verlagert. Auch ist es auffällig, dass dabei über viele Sachverhaltdetails berichtet wurde, die die Jugendlichen etikettieren, um die Leserinnen zu fesseln. So wurde beispielsweise immer wieder erwähnt, dass die Täter in ihrer Freizeit Alkohol und Drogen konsumierten (Spiegel Online 2009d)
Nach der Beweisaufnahme im Juli/August 2010 hatte sich jedoch ergeben, dass Dominik Brunner mit der .Prügelei' begann und nicht an den Schlägen, sondern an Herzversagen gestorben sei. Zur Folge hatte dies, dass sämtliche Berichterstattungen die beiden Jugendlichen nun in ein anderes Licht rückten: „Trauriger, einsamer junger Mensch“, „Sebastian L., der jüngere der Angeklagten, ist keineswegs der intellektuell minderbegabte Mensch, für den er bisweilen gehalten wurde“ (Spiegel Online 2009e). Des Weiteren werden plötzlich die familiären Hintergründe der Täter genauer beleuchtet, da das psychiatrische Gutachten von einem „Komplettversagen der Eltern“ sprach (Spiegel Online 2009e).
So ähnelt der gesamte Fall Brunner einer Kampagne über die heutige brutale Jugend. Die zahlreichen Artikel haben Fortsetzungscharakter, da es jeden Tag neue Einzelheiten zu berichten gibt, die in erster Linie vermitteln, dass die Täterinnen immer mehr, immer jünger und auch immer brutaler werden und sie härter bestraft werden müssen, da die Menschheit durch sie bedroht ist. Selbst wenn das Interesse an einer Weiterverfolgung nicht gegeben wäre, so wird man mit den Einzelheiten konfrontiert, sobald man die Zeitung aufschlägt. Selbst jetzt, als die Sachlage sich verändert hatte und es eigentlich klar werden müsste, dass die Medienberichte zu voreilig und plakativ waren, schaffen es die Medien trotzdem, daraus ihren Nutzen zu ziehen: Der gesamte Prozess bot wiederum täglich neues Material und die Schuld der falschen Berichterstattung konnte auf die Expertinnen verlagert werden, die sich kurz nach der Straftat zum Ereignis geäußert hatten.
Der Fall Brunner ist jedoch kein journalistischer Ausnahmefall. Vergleicht man die einzelnen Medien miteinander, so fällt auf, dass Jugendgewalt zu einem Dauerbrenner in den hiesigen Presseerzeugnissen geworden ist. Egal ob im Internet, in den Zeitungen und Illustrierten oder in Fernsehreportagen, Jugendgewalt ist das Top-Thema schlecht hin (Pfeiffer; Windzio; Kleimann 2004, S.420f). Man kommt gar nicht daran vorbei, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt der Massenmedien stehen meist ungewöhnliche und spektakuläre Einzelfälle, die den Eindruck vermitteln, dass die Brutalität der Jugend in den vergangenen Jahren immer mehr zugenommen hat: So wird beispielsweise der Fall Brunner als exemplarisch wahrgenommen, obwohl genau das überhaupt nicht der Fall ist (siehe Kapitel 3.2).
Kennzeichen dieser Berichte ist die Fokussierung auf eine bestimmte Tätergruppe, nämliche Jugendliche. Vermehrt wird über eine drastische Zunahme der Gewaltkriminalität von Jugendlichen berichtet. Schlagzeilen des Spiegels wie wachsende Verrohung unter jungen Gewalttätern“, „erbarmungslose Schläger“ oderjunge(n) Männer(n) wie Nitroglyzerin, die schon bei der kleinsten Erschütterung ihres Gemüts hochgehen“ (Spiegel Online 2009f) und der Westdeutschen Zeitung „Jugendgewalt: Immer jünger, immer härter“, „Kinder schlagen häufiger zu“ sind keine Ausnahmen, sondern lassen sich in allen Massenmedien regelmäßig finden. Dies ist - auch wenn es für die Gesellschaft so scheinen mag - kein neues Phänomen, sondern lauteten die Schlagzeilen vor 30 Jahren in der Süddeutschen Abendzeitung ähnlich: „Jung, gefühllos, brutal“, „Mehr Kinder kommen auf die schiefe Bahn“ (Albrecht; Lamnek 1979, S.11).
Der öffentliche Diskurs um Jugendgewalt in den Medien und in der Politik ist daher hauptsächlich von Skandalisierungen und Dramatisierungen geprägt. Die Jugendlichen selbst kommen jedoch nie zu Wort (Gugel 2010, S.163). Um dem Problem .Jugendgewalť entgegenzutreten, werden auf Seiten der Politik Forderungen nach härteren Gesetzen und schärferen Urteile laut, welche sie wiederum in zahlreichen Berichterstattungen kund geben (Heinz 2006, S.8). In Kapitel 3.3 soll dieser .Kreislauf weiter ausgeführt werden.
Geht man von der zutreffenden Vorstellung aus, dass Jugendgewalt als ein gesellschaftliches Problem konstituiert wird (siehe Kapitel 2.3), dann sind die Medien an diesem Prozess in großem Ausmaß beteiligt: Durch sie werden bestimmte Bilder wie die Anzahl der Ereignisse, sowie deren Ausmaß und die Reaktionen darauf geformt, beeinflusst und vertieft, wodurch das Handeln von PolitikerInnen und anderen ExpertInnen in hohem Maße geprägt wird (Walter 2005, S.348).
Die starke Einbeziehung des Opfers in den Berichterstattungen, wie sie auch im Fall Brunner deutlich wurde - „Die letzten Minuten der Beschützers“, „Dominik B. wird postum mit dem Verdienstorden ausgezeichnet“ (Spiegel Online 2009g) -, ruft bei der Bevölkerung mehr Mitleid hervor und rückt die Jugendlichen in ein noch schlechteres Bild. Statt Sachinformationen zu vermitteln, geht es um eine einseitige Berichterstattung über Ängste, Stimmungen und Erwartungen, wodurch das Wissen der Bevölkerung über die eigentlichen Sachverhalte auf der Strecke bleibt (Walter 2005, S.358ff). Nicht weiter verwunderlich scheint dabei, dass die Gesellschaft den Anteil und die Häufigkeit von Kriminalität um ein vielfaches überschätzt. Dies kann man anhand der Abbildung 1 deutlich erkennen. So schätzt die Bevölkerung die Anzahl aller Straftaten um 21 Prozent höher ein.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Die Entwicklung der Kriminalität zwischen 1993 und 2003 (ausgewählte Straftaten) nach der Einschätzung der Bevölkerung (Pfeiffer; Windzio; Kleimann 2004, S.417)
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