Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erika Kohut – eine Tochter wird besessen
2.1 Kindheit und Jugend
2.2 Das Erwachsensein – wer oder was bin ich?
2.3 Beziehungsunfähigkeit und Gefühlskälte
3. Die Mutter
3.1 Die Rolle ihres Lebens
3.2 Mutter Kohut als Ehefrau
3.3 Identität: Mutterschaft
4. Zwei Damen gegen den Rest der Welt
4.1 Reziproke Evokation – Eins bedingt das Andere
4.2 Der Mutterleib als letzte Zuflucht
4.3 Bis das der Tod sie scheidet
5. Fazit
6. Bibliografie
1. Einleitung
„Das Kind ist der Abgott seiner Mutter, welche dem Kind dafür nur geringe Gebühr abverlangt: sein Leben.“[1]
Im Folgenden soll es um die Mutter-Tochter-Beziehung in Elfriede Jelineks autobiografisch gefärbtem Roman oder - wie sie es nannte - eingeschränkter Biografie Die Klavierspielerin gehen. Die Vater-Mutter-Kind-Szene ist defekt und wird ersetzt durch eine pathologisierte Mutter-Tochter-Beziehung. Thematisiert wird zudem die schwierige Verbindung zwischen der Klavierlehrerin Erika Kohut und ihrem Schüler Walter Klemmer – diese soll in hier allerdings nur am Rande von Interesse sein und nur im Hinblick auf Disfunktionalitäten, die sich aus der Beziehung zur Mutter Kohut ergeben, herangezogen werden.
Mutterschaft ist ein als kulturelles Konstrukt, das mit vielen Idealen und Mythen behaftet ist. Die Liebe zwischen Mutter und Kind gilt – dem Klischee folgend – als rein und bedingungslos. Die Mutter sorgt und umhegt ihr Kind uneigennützig, mit dem Ziel, ein kompetentes erwachsenes Kind in die Welt zu entlassen. Jedoch wie so häufig haben Idealvorstellung und gelebte Realität selten etwas gemein. „Der Text legt seine innere Dialektik offen: Ein feststehendes kulturelles Ideal steht gegen die hartnäckige Materialität des Lebens.“[2] Es gibt kein Schema F für Mutterschaft, denn Frauen an sich sind keine homogene Gruppe. Jede von ihnen hat eigene Erfahrungen gemacht und ist einen eigenen Individuationsprozess durchlaufen. Auch sind die Gründe für Schwangerschaft und Mutterschaft mannigfaltig verschieden. Nicht jede Frau sieht in der Geburt ihres Kindes die vollkommene Erfüllung ihrer selbst und nicht jede Frau sieht ihr Kind als einzigen Lebensinhalt. Im Falle von Erika Kohut und ihrer Mutter scheint es oberflächlich betrachtet so, als wäre die Mutter-Tochter-Beziehung eng. Da die Leserschaft jedoch von der Autorin gleich am Anfang des Romans vor Augen geführt wird, dass das Ideal der Mutterschaft nur zur Institutionalisierung mütterlicher Macht und der Erhaltung des Dependenzverhältnisses der Tochter zur Mutter herangezogen, ist es evident, dass Mutter und Tochter aneinander kleben und sich nicht lösen können und/oder wollen.
Ich möchte zeigen, dass Erika durch die Erziehung ihrer Mutter zu einem sozial inkompetenten Wesen herangezogen wird und ferner die Beziehung zwischen Mutter und Tochter generell als krankhaft dargestellt wird. „Die Mutter hat Erika schließlich zu dem gemacht, was sie jetzt ist.“ (K17)
2. Erika Kohut – eine Tochter wird besessen
„ Die Klavierspielerin thematisiert die Konfliktsetzung zwischen dem heftig animalischen Begehren nach Anerkennung, Liebe und Sexualität einer erwachsenen Tochter und der rigiden ökonomischen Orientierung einer alten Mutter, die von ihrer Tochter jeweils künstlerische und auch finanzielle Höchstleistungen erwartet.“[3]
Die Klavierlehrerin Erika Kohut ist der Besitz ihrer Mutter. Als Kind zu musikalischen Höchstleistungen gedrillt und von anderen Menschen weitestgehend isoliert, mangelt es der erwachsenen Erika Kohut an emotionaler Intelligenz. Sie ist Mitte 30 und teilt Tisch und Bett mit ihrer Mutter. Einen Freundeskreis hat sie nicht – bis auf wenige Nachmittage, die sie mal mit einer Institutskollegin verbringt. Diese zarten Freundschaftsbande werden sofort von der Mutter unterminiert, indem sie ihrer erwachsenen Tochter wie einem Kleinkind hinterher telefoniert. Auch pflegt Erika keine anderen verwandtschaftlichen Beziehungen außer zu der Mutter Kohut. Diese ist sehr beschäftigt damit, den Kontakt von anderen Menschen zu Erika zu untersuchen, zu bewerten und allzu oft zu unterbinden. Diese Vereinnahmung der Tochter bleibt nicht ohne Folgen.
2.1 Kindheit und Jugend
Nach mehr als 20 jähriger Ehe wird Mutter Kohut schwanger. „Sofort gab der Vater den Stab an seine Tochter weiter und trat ab. Erika trat auf, der Vater trat ab.“ (K7) Wie so vieles in dem Roman, ist auch diese Szene sehr ambivalent. Zum einen scheint der Vater nur allzu gerne abzutreten, es wirkt gerade so, als würde er der Tochter völlig erschöpft und in Hoffnung auf baldige Erholung der Tochter den Stab übergeben. Andererseits wird später im Roman auch klar, dass der Vater durch das Kind ersetzt wurde. Nachdem er seiner biologischen Verpflichtung zum Fortbestand der österreichischen Rasse nachgekommen ist, kann/muss er sich verabschieden.
Die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kind beginnt schon während der Schwangerschaft. Die Mutter hofft auf ein gesundes Kind und das alles gut verläuft. Viele Frauen fragen sich wie ihr Kind wohl sein wird – natürlich muss es das schönste, klügste, tollste Kind der Welt werden. Auch Mutter Kohut imaginiert sich vorgeburtlich ihr kleines Wesen zu Recht – ihr „schwebte vorgeburtlich etwas Scheues und Zartes dabei vor Augen.“ (K27) Ein unschuldiges Wesen, das Schutz und Pflege bedarf. Jedoch wird dieses Wesen, sobald es den Mutterleib verlassen hat zu einem Klumpen Ton, an dem sich die Mutter abarbeitet. Es gilt das Kind den Anforderungen und Vorstellungen der Mutter anzupassen – und sei es mit Gewalt. „Das Kind wird mit der Geburt in den Kreislauf ökonomischer Zusammenhänge gebracht. Es darf sich nicht mit irdischem Groben auseinandersetzten, Schmutz und Kot werden ihm verboten und durch Tanz, Gesang und Musik ersetzt.“[4]
Das Milieu, das Elfriede Jelinek sich gewählt hat, ist das des Kleinbürgertums. Klassen und Klassenschranken spielen im Österreich der 1980er Jahre nach wie vor eine Rolle. Sich aus dem spießigen Kleinbürgertum zu emanzipieren, ist gerade für Frauen wie Mutter Kohut kein leichtes Unterfangen. Da Wien die Stadt der Musik ist, wird für Erika entschieden, dass sie ein musikalisches Wunderkind oder mindestens eine umjubelte Konzertpianistin werden muss. Der mögliche Ruhm würde auf die Mutter abfärben und ihr gestatten sich über den ordinären österreichischen Kleinbürger hinwegzusetzen.
Im ersten Teil des Romans wird mit Hilfe von Rückblenden die Kindheit von Erika in Fragmenten wiedergegeben. Als markante Szene sticht dabei die Urlaubsepisode hervor. Erika ist mit ihre Mutter und Großmutter im Sommer aufs Land gefahren – Ferien auf dem Bauernhof. Was idyllisch klingt, ist Folter auf der ganzen Linie. Erika ist dort nicht hingefahren worden, um sich zu erholen oder Spaß zu haben. Ihr Leben, als kleiner „Einpersonen-Privatzoo“ (K272) der Mutter, aus Verpflichtungen, Zwang und Eingesperrtsein, wurde nur vom urbanen in den ländlichen Raum verlegt.
Der Familienurlaub zeichnet sich dadurch aus, dass „Die mütterliche Macht wird (…) sogar verdoppelt, denn Großmutter und Mutter treten häufig als Gespann auf.“[5] Erika verbringt die meiste Zeit im Inneren des Hauses, wo sie Klavier übt. Ihre Hände erfüllen die Vorgaben der Mutter, aber ihre Sinne sind ganz auf das geschärft, was vor dem Haus passiert – aufs Leben.
„Die Pubertärin lebt in dem Reservat der Dauerschonzeit.“ (K37) Wie ein seltenes Tier wird Erika gehütet und beschützt – vor allem vor möglichem Kontakt zu Männern oder Jungs.
„Der Habicht Mutter und der Bussard Omutter verbieten dem ihnen anvertrauten Kind das Verlassen des Horstes. In dicken Scheiben schneiden sie IHR das Leben ab.“ (K38) Mutter und Großmutter treten als Gefängniswärterinnen Erikas auf, denn die beiden „Giftmütter (…) schonen ihre Kleider mehr als die Gefühle ihrer Gefangenen.“ (K40) Da Mutter und Großmutter in trauter Einigkeit handeln, liegt der Verdacht nahe, dass Mutter Kohut Erziehungsmethoden reproduziert, die sie selbst erfahren hat – oder aber sie ist eine derart dominante Frau, dass sich auch ihre eigene Mutter nicht gegen sie zu Wehr setzen kann.
Elfriede Jelinek ist eine sehr reflektierte und auch feministische Autorin, die sich sowohl der bereits erwähnten Standesschranken, als auch dem Machtverhältnis zwischen Mann und Frau bewusst ist. Leider wird die Dichotomie Mann und Frau auch von Frauen betont und wiederhergestellt. Auch das zeigt sich in der Urlaubsepisode. Während Erika das Haus hüten und den ganzen Tag Klavier üben muss, darf ihr Cousin das Leben in vollen Zügen genießen. Er darf andere Mädchen aufs Kreuz legen und die Giftmütter Kohut mit Späßen bei Laune halten, „denn ein Mann bringt doch immer Leben ins Haus.“ (K42) Ein Mann bringt Leben ins Haus – die Frauen leben im Haus. Es ist auch die einzige Szene im Roman, in dem die Mutter Kohut von „Lachstößen“ (K44) durchzuckt wird. Dieses Bild hat was Pathologisches. Sicherlich ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Person von Lachkrämpfen geschüttelt wird. Das Bild ist durchaus positiv konnotiert, allerdings erweckt diese Wortkreation eher den Eindruck ungewollten Vergnügens und Kontrollverlustes. Die Mutter wird gegen ihren Willen von der Lebensfreude des jungen Mannes angesteckt, quasi penetriert. Selbstverständlich kann ein derartiges Verhalten der Mutter nicht von ihrer Tochter ausgelöst werden oder – noch schlimmer – der Tochter zugestanden werden, wo kämen wir denn hin, wenn die Tochter den ihr zugewiesenen Platz, gefesselt ans Klavier im Haus, verließe und aktiv am Leben teilnehmen würde? „Erst in der Pubertät wird das Üben an den Instrumenten als Strategie der Mutter deutlich: verschärfte Einsperrung, keine Zeit für andere Menschen.“[6]
Erika wird nicht nur an das Instrument gezwungen, sie ist auch gleichzeitig Instrument der Mutter, denn diese „achtet auf die gute Stimmung des Instruments, und auch an den Wirbeln der Tochter dreht sie unaufhörlich rum, nicht besorgt um die Stimmung des Kindes, sondern allein um ihren mütterlichen Einfluss auf dieses störrische, leicht verbildbare, lebendige Instrument.“ (K39) Mutter Kohut nimmt permanent Einfluss auf ihre Tochter. Sie ist mit jedem Aspekt des Lebens ihrer Tochter vertraut – so scheint es. Es gibt jedoch eine Sache, die Erika nur für sich hat, die ihr kleines Geheimnis ist. Schon während der Teenagerzeit beginnt Erika sich selbst zu verletzten.
„SIE sitzt alleine in ihrem Zimmer, abgesondert von der Menge, die sie vergessen hat, weil sie so ein leichtes Gewicht ist. Sie drückt auf niemand. Aus einem vielschichtigem Paket wickelt sie sorgfältig eine Rasierklinge aus. Die trägt sie immer bei sich, wohin sie sich auch wendet. Die Klinge lacht wie ein Bräutigam der Braut entgegen. SIE prüft vorsichtig die Schneide, sie ist rasierklingenscharf. Dann drückt sie die Klinge mehrere Male tief in den Handrücken hinein, aber wieder nicht so tief, dass Sehnen verletzt würden. Es tut überhaupt nicht weh. (…) Die Rasierklinge wird wieder abgewischt und verpackt.“ (K47)
Es ist verstörend, mit welcher Präzision und Emotionslosigkeit dieses Mädchen sich selbst verletzt. Die Szene hat etwas Klinisches. Erika verletzt sich nicht, um zu fühlen – denn sie fühlt ja nichts. Sie scheint aber den ständigen Druck von außen zu kompensieren. Das sie ein Leichtgewicht ist, verdeutlicht den Grad ihrer Isolation. Man vermisst sie nicht, weil man sie nicht kennt. Das Bild vom Bräutigam Klinge und Braut Erika verweist zum einen auf den autosexuellen Hintergrund dieser Schnitte – später wird Erika sich mit der Rasierklinge entjungfern – und zeigt, dass für Erika Lust und Schmerz eng miteinander verbunden sind. Zusätzlich dazu ist die Rasierklinge, die Erika für ihre autoaggressiven und autosexuellen Handlungen benutzt, ein Relikt ihres Vaters. Erika ersetzt den Vater als Ehemann, ehemals Bräutigam, der Mutter.
Als Kind kompensiert Erika ihre Ohnmachtsgefühle und den permanenten Leistungsdruck durch sadistische Attacken auf andere Fahrgäste in der Straßenbahn und durch Kleptomanie. Sie neidet ihren Mitschüler_innen vieles und stiehlt diese Dinge. Auch schreckt sie nicht davor zurück eine Mitschülerin erst auszuspionieren und dann zu denunzieren, nur weil diese Kleidung trug, die Erika nie haben werden darf.
2.2 Das Erwachsensein – wer oder was bin ich?
Der Roman beginnt mit einem Paradox – Erika stürzt in die Wohnung und „trachtet danach der Mutter zu entkommen.“ (K7) Sie flieht vor ihrer Mutter, indem sie ihr in die Arme rennt.
Eine erwachsene Frau hat so großen Respekt vor ihrer Mutter bzw. ist so abhängig von der Gunst der Mutter, dass sie sich infantilisieren und beherrschen lässt. „Die Gewalt, der die Klavierlehrerin Erika Kohut ausgeliefert ist, trägt in dem Roman einen Namen, der sie angreifbar und gleichzeitig unkenntlich macht: mütterliche Gewalt.“[7]
Als weiteres Mittel der Isolation Erikas und Fixierung auf die Mutter Kohut, trichtert diese Erika die totale Überlegenheit und Erhabenheit ein. Nieman(n)d ist gut genug oder auch nur annähernd auf einem Niveau mit Erika Kohut. Als Konsequent sieht diese auf alles und jeden herab – sie übertrifft in ihrer Arroganz sogar die Mutter. „SIE ist die Ausnahme von der Regel, die sie ringsum so abstoßend vor Augen hat, und ihre Mutter erklärt ihr gerne handgreiflich, dass sie eine Ausnahme ist, denn sie ist der Mutter einziges Kind, das in der Spur bleiben muss.“ (K19) Aber in welcher Spur? In der Spur, in der Männer keine Rolle spielen. In der Spur, in der Erika sich nicht als autonomes Wesen versteht. In der Spur, die nur in eine Richtung führt – zur Mutter.
Männer spielen im Leben von Erika Kohut keine tragende Rolle. Der Vater wird nur als geistig impotentes Schattenwesen wahrgenommen, das inzwischen völlig ins Dunkel hinübergedriftet ist. Einen Lebenspartner gibt es nicht, Sexualpartner gab es nur flüchtig, ohne bleibenden Eindruck. Denn Männer sind die Antagonisten schlechthin. „Die Mutter warnt Erika vor einer neidischen Horde, die stets das eben Errungene zu zerstören versucht und fast durchwegs männlichen Geschlechts ist.“ (K28) Ließe Frau Kohut senior den Kontakt zu Männern zu, bestünde die Gefahr, dass sie an Einfluss und Kontrolle verliert. Auch möchte Erika nach der jahrelangen Unterwerfung durch ihre Mutter keinen neuen Herrn über sich.
Die mütterliche Dominanz stellt Erika selten in Frage. Jedoch rebelliert sie ein wenig, wenn es um das Kaufen von Kleidung geht. Wie ein Kind versucht sie die Grenzen auszuloten, es fehlt jedoch der finale Schritt gen Unabhängigkeit. Es bleibt immer beim Versuch stecken. Die Mutter möchte Erika so wenig attraktiv für Männer halten wie nur möglich – Bluse und langer Rock sind die Garderobe, die sie ihrer Tochter befiehlt. Diese bricht jedoch hin und wieder aus und kauft sich Kleidung, die als Leichen in ihrem Schrank verenden. Sie trägt sie nur im Laden oder hält sie sich in unbeobachteten Momenten vor den Körper. „Erika verfügt über die von ihr erworbene Kleidung nur über ihren Blick, ihre Assoziationen und in ihren Vorstellungen.“[8] Hier ist
„Bekleidung als Utopie einer wie auch immer gearteten Beziehungsstruktur wahrzunehmen. Nicht die Beziehung zur Mutter soll vertieft werden, sondern die Vielfältigkeit der eigenen Person wahrgenommen werden“[9] oder „Erikas zwanghafter Kleiderkauf erweist sich also einerseits als Ausdruck der konflikthaften Auseinandersetzung mit der Mutter, damit als Suche nach individueller Identität, entspricht aber zugleich auch der sozial anerkannten, regelhaften Verbindung von Weiblichkeit und äußerer Erscheinung.“[10]
Als sie sich entschieden hat Walter Klemmer in ihr Leben zu lassen und noch glaubt, dass er mit ihr eine Beziehung führen wird und ihr bei der Lösung von der Mutter behilflich sein wird, reicht sie die Entscheidungsgewalt bezüglich Garderobe weiter. „Erika erlaubt Klemmer, dass er ab heute ihre Kleidung aussuchen darf.“ (K233) Das ist zum einen eine Art Liebesbeweis, denn sie gibt eine Freiheit, für die sie kämpft, auf und gestattet Klemmer Macht über sie zu. Aber zeigt es nicht auch, dass Erika nicht in der Lage ist sich außerhalb eines Machtgefüges zu imaginieren und eigene Entscheidungen zu treffen?
Wenn Erika nicht gehorcht und die Regeln bricht, lässt Mutter Kohut ihre Wut sowohl an Erikas Körper als auch an Erikas Körperhüllen, ihren Kleiderleichen aus: „Die Mutter zerschneidet ihre eigenen Träume gleich mit dem Kleid. Wieso die Träume der Mutter erfüllen, wenn sie nicht einmal die eigenen Träume ordentlich ausfüllt, diese Erika? Erika wagt nicht einmal die eigenen Träume zu Ende zu denken, sie blickt immer nur dumm an ihnen empor.“ (K 154)
Es gibt zwei Elemente, die immer mit Erika in Verbindung stehen, dass sind Schnitte und Fesseln. Erika schneidet im Versuch sich zu befreien. Sie muss schneiden, denn sie ist gefesselt, denn „an IHREN Leitseilen zieht die Mutter kräftig.“(K62) Wie ein Hund begeht Erika ihr Leben an der imaginären Leine. „Die Mutterbänder straffen sich und zerren Erika am Kreuz nach hinten.“ (K77) Elfriede Jelinek benutzt häufig biologische Fachbegriffe wie Mutterbänder, Muttermund u.ä. in einem nicht biologischen Kontext, um die Macht der Mutter über die Tochter zu verdeutlichen. Das es sich bei Mutterbändern, um ganz natürliche Dinge handelt, naturalisiert die Einflussnahme der Mutter auf die Tochter. Es ist ihr naturgegebenes Recht das zu tun. “The imagery of bondage (...) as a metaphor for the restrictions placed on Erika´s development, and symbolises her relationship to her mother and music.”[11]
Erika gibt die Strenge, die sie von ihrer Mutter erfährt an ihre Schüler weiter. Wenn diese im Unterricht nicht vorbereitet sind oder in ihrer Freizeit etwas anderes als Klavier spielen machen, schreitet die Lehrerin ein. „Dazu misst sie einen und den anderen Schüler mit einem Blick, der Glas schneiden könnte, wozu sie ganz leicht den kopf schüttelt. Es ist genau die Geste, die Erikas Mutter nach deren verpatztem Konzert der Tochter an den Schädel schmetterte.“ (K65) Sie kompensiert ihre Unterlegenheit im privaten Bereich mit Machtgebärden im beruflichen Bereich, denn nur dort verfügt sie über geringe Portionen von Macht und Überlegenheit. „Erika is the victim of her mother`s facism in the politcal sphere of the family unit, and she transports the virus into her professional arena, where she reproduces the power struggle she experiences at home.“[12]
Erika Kohut ist ein ambivalenter Name, der die gespaltene Persönlichkeit der Protagonistin verdeutlicht. Der Vorname kommt nicht vom Heidekraut, sondern bedeutet „die nach dem Gesetz und Recht Herrschende“, „die Ehrenreiche“, „die allein Mächtige“. Bezogen auf die Mutter-Tochter-Beziehung ist es Zynismus pur. Aber in Ergänzung mit dem Nachnamen Kohut, der auf den österreichischen, zum pathologischem Narzissmus forschenden Psychologen Heinz Kohut zurückgeht, macht es wieder sind. Erika ist der Fetisch ihrer Mutter; sie „bleibt das Kind, der Phallus ihrer Mutter und wird psychisch nicht zur Frau.“[13] Ihre Mutter benötigt das von ihr abhängige Kind, um ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, um ihre Daseinsberechtigung nicht verhandeln zu müssen.
Der Titel Die Klavierspielerin löst in den Leser_innen nicht zwangsläufig die Assoziation einer umjubelten und verehrten Konzertpianisten hervor. Auch nennt Elfriede Jelinek ihren Roman nicht „Die Klavierlehrerin“ oder „Klavierprofessorin“. Wird sie auch gleich im ersten Satz als „Klavierlehrerin Erika Kohut“ (K7) vorgestellt, so ist der Titel des Romans doch ein Hinweis auf Erikas Scheitern in der beruflichen Sphäre. Doch eigentlich ist Erika Kohut das personifizierte Scheitern: „Die Beziehung der Protagonistin zu ihrem Körper, zu ihren Kleidern, zu ihren Schülern, zu ihrer Mutter ist massiv gestört und kann nicht ausgeglichen werden.“[14] Ihre Frau Mutter wird nicht müde ihr diese Tatsache in stetigen Dosen zu injizieren; „Einmal ist das Kind schon künstlerisch gestrauchelt, wirft ihm die Mutter bei Kämpfen stets vor.“ (K200) Für Erika Kohut gibt es keine andere (Selbst-) Definition als die der Tochter, denn ihre Mutter drängt sie immer wieder auf ihren Platz als unterlegenes und von ihr abhängiges Kind zurück.
2.3 Beziehungsunfähigkeit und Gefühlskälte
„Die Mutter weist darauf hin, dass die Tochter kein Zimmer besitzt, weil das, was sie im Größenwahn ihr Zimmer nennt, in Wirklichkeit auch der Mutter gehört.“ (K211) Obwohl sie eine, dem Alter nach, erwachsene Frau ist, besitzt Erika keinen Rückzugsort in der von ihr finanzierten Wohnung. Ihr mangelt es an Privatsphäre, weil ihre Mutter es für ihre Mutterpflicht erachtet, in jedem Lebensbereich der Tochter zu walten und zu schalten. Das hat schwerwiegende Folgen: „Erika kann weder ihre Mutter noch irgendjemand anderes lieben, weil sie in der Mutterfixierung erstarrt ist.“[15]
In ihrer Affäre mit Walter Klemmer zeigt sich das Dilemma der Erika Kohut. Sie versucht die Beziehung zur Mutter fortzusetzen – die Interdependenz von Ohnmacht und Macht. Da sie aber Männern abwesend gegenübersteht und sich keinem weiteren Herrn als ihrer Mutter unterordnen möchte, nimmt die Affäre mit Walter Klemmer weder für sie, noch für ihn den gewünschten Lauf. Erika Kohut möchte sowohl dominieren, als auch dominiert werden. Sie unterwirft sich, bestimmt aber über ihn. Er dominiert, aber sie besitzt. Diese Diskrepanzen – denn sadomasochistische Beziehungen folgen einem bestimmtem Muster und funktionieren über explizite Rollenverteilungen von Herr und Sklave – lassen Erika auch im Privaten scheitern. Auch hier handelt es sich um „(…) Konsequenzen der mütterlichen Unterdrückung, die sich vor allem in von der Norm abweichenden sexuellen Verhaltensformen manifestieren.“[16] Der Brief an Klemmer mit dem Wunsch gefesselt, geknebelt, getreten und erniedrigt zu werden ist das „Inventarverzeichnis des Schmerzes“ (K220) Erika kann ohne Schmerz und Erniedrigung nicht Leben. Sie braucht die Spannung zwischen Macht und Ohnmacht. Ebenbürtige Partnerschaft kennt sie nicht und kann sie nicht leben.
In ihrem Sexualleben spielen Artefakte ihres toten Vaters eine wichtige Rolle. Das Fernglas des unentwegten Spaziergänger-Vaters dient der voyeuristischen Befriedigung, die Rasierklinge den autoaggressive/autosexuellen Selbstverstümmelungen. Ist der Vater doch aus ihrem alltäglichen Leben verschwunden, ja muss sie ihn sogar an der Seite der Mutter ersetzen, so spielt er eine Nebenrolle in Erikas Sexualverhalten.
Erika besucht hin und wieder Peepshows oder geht in die Praterauen, um Paaren heimlich beim Sex zuzuschauen. Erika ist eine Voyeuristin – sie erfährt Lust durch Betrachten. Pornos und Peppshows sind für Männer gemacht. So ist Erika auch als Frau eine ziemliche Exotin in dem Umfeld. „Ihre Sexualität beschränkt sich darauf, voyeuristisch zu schauen, mit männlichem Blick als Herrin.“[17] Sie kennt nur den männlichen Blick auf die Frau als Objekt – als fragmentiertes Objekt, denn in Pornos geht es nur um bestimmte Körperteile und nicht um die Frau als ganzes oder als Subjekt. Erika identifiziert sich mit dem frauenverachtenden Blick.„Mit ihrem Versuch, sich mittels des männlichen Musters visueller Inbesitznahme der Welt der eigenen weiblichen Identität zu nähern, verweigert die Protagonistin sich ihre eigene weiblich-individuelle Wahrnehmung.“[18] Erika kann ihre eigene Sexualität nicht erforschen und scheitert nicht zuletzt aufgrund der angenommenen fremden Perspektive. Gilt das Gleiche für die Musik, eine Perspektive, die die Mutter ihr aufgezwungen hat?
[...]
[1] Jelinek, Elfriede. „Die Klavierspielerin“. Hamburg: Rowohlt Verlag GmbH. 26. Auflage November 2002 – Alle Zitate sind aus dieser Ausgabe.
[2] Wright, Elisabeth. „Eine Ästhetik des Ekels. Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin “ in „Text & Kritik - Zeitschrift für Literatur“ Heft 117, München: edition text + kritik GmbH, Januar 1993.
[3] Niethammer, Ortrun/Hülsenbeck, Annette „Literarische Kleidungsbeschreibungen in Elfriede Jelineks Klavierspielerin mit einem Blick auf Goethes Wahlverwandschaften “ in „Elfriede Jelinek – Sprache, Geschlecht und Herrschaft“ Fracois Rétif & Johann Sonnleitner (Hrsg.). Königshausen & Neumann. 2008
[4] Niethammer, Ortrun/Hülsenbeck, Annette
[5] Doll, Annette „Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek: eine Untersuchung ihrer literarischen Intentionen“. Stuttgart: M und P. Verlag für Wissenschaft und Forschung, 1994
[6] Endres, Ria „Ein musikalisches Opfer“ (Der Spiegel vom 23. Mai 1983) in „Elfriede Jelinek“ Kurt Bartsch und Günther A. Höfler (Hrsg.). Dossier, Die Buchreihe über österreichische Autoren, Band 2. Graz: Literaturverlag Droschl. 1991
[7] Baier, Lothar „Abgerichtet sich selbst zu zerstören – Ein Roman, der Gesellschaftskritik in seiner Sprache entfaltet“ (Süddeutsche Zeitung vom 17. Juli 1983) in „Elfriede Jelinek“ Kurt Bartsch und Günther A. Höfler (Hrsg.). Dossier, Die Buchreihe über österreichische Autoren, Band 2. Graz: Literaturverlag Droschl. 1991
[8] Niethammer, Ortrun/Hülsenbeck, Annette
[9] Niethammer, Ortrun/Hülsenbeck, Annette
[10] Vis, Veronika
[11] Fiddler, Allyson
[12] Solibakke, Karl Ivan „Musical Discourse in Elfriede Jelineks Die Kalvierspierlin “ in „Elfriede Jelinek – Writing Woman, Nation, and Identity, A critical anthology“. Madison: Fairleigh Dickinson Univ. Press, 2007, S. 250-283
[13] Janz, Marlies
[14] Niethammer, Ortrun/Hülsenbeck, Annette
[15] Lücke, Bärbel „Elfriede Jelinek – Eine Einführung in das Werk.“ Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2008
[16] Fischer, Michael „Trivialmythen in Elfriede Jelineks Romanen Die Lienhaberinnen und Die Klavierspielerin “. Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, Band 27. Werner J. Röhrig Verlag, 1991
[17] Vis, Veronika
[18] Vis, Veronika