"Ich muss immer gucken, wo die Augen von Menschen funkeln"

Zur Methodenfrage in der Sozialen Beratung


Diplomarbeit, 2009

180 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung (Ziel und Aufbau der Arbeit) (M. Vögler-Mallok & M. Hörtnagel)

A. Allgemeiner Teil

2. Einführung ins und Hinführung zum Thema
2.1 Begriffsklärung und Standortbestimmung (M. Vögler-Mallok)
2.2 Geschichte der Beratung und ihrer Methoden (M. Hörtnagel)

3. Ausgewählte Konzeptionen von Beratung
3.1 Klientenzentrierte Beratung und Engaging (M. Vögler-Mallok)
3.2 Systemische Beratung (M. Hörtnagel)
3.3 Ressourcenorientierte Beratung (M. Vögler-Mallok)
3.4 Life Model of Social Work Practice (M. Hörtnagel)
3.5 Alltagsnahe Konzepte Sozialer Beratung
3.5.1 Lebensweltorientierte Soziale Beratung (M. Vögler-Mallok)
3.5.2 Soziale Beratung für Ratsuchende in prekären Lebenslagen (M. Hörtnagel)

B. Spezieller Teil

4. Methodische Dimensionen Sozialer Beratung
4.1 Klärung des Methodenbegriffs (M. Vögler-Mallok)
4.2 Möglichkeiten und Grenzen der Methodik Sozialer Beratung als multi-professionellem Handeln (M. Hörtnagel)

5. Feldstudie: Keine eigenständigen Methoden? Zur Beratungspraxis in der Sozialen Arbeit anhand ausgewählter Fallbeispiele
5.1 Vorstellung exemplarischer Handlungsfelder in der Sozialen Arbeit und ihrer Konzeptionen
5.1.1 Soziale Beratung in der Klinischen Sozialarbeit (M. Vögler-Mallok)
5.1.2 Arbeitslosenberatung (M. Hörtnagel)
5.1.3 Beratung in der Schulsozialarbeit (M. Vögler-Mallok)
5.2 Forschungsdesign (M. Vögler-Mallok & M. Hörtnagel)
5.3 Auswertungsteil: Anspruch und Wirklichkeit von Beratung aus verschiedenen Perspektiven
5.3.1 Die Sicht der Klienten Sozialer Beratung (M. Vögler-Mallok)
5.3.2 Die Sicht von professionell Beratenden (M. Hörtnagel)
5.3.3 Die Sicht von Experten (M. Vögler-Mallok)
5.3.4 Exkurs: Die Sicht von Studierenden der (M. Hörtnagel) Sozialen Arbeit

6. Fazit (M. Vögler-Mallok & M. Hörtnagel)

7. Bibliografie

8. Anhang: Interviews (Auswahl)

1. Einleitung (Ziel und Aufbau der Arbeit)

In der Sozialen Arbeit ist seit Beginn des neuen Jahrtausends verschärft eine Diskussion über Beratungsmethoden in verschiedenen Handlungsfeldern ausgebrochen (vgl. z.B. Neuffer 2000). Dieses steht natürlich in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umwälzungen im Zuge von Globalisierung, Ökonomisierung und Individualisierung. Traditionelle Netzwerke (Familie etc.) verlieren zunehmend an Bedeutung, Lebensrisiken werden aufgrund der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte immer stärker privatisiert. Somit sind Menschen mehr und mehr gezwungen, ihr Leben eigenständig zu gestalten. Dies kann neue Freiräume eröffnen, aber gleichzeitig die Gefahr der Überforderung in sich bergen. Die „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) produziert einen großen Bedarf an Beratung in den unterschiedlichsten sozialen Bereichen. Menschen, die zu den Globalisierungsgewinnern gehören, suchen nach Unterstützung, ihren Alltag möglichst ökonomisch zu gestalten. Beratung dient hier vor allem dem Coaching und Zeitmanagement. Auf der anderen Seite wächst die Zahl derer, die aufgrund der wirtschaftlichen Umbrüche („Turbokapitalismus“) auf der Strecke bleiben, in finanzielle und persönliche Not geraten, aus der sie aus eigener Kraft nicht herausfinden können, und daher entsprechende professionelle Hilfe (Schuldnerberatung etc.) benötigen.

Für die Soziale Arbeit bedeutet dieser vielfältige Beratungsbedarf eine enorme Herausforderung. Die Frage nach der Gestaltung von Beratung, d.h. dem Aufbau von Beziehungen zu den Klienten[1], dem Schaffen geeigneter Settings, der Anwendung von spezifischen Gesprächsführungstechniken usw., rückt immer mehr in den Fokus.

Hinzu kommt der Ökonomisierungsdruck, der immer stärker auf den Trägern und Institutionen Sozialer Arbeit lastet. Geldgeber erwarten, dass Beratungsleistungen transparent, effizient und effektiv sind.

Vor diesem Hintergrund erscheint es aus unserer Sicht umso wichtiger zu prüfen, wie zum jetzigen Zeitpunkt die Beratung in der Sozialen Arbeit methodisch aufgestellt ist. Ist es wirklich ausreichend, wie Nando Belardi meint, dass sozialpädagogische Beratung über keine eigene Methodik verfüge, sondern sich nur in pragmatischer Weise an Erkenntnissen und Verfahren aus der Psychologie, Psychotherapie sowie den Sozial-, Verwaltungs- und Rechtswissenschaften orientiere (vgl. Belardi 2007, S. 43)?

Oder hat Harald Ansen Recht, wenn er sich dafür ausspricht, dass die in der Sozialen Arbeit verbreitete Neigung, psychotherapeutische Methoden zu übernehmen, auf das erforderliche Ausmaß zu begrenzen ist (vgl. Ansen 2006a, S. 187)?

Diese Forderung nach eigenständigen Methoden durchzieht wie ein roter Faden die Professionsgeschichte der Sozialen Arbeit. Alice Salomon, eine ihrer wichtigsten Pionierinnen, wies bereits 1926 auf Folgendes hin:

„Der Soziale Arbeiter muss deshalb [um der Komplexität von sozialen Problemen gerecht zu werden, M.V.-M., M.H.] seine eigenen Methoden erarbeiten. Er kann sie nicht von anderen Wissenschaften übernehmen. Aber er kann von der Methodik der anderen lernen.“ (Salomon 1926, S. 8)

Joachim Wieler, der als ausgewiesener Salomon-Forscher gilt, stützt sich in diesem Zusammenhang außerdem auf die Aussage Salomons, „dass in der sozialen Ausbildung zwar alle beteiligten Disziplinen wichtig seien und keine zum Nebenfach degradiert werden dürfe, aber alle sich der Sozialarbeit unterordnen müssten, weil diese ansonsten ‚wie zwischen Hammer und Amboss zerrieben’ werde.“ (Mühlum 1999, S. 3)

Ziel dieser Gruppenarbeit soll es daher sein, näher zu beleuchten, inwieweit dieser Anspruch bislang auf dem Gebiet der Beratung in der Sozialen Arbeit durch die Schaffung originärer Beratungskonzeptionen realisiert werden konnte bzw. inwieweit er von Sozialarbeitern, die professionell Beratung betreiben, überhaupt wahrgenommen bzw. geteilt wird. Herrscht immer noch die Haltung vor, den eigenen Methodenbedarf durch den Rückgriff auf psychologische Techniken zu decken, da sie angesichts der Komplexität des eigenen Handlungsfeldes als „klar und nachvollziehbar“ empfunden werden, wie es Manfred Neuffer formulierte (vgl. Neuffer 2000, S. 107)?

Ist Beratung in der Sozialen Arbeit häufig immer noch eine verdeckte Form der Therapie, wie es vor allem in den achtziger Jahren stark verbreitet war (vgl. Neuffer 2000, S. 107), bzw. liegt in einer Vielzahl der Fälle der von Frank Nestmann viel beschworene „Etikettenschwindel“ vor, nach dem unter dem Signum der Beratung oft eine spezifische „abgespeckte“, d.h. theoretisch und praktisch simplifizierte und auf pragmatische Handwerkelei reduzierte Form von Therapie angeboten wird (vgl. Galuske 1998, S. 155)?

In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage des besonderen Profils von Sozialer Arbeit als Handlungswissenschaft, d.h. des Bestrebens, Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm zu betreiben, sondern Konzepte zu entwickeln, die in der Praxis bestehen können, den Bedürfnissen von Klienten gerecht werden und in die Theoriebildung auch Erfahrungswissen von Praktikern einfließen lassen.

Diese Arbeit möchte versuchen, einen Beitrag zur Klärung dieser Aspekte zu leisten. Zum besseren Verständnis sollen in einem einführenden allgemeinen Teil zunächst verschiedene Interpretationen des sehr komplexen und umstrittenen Beratungsbegriffes vorgestellt bzw. soll kurz darauf eingegangen werden, wo Beratung in der Sozialen Arbeit heute angesiedelt ist. Anschließend folgt ein historischer Abriss, der der Darstellung wichtiger Entwicklungsphasen von Beratung dient, die teilweise bis in die Gegenwart hineinwirken und aktuelle Beratungskonzepte zu einem gewissen Grad immer noch prägen. Im letzten Kapitel des allgemeinen Teils stehen dann wichtige Konzepte von Beratung im Fokus, die die fachliche Diskussion innerhalb der Sozialen Arbeit stark beeinflusst haben bzw. bis heute beeinflussen. Aufgrund der Vielschichtigkeit der ausgewählten Beratungsansätze erscheint es uns angemessen, den allgemeinen Teil recht ausführlich zu gestalten. Hierdurch hoffen wir, eine theoretische Grundlage zu legen, die angemessen in die Thematik unserer Feldstudie einführt.

Im speziellen Teil wird schließlich näher auf die oben genannten Leitfragen unserer Untersuchung eingegangen, nämlich über welches Methodenrepertoire Soziale Beratung heute verfügt, und ob von der Wissenschaft entwickelte Konzeptionen, wie sie im allgemeinen Teil vorgestellt werden, von der Praxis gekannt, eingeschätzt bzw. im Beratungsalltag verwendet werden. Daneben sollen auch Erfahrungen, die Betroffene mit Sozialer Beratung gesammelt haben, näher beleuchtet werden. Diesen Fragen soll mit Hilfe von qualitativen Interviews nachgegangen werden, die wir in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit (Beratung in der Klinischen Sozialarbeit mit dem Schwerpunkt Psychiatrie, Arbeitslosenberatung, Beratung in der Schulsozialarbeit) mit Praktikern und Klienten geführt haben. Zum besseren Verständnis wird zu Beginn des speziellen Teils näher auf die Rahmenbedingungen, wie sie sich in diesen Bereichen aus fachwissenschaftlicher Sicht darstellen, eingegangen.

Außerdem kommen auch noch verschiedene Experten zu Wort, die sich aus einer übergeordneten Perspektive mit Konzeptionen bzw. Methodik von Sozialer Beratung auseinandersetzen.

Ergänzend werden in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer Erhebung zum Thema „Vermittlung von Beratungsmethoden in der Ausbildung“ vorgestellt, die wir mit Studierenden der Sozialen Arbeit an verschiedenen Fachhochschulen durchgeführt haben.

Durch dieses Vorgehen, d.h. durch die Erfassung verschiedener Perspektiven, hoffen wir, einen Beitrag zur Klärung der aufgeworfenen Fragen leisten zu können. Dieses erscheint uns umso reizvoller, da in der Beratungsforschung ein Mangel daran zu bestehen scheint, Erfahrungswissen aus der Praxis aufzugreifen bzw. theoretische Konzepte praxisgerechter zu gestalten. So weist Wolf Crefeld am Beispiel der Klinischen Sozialarbeit auf die Notwendigkeit einer praxeologischen Methodenwissenschaft hin:

„Praxeologisch ist eine Wissenschaft, die nicht primär der systematischen Sammlung von Erkenntnissen über ein akademisch definiertes Wissensgebiet dient, sondern der Wirksamkeit eines beruflichen Praxisbereichs. [...] Theorien sind für ihren Anwender praktische Theorien, wenn sie ihm Kriterien für sinnvolles und nicht sinnvolles Handeln geben. Eine schlechte, d.h. eine unpraktische Theorie erschöpft sich in Abstraktionen, die für die Praxis nutzlos sind, weil sie keine Orientierung oder Entscheidungshilfe geben.“ (Crefeld 2004, S. 5)

Daher fordert Crefeld, dass die Sozialarbeitswissenschaft ähnlich wie die Ingenieurswissenschaften, die Medizin- oder Pflegewissenschaft handlungsrelevante Theorien entwickeln müsste, die ihrem Anwender einen Beobachtungs-, Interpretations- und Orientierungsrahmen für sein Verhalten liefern (vgl. Crefeld 2004, S. 5).

Ähnlich argumentiert Gerhard Süss, der die Entwicklung eines neuen professionellen Profils fordert, des so genannten Wissenschafts-Praktikers (science practitioner), um Theorie, Forschung und Praxis miteinander zu verbinden und die kommunikative Kluft zwischen ihnen zu überwinden (vgl. Süss & Sroufe 2008, S. 10). Eine solche Annäherung von Theorie und Praxis wäre ganz im Sinne von Kurt Lewin (1890-1947), der schon vor vielen Jahren feststellte, dass „nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie“. (zitiert nach Süss & Sroufe 2008, S. 10)

A. Allgemeiner Teil

2. Einführung ins und Hinführung zum Thema

2.1 Begriffsklärung und Standortbestimmung

Seit den 90er Jahren rückt in der Sozialen Arbeit Beratung als Kernkompetenz immer stärker in den Vordergrund (vgl. Neuffer 2000). Grundsätzlich haftet Beratung ein positiver Ruf an: Sie gilt als gut, nützlich und hilfreich. Aber gleichzeitig klagen Klienten darüber, dass sie oft nicht wissen, was sie in einer Beratungsstelle erwartet. Denn sie haben die Erfahrung gemacht, dass der Begriff Beratung oft nur als Deckmantel für institutionelle und behördliche Kontrollen und Sanktionen dient (vgl. Nestmann, Sickendiek, Engel 2007 b, S. 600).

Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass unter den Begriff Beratung die verschiedensten Angebote, Konzepte und Aktivitäten fallen können. In dieser Vielgestaltigkeit liegen natürlich eine Menge Chancen bzw. Potenziale, gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, dass diese Diversität den Beratungsbegriff unbestimmt, konturlos und diffus werden lässt (vgl. Nestmann, Sickendiek, Engel 2007 b, S. 599).

Daher erscheint an dieser Stelle der Versuch einer Begriffsklärung angemessen. So definiert Harald Ansen in Anlehnung an Wolfgang Rechtien Beratung „als einen zwischenmenschlichen Prozess, in dem ein Ratsuchender durch die Interaktion mit einem Berater die Hintergründe seiner Probleme und darauf bezogene Bewältigungsmöglichkeiten aufdeckt, wobei das zentrale Ziel der Beratung darin besteht, die Kompetenzen des Ratsuchenden zur Lösung eines aktuellen Problems zu fördern.“ (Ansen 2009b, S. 132)

In der Forschung hat man sich übergreifend auf bestimmte Charakteristika von Beratung geeinigt: Am Anfang steht oft die Betonung, dass es sich bei Beratung um eine personenbezogene soziale Dienstleistung handelt, an deren Erfolg oder Misserfolg sowohl Produzent (Berater) als auch Konsument (Klient) beteiligt sind (uno-actu-Prinzip). Frank Nestmann u.a. weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Beratung aufgrund dieser besonderen Konstellation eine gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten erfordert, die Beratungsinhalte daher im Dialog und konsensorientiert geklärt werden sollten (vgl. Nestmann et al. 2002). Somit handelt es sich bei der Beratung um eine flexible, vielfältige und dynamische professionelle Hilfsform, die ganz allgemein zum Ziel hat, Gesundheit und Wohlbefinden der Klienten zu stärken (vgl. Nestmann et al. 2002; Nestmann, Engel & Sickendiek 2007b, S. 599 f.).

Vor diesem Hintergrund kann Beratung ganz unterschiedliche Stoßrichtungen haben, wie Frank Nestmann u.a. betonen (vgl. Nestmann et al. 2002): Zum einen soll sie Menschen helfen, die Entstehung von Notlagen zu vermeiden (Prävention). So können z.B. in der Schuldnerberatung Klienten bestimmte Instrumente (Haushaltsbuch oder Haushaltsplan) an die Hand gegeben werden, um zu verhindern, dass sie die Übersicht und Kontrolle über ihre Finanzen verlieren.

Ist eine Notsituation bereits eingetreten, hat Beratung die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren und Menschen dabei zu unterstützen, eigene coping -Strategien zu entwickeln bzw. zu reaktivieren (Kuration). In diesem Zusammenhang sei nur kurz auf die Soziale Beratung bei Armut hingewiesen. Denn gerade Armut kann viele unterschiedliche negative Folgen nach sich ziehen und dazu führen, dass Menschen in regelrechte Verlustspiralen geraten, aus der sie sich ohne fremde Hilfe oftmals nicht mehr befreien können. Harald Ansen sieht in diesem Kontext die Herausforderung für die Soziale Beratung bei Armut vor allem darin, „die soziale Teilhabe der Betroffenen zu verbessern und ihre soziale Ausgrenzung zu verhindern bzw. zu überwinden“ (Ansen 2006a, S. 48).

Dieser kurative Ansatz stellt für Rechtien eine wichtige Grundform der Beratung dar, in der Beratung als zwischenmenschlicher Prozess verstanden wird, in dem der Hilfesuchende durch die Interaktion mit dem Berater Klarheit über die Hintergründe seiner Probleme und entsprechende eigene Bewältigungsmöglichkeiten zu gewinnen versucht. Hierin spiegelt sich eine Empowerment- Orientierung wider, die den Ratsuchenenden in seiner Ganzheitlichkeit, d.h. mit seinen kognitiven, emotionalen und praktischen Fähigkeiten ansprechen will (vgl. Ansen 2009b, S. 132).

Neben diesen beiden Aspekten kann Beratung auch eine rehabilitative Zielsetzung verfolgen, d.h. Menschen, die aus verschiedensten Gründen (Arbeitsplatzverlust, körperliche oder psychische Erkrankung, Obdachlosigkeit etc.) in die soziale Isolation geraten sind, zur Wiedereingliederung in das berufliche und gesellschaftliche Leben zu verhelfen.

Aufgrund der ganzheitlichen Ausrichtung der Sozialen Arbeit zählt die Soziale Beratung zu ihren wichtigsten Handlungsinstrumenten. Unter diesem Begriff verstehen Sickendiek, Engel und Nestmann „die Gesamtheit beraterischer Hilfen in Problemfeldern, die sich auf Schwierigkeiten von Individuen oder Gruppen in und mit ihrer sozialen Umwelt [Familie, Verwandtschaft, berufliche und schulische Beziehungen, Freundeskreise etc.; M.V.–M., M.H.] beziehen.“ (Sickendiek, Engel, Nestmann 2008, S. 17).

Die wissenschaftliche Forschung hat folgende wichtige Grundprinzipien für die Soziale Beratung entwickelt, die letztgenannter eine klientengerechte Orientierung geben sollen. Hierzu zählt einmal die Freiwilligkeit, d.h. der Grundsatz, dass der Klient frei wählen kann, ob er das Beratungsangebot in Anspruch nehmen möchte oder nicht. In diesem Zusammenhang ist natürlich einschränkend darauf hinzuweisen, dass Beratung manchmal auch in Zwangskontexten stattfindet (z.B. Rehabilitation für Strafgefangene, Jugendgerichtshilfe etc.). Hier ist der Berater dann besonders gefordert, die Klienten einerseits klar und eindeutig über seine Kontrollaufgabe zu informieren, ihnen gleichzeitig aber auch weitere Beratungsangebote zu machen, die über diese Kontrollfunktion hinausgehen und die der Klient annehmen oder ablehnen kann, z.B. Analyse der persönlichen Lebenssituation etc. (vgl. Kähler 2005, S. 129; Neuffer 2005, S. 58). So erkannte Alice Salomon bereits 1926, dass Druck wohl einen abhängigen Menschen zu bestimmten Handlungen veranlassen könne, aber keine innere Wandlung bei ihm herbeiführen würde (vgl. Salomon 1926, S. 366).

Neben der Freiwilligkeit gehört die Niedrigschwelligkeit zu den spezifischen Grundsätzen sozialer Beratung, worunter vor allem zu verstehen ist, dass der Berater sich auf die Lebenswelt des Klienten einlässt, diese zu begreifen bzw. eine Beratungsstruktur zu schaffen versucht, in der Engagement und Präsenz für Klienten mit deutlichen Zeichen signalisiert werden. Hierzu können gehören: leichter, voraussetzungsfreier Zugang, einfache, klare Kommunikationswege, ansprechende Räumlichkeiten (kein Empfang hinter dem Schreibtisch, da dies Distanz schafft), Erreichbarkeit auch am Wochenende usw.

Des Weiteren sind die Unabhängigkeit und Neutralität des Beraters wichtige Maximen für den Beratungsprozess (vgl. Engel 2008, S. 199). In der Praxis leiden diese jedoch oft unter dem ständig wachsenden Zwang zur Effektivität. So weist Peter Kuhnert auf negative Beispiele aus der Arbeitslosenberatung hin und zitiert in diesem Zusammenhang einen Arbeitslosenberater mit den Worten, dass er freitags in vier Stunden 25 Erstgespräche mit Klienten führen müsse. Solche Vorgaben führten, so Kuhnert, im Endeffekt dazu, dass sich die Beraterrolle von einer klientenorientierten zu einer immer stärker institutionsbezogenen Haltung wandle, was sich letztendlich auch negativ auf die Unabhängigkeit und Neutralität des Beraters auswirke (vgl. Kuhnert 2007, S. 969).

Ferner gilt, dass Beratung sich immer an den Möglichkeiten der Ratsuchenden orientieren soll. Dieses beinhaltet auch, dass der Berater sich im Zweifelsfall mit suboptimalen Lösungen begnügt bzw. diese mitverantwortet, wenn sich zeigt, dass vermeintliche Ideallösungen die Betroffenen überfordern würden. So kann es beispielsweise sein, dass in der Arbeit mit obdachlosen Menschen die Vermittlung in eine eigene Wohnung nicht den Wünschen bzw. Möglichkeiten der Betroffenen entspricht (vgl. Ansen 2006a, S. 13).

In diesem Zusammenhang ist als weiteres wichtiges ethisches Kriterium die Nichtbevormundung von Klienten anzuführen. So sollten Berater darauf verzichten, ihre Pläne durchzusetzen, um ihr persönliches Renommee bzw. das Ansehen ihrer Beratungsstelle durch vermeintlich schnelle Erfolge zu sichern, wenn dies auf der anderen Seite den Wünschen der Klienten entgegensteht (vgl. Ansen 2006a, S. 96). Für einen Schuldnerberater mag es z.B. sehr verführerisch erscheinen, die Schulden des Klienten durch die Schließung von Vergleichen oder festen Ratenzahlungen beseitigen zu wollen. Oft zeigt sich jedoch, dass Klienten solche langfristigen Vereinbarungen noch gar nicht durchhalten können. Es besteht dann die Gefahr, dass sowohl Klienten als auch Schuldnerberater gegenüber den Gläubigern viel von ihrer Glaubwürdigkeit einbüßen, was sich im Endeffekt sehr negativ auf den weiteren Beratungserfolg auswirken kann.

Schließlich gelten Fallbezug und Problemlösungsorientierung als weitere wichtige Kriterien eines professionellen Beratungssettings. So warnt bereits Alice Salomon 1926 vor der „Gefahr der falschen Vergleichung von Fällen“ und weist unter anderem auf Folgendes hin:

„Häufig ähnelt ein Fall, den man zu beurteilen hat, in wesentlichen Punkten einem andern, mit dem man früher zu tun hatte, und man glaubt daher, dieselben Ergebnisse voraussetzen zu dürfen. Gerade die Neigung, in einem solchen Fall die Ähnlichkeiten sehr stark zu sehen, hindert manchmal daran, eine Einsicht in die Besonderheiten des Falles zu nehmen.“

(Salomon 1926a, S. 15)

An anderer Stelle fordert sie diesbezüglich von professioneller Seite, „verschiedenartige Menschen zu verstehen und verschiedenartig zu behandeln“ (Salomon 1926 b, S. 366).

Auch aus rein ökonomischen Gründen gewinnt die Beachtung dieser beiden Prinzipien zunehmend an Bedeutung. Die finanziellen Ressourcen für Beratung werden im Zuge der „Krise“ der öffentlichen Haushalte immer knapper, der Zwang, die Effektivität und Effizienz von Beratung nachweisen zu müssen, wird größer. Ferner konkurrieren immer mehr Beratungseinrichtungen um die

staatlichen Zuwendungen. Vor diesem Hintergrund wächst auch der Druck für Berater, die knapper werdende Zeit mit ihren Klienten problembezogen, zielgerichtet und lösungsorientiert zu nutzen, wobei die Maximen Fallbezug und Problemlösungsorientierung als wichtige Instrumente zur Strukturierung von Beratungsprozessen dienen können, um der Pathologisierung, Überbetreuung, Förderung von gelernter Hilflosigkeit zur Deckung der Versorgungsinteressen der eigenen Beratungsstelle entgegenzuwirken (vgl. Nestmann, Engel & Sickendiek 2007b, S. 601).

An dieser Stelle darf natürlich nicht verschwiegen werden, dass der zunehmende Ökonomisierungsdruck auch den gegenteiligen Effekt haben kann, nämlich Beratungsprozesse so zu optimieren und zu standardisieren, dass vor allem für den Aspekt „Fallbezug“ immer weniger Zeit bleibt.

So weist Martin Albert am Beispiel der Arbeitslosenberatung darauf hin, dass rationelle und vielmals auch standardisierte Arbeitsabläufe immer weniger Raum für eine autonome, auf den individuellen Fall bezogene Arbeitsgestaltung der Sozialen Beratung lassen:

„Das Materielle und Rationale findet eine stärkere Ausrichtung in der Beziehungsgestaltung. Abweichungen sind vielmals in Standards nicht vorgesehen. Arbeitsabläufe der Sozialen Arbeit werden in diesem ökonomischen Denken zerlegt, quantifiziert und an die Realität angepasst. Dieses lässt sich pointiert auch so formulieren: Das materielle Sein beeinflusst das sozialarbeiterische Bewusstsein, und der Klient/die Klientin muss sich den ökonomischen Vorgaben der Sozialen Arbeit anpassen." (Albert 2006, S. 96)

Nach dieser Einführung in Grundsätze und allgemeine Bedingungen von Beratung soll zum besseren Verständnis im folgenden Kapitel gezeigt werden, welche historische Entwicklung Beratung bis zum heutigen Zeitpunkt genommen hat bzw. welche Beratungskonzepte die aktuelle Diskussion prägen.

2.2 Geschichte der Beratung und ihrer Methoden

Die Geschichte der Beratung lässt sich bis ins Jahr 1900 zurückverfolgen. Zuerst erscheint der Begriff Beratung in Aufgabenkatalogen von Fürsorgeeinrichtungen, ohne jedoch eine Methode oder gar ein eigenständiges, theoretisch bearbeitetes Konzept zu sein. Eine erste moderne Interpretation der Funktionen sowohl von Sozialer Arbeit im Allgemeinen als auch von Beratung im Besonderen entwickelt Alice Salomon in den 20er Jahren (vgl. Neuffer 2000, S. 100). So hebt sie 1926 hervor:

„Die Aufgabe der Wohlfahrtspflege besteht darin, die Umgebung so zu gestalten, dass der Mensch sich darin bewähren kann, und den Menschen so zu beeinflussen, dass er sich mit seiner Umgebung abfinden kann, oder dass er in den Stand gesetzt wird, sich in geeigneter Umgebung einzugliedern. Immer richtet die Fürsorge sich auf beides, den Menschen und seine Umgebung. Fast niemals genügt es, dass sie sich ausschließlich dem einen Faktor zuwendet. “ (Salomon 1926b, S. 363)

Sie skizziert hiermit ein Verständnis, das bis heute grundlegend für die Ausrichtung Sozialer Arbeit ist, d.h. den sogenannten doppelten Fokus von Verhalten und Verhältnissen, auf den z.B. Germain und Gitterman 54 Jahre später in ihrem sozialökologischen Ansatz deutlich hinweisen. Beide gehen davon aus, dass der Mensch nie nur für sich allein betrachtet werden kann. Dieses ergibt sich aus der Annahme, dass Personen und Umwelt sich immer wechselseitig bedingen und es so zu unterschiedlichen Anpassungsleistungen kommt. Der Mensch existiert demnach niemals losgelöst von den Gegebenheiten und Anforderungen seiner Umwelt, was in der Sozialen Arbeit bezüglich Diagnostik und Intervention immer zu berücksichtigen ist (vgl. Germain & Gitterman 1999, S. 7ff.).

Vor diesem Hintergrund betrachtet es Salomon als Ziel professioneller Sozialer Arbeit und Beratung, die Entwicklung eines Menschen dahingehend zu fördern, dass er seine Schwierigkeiten aus eigener Kraft überwinden kann, d.h., sie vertritt schon an dieser Stelle eine frühe Form der Empowerment -Orientierung und legt damit einen weiteren wichtigen Grundstein für eine heute bedeutende sozialarbeiterische Handlungsmethode:

„Niemand kann für einen anderen leben oder sterben. Niemand kann auch für einen anderen Menschen die Anpassung an die Lebensumstände vornehmen oder eine einzige Gewohnheit des anderen ändern. Niemand kann einen anderen dadurch stark machen, dass er für diesen andern arbeitet. Niemand kann ihn dadurch zum Denken veranlassen, dass er für den anderen denkt. Das Glück, das ein Mensch sich erwirbt, hängt im wesentlichen von ihm selbst ab.“ (Salomon 1926a, S. 55f.)

Weiter führt sie aus:

„Alle Möglichkeiten, die sich uns bieten, alle Ratschläge, die wir erhalten, nutzen uns nichts, sofern wir sie nicht nutzen wollen. [...] Ein Mensch wird verstümmelt, wenn er nicht für sich selbst zu sorgen und einzustehen hat. Wesentliche Kräfte gehen ihm dadurch verloren. Was ein Mensch für sich selbst erarbeitet, erreicht und tut, hat ganz andere Wirkungen für sein Wohlergehen als alles, was für ihn getan werden kann.“ (Salomon 1926a, S. 55f.)

An diese frühen Vorstellungen zum Vorgehen des Fürsorgers knüpft zwei Jahre später Marie Baum an. Auch sie betont die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Vorgehensweise als Grundprinzip von Familienfürsorge als Handlungsfeld Sozialer Arbeit:

„Bei der Durchführung der Fürsorge wird nicht eine Einzelnot, nicht Schicksal oder Schuld des Individuums, sondern grundsätzlich die Gesamtlage der Familie zum Ausgangspunkt der Prüfung und zur Aufstellung des Heilplans gemacht.“ (Baum 1927, S. 34)

In diesem Zusammenhang grenzt sich Marie Baum eindeutig von der Haltung der klassischen Armenfürsorge des 19. Jahrhunderts ab, die ihrer Ansicht nach zu wenig die Verflochtenheit des Einzelnen mit seiner Umwelt und der Familie berücksichtigt habe (vgl. Baum 1927, S. 34).

Außerdem finden sich bei Marie Baum Hinweise auf ein ressourcenorientiertes Vorgehen in der Beratungs- bzw. Betreuungsarbeit des Fürsorgers, indem sie unterstreicht, dass dieser immer die schlummernden Heilkräfte seiner Klienten achten, wecken und pflegen solle (vgl. Baum 1927, S. 35).

Auch bezüglich der Gestaltung von Beratungssituationen gibt sie wichtige Anregungen. So rät sie dem Fürsorger, Ratsuchenden helfend und stützend, aber niemals fordernd gegenüberzutreten. Beratung hat für sie grundsätzlich den Charakter „freundnachbarlicher Beeinflussung“, die sich niemals in das Leben der Klienten drängen darf, wenn sie von diesen wirklich als Hilfe und Stärkung empfunden werden soll (vgl. Baum 1927, S. 36).

Neben der Achtung der Autonomie des Klienten und der erforderlichen Zurückhaltung des Fürsorgers hebt Marie Baum besonders den Beziehungsaspekt hervor, wie folgendes Zitat verdeutlicht:

„Pflege und Stärkung der Eigenkräfte ist nicht eine Sache, die man aus dem Stegreif erreicht, sondern eine Sache sehr langsamen Reifens. Sie reift am Vertrauen, und Vertrauen wird durch persönliche Berührung unter günstigen Umständen begründet.“ (Baum 1927, S. 36)

Grundvoraussetzung für den Beziehungsaufbau ist für Baum, dass der Fürsorger in der Lage ist, die Lebenslage seiner Klienten in sich aufzunehmen, von ihnen zu lernen. Dazu muss er einen ständigen nahen Kontakt zu ihnen suchen, sie immer wieder in ihrem Alltag erleben (vgl. Baum 1927, S. 36).

Diesbezüglich warnt sie jedoch davor, Beratung und Betreuung gegen den Willen des Klienten vorzunehmen und empfiehlt, Zwangsmaßnahmen nur äußerst behutsam einzuführen. Wesentliches Erfordernis ist ihrer Meinung nach, dass der Fürsorger die Privatsphäre der Klienten respektiert und „seinen Auftrag nicht unheilvoll überspannt“ (vgl. Baum 1927, S. 39).

Mit der Frage nach der methodischen Gestaltung von Beratung in der Fürsorge beschäftigt sich Ende der 20er Jahre auch Siddy Wronsky, die in diesem Zusammenhang die Bedeutung psychologischer Konzepte und Erkenntnisse wie der Psychoanalyse von Sigmund Freud und der Individualpsychologie von Alfred Adler herausstellt (vgl. Neuffer 1990, S. 38).

In ihrem Werk „Sozialtherapie und Psychotherapie in den Methoden der Fürsorge“ stellt sie verschiedene Einzelfälle aus der Fürsorge vor. Dabei fällt auf, dass Wronsky zwar grundsätzlich den ganzheitlichen Aspekt von Sozialer Arbeit, d.h. Beachtung von individuellen und Umweltfaktoren, betont, in den Fallanalysen jedoch eher psychologische Aspekte in den Vordergrund stellt. So schreibt sie an einer Stelle, dass gerade die neuen Erkenntnisse der Psychologie Ursachen von Fehlleistungen der Klienten aufgrund der Persönlichkeitsforschung zu erklären wissen und wichtige Wege zur Behandlung weisen (vgl. Wronsky 1932, S. 43).

Beispielhaft sei hier auf die Darstellung des Falles eines jungen Mannes eingegangen, der große Schwierigkeiten hatte, beruflich Fuß zu fassen. Bei der Analyse seiner Situation stellt Wronsky sehr stark seine defizitäre seelische Entwicklung in den Vordergrund, was z.B. in folgender Aussage zum Ausdruck kommt:

„Seine Urteilsfähigkeit ist unsicher, besonders gegenüber gesellschaftlichen Zusammenhängen. Er sieht den Sinn der Lehrausbildung nicht ein. Er zeigt Mängel in der inneren Einstellung zu den ihm gestellten Aufgaben. Die Unsicherheit drückt sich auch aus in dem Streben, überall Wege zu suchen, die zur Opposition führen.“ (Wronsky 1932, S. 54)

Dieser diagnostische Blick von Wronsky und die damit verbundene Konzentration auf die Schwächen von Klienten prägt leider bis heute manche professionelle Betrachtungsweise von Betroffenen, wie später bei der Auswertung unserer Interviews näher zu zeigen sein wird (vgl. S. 88ff.).

Ferner spiegelt die Methodik von Wronsky ein weiteres grundsätzliches Problem wider, das für die Methodendiskussion in der Sozialen Beratung bis heute bestimmend ist, nämlich die Abgrenzung von Therapie und Beratung. Alice Salomon hat zwar bereits 1926 eine eigenständige Methodik für den „Sozialarbeiter“ gefordert (vgl. Salomon 1926a, S. 8), aber die Pervertierung der Sozialen Arbeit durch den Nationalsozialismus bzw. der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhindern erstens, dass auf dem Feld der Methodenentwicklung Fortschritte verzeichnet werden können, und zweitens, dass es zu der Ausbildung einer originär sozialarbeiterischen/ sozialpädagogischen Identität kommen kann.

Auch nach 1945 steht die Frage des Rückgriffs auf bzw. der Abgrenzung von Bezugswissenschaften (vor allem der Psychologie) schnell wieder auf der Agenda der fachlichen Diskussion innerhalb der Sozialen Arbeit. So bemüht sich z.B. Herbert Lattke 1954, originäre Prinzipien für die Beratung in der Fürsorgearbeit zu entwickeln und dabei eine Grenze zur Psychotherapie zu ziehen. Er weist besonders darauf hin, dass im Gegensatz zum Psychotherapeuten der nicht analytisch geschulte Sozialarbeiter mit psychologischen Deutungen vorsichtig umgehen solle; erst wenn ein festeres Vertrauensverhältnis zum Klienten entstanden sei, könne er sich behutsam psychologischer Methodik bedienen (vgl. Neuffer 1990, S. 130).

15 Jahre später betont Lattke in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung des Einzelfalls: Es müsse je nach Einzelfall entschieden werden, ob Beratungssituationen pädagogisch oder therapeutisch gestaltet würden (vgl. Lattke 1969, S. 25).

In den siebziger Jahren verlieren solche differenzierten Betrachtungsweisen wie die von Lattke zunehmend an Gewicht. Soziale Arbeit und somit auch Soziale Beratung orientiert sich aufgrund der immer noch fehlenden eigenen Identität, die auch im Rahmen der heftigen Methodendiskussion Ende der 60er Jahre nicht gefunden werden kann (vgl. Müller 2006, S. 236f.), verstärkt an Erfolg verheißenden Methoden und Techniken der Psychotherapie. So stellt 1979 eine in Berlin aus Sozialarbeitern gebildete „Arbeitsgruppe Psychomethoden“ im Rahmen einer Arbeitstagung fest, „dass das Interesse an psychotherapeutisch orientierten Methoden unter Sozialarbeitern und Sozialpädagogen größer ist als ursprünglich angenommen.“ Es bestehe ein erhebliches Informationsinteresse, weil die Psychomethoden auf ein tatsächliches Bedürfnis stoßen würden, das nicht wegzuleugnen sei, auch wenn es fraglich bleibe, wieweit dies durch die verfügbaren [psychologischen, M.V.-M., M.H.] Ansätze abgedeckt werden könne (vgl. Müller 2006, S. 283).

Die große Attraktivität psychotherapeutischer Methoden in den 70er und 80er Jahren führt im Endeffekt dazu, dass zu dieser Zeit in der Sozialen Arbeit häufig unter dem Deckmantel von Beratung Therapie betrieben wird. Diese Tendenz findet jedoch nicht nur ungeteilte Zustimmung. 1981 setzt sich Jürgen Mangold mit der zunehmenden Kolonisierung Sozialer Arbeit durch andere wissenschaftliche Disziplinen - insbesondere die Psychologie - kritisch auseinander. Einen wesentlichen Grund für diese Entwicklung sieht er u.a. darin, dass die Soziale Arbeit sich lieber der „Abfallprodukte“ anderer Wissenschaften bediene und darüber versäume, ihren eigenen Gegenstand zu bestimmen und voranzutreiben, da die Angst vor der Totalität der Probleme des beruflichen Alltags Sozialarbeiter dazu verleite, Psychotechniken zu übernehmen, die „überschaubare Teilbereiche beim Klientel sanieren und so den Umgang psychisch erträglicher machen.“ (Mangold 1981, S. 53)

Weiter führt Mangold an, dass therapeutische Methoden auch deshalb so faszinierend für Sozialpädagogen seien, weil sich darüber ein gewisser Expertenstatus und eine bestimmte Identität gewinnen ließen. Ferner sorge der Umstand, dass Therapiemethoden als wissenschaftlich abgesichert gelten würden, für eine Stärkung der Handlungskompetenz sowie der professionellen Position des Sozialarbeiters (vgl. Mangold 1981, S. 53; Nestmann, Engel & Sickendiek 2007a, S. 40).

Erst Anfang der 90er Jahre wird die „Therapeutisierung“ von Beratung im Zuge des „Psychobooms“ zunehmend in Frage gestellt und die Notwendigkeit einer eigenständigen Methodik wieder betont. So übt Peter Lüssi 1991 massive Kritik an der undifferenzierten Anwendung therapeutischer Konzepte in der Sozialen Beratung, da er davon ausgeht, dass die klassischen Klienten Sozialer Arbeit nicht den typischen Therapiepatienten entsprechen. In diesem Zusammenhang betrachtet er beispielsweise das Konzept der nichtdirektiven, klientenzentrierten Beratung von Carl Rogers als nur bedingt tauglich für die Praxis sozialer Beratung. Sozialarbeiter könnten zwar einerseits viel von dieser Methode lernen, andererseits seien sie oftmals – im Umgang mit ihrer klassischen Klientel, den Angehörigen aus der Unterschicht - dazu aufgefordert, in der Beratungssituation die Führung zu übernehmen, um ihren Gesprächsteilnehmern die Kommunikation zu erleichtern und ein einigermaßen klares Bild von dem häufig komplexen Sachverhalt gewinnen zu können. Hier würde eine nichtdirektive Methode schnell an ihre Grenzen stoßen (vgl. Lüssi 1991, S. 398f.).

Außerdem weist Lüssi darauf hin, dass therapeutische Settings oft nicht den Bedürfnissen und Erwartungen von Sozialarbeitsklienten entsprechen:

„Aber auch in persönlichen Lebensfragen [...] erwartet der Klient vom Sozialarbeiter Rat. Er kommt zu einem Fachmann in sozialer Problemlösung, nicht zu einem Psychotherapeuten, und ist selten motiviert, sich von ihm ‚bloss’ in das eigene Innere führen zu lassen, auf dass er dort durch intensive Selbstreflexion den gesuchten Rat selbst finde.“ (Lüssi 1991, S. 400)

Durch solches Verhalten und Auftreten des Beraters würden sich insbesondere Angehörige der Unterschicht „hängen gelassen“ fühlen, was in der Konsequenz den ganzen Beratungsprozess gefährden könne (vgl. Lüssi 1991, S. 401).

In ähnlicher Richtung argumentiert Michael Galuske sieben Jahre später. Auch er warnt vor den Gefahren eines methodischen [therapeutischen; M.V.-M., M.H.] Tunnelblicks. Dieser widerspreche der ganzheitlichen Ausrichtung Sozialer Beratung, die den Anspruch habe, bei der Entwicklung von Hilfeperspektiven sowohl individuelle als auch soziostrukturelle Faktoren zu berücksichtigen (vgl. Galuske 2005, S. 143).

Insgesamt lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass die Debatte um die „Therapeutisierung“ bzw. „Psychologisierung“ der Sozialen Beratung bis heute anhält. Noch immer erhoffen sich Berater von der Anwendung therapeutischer Methoden eine Aufwertung ihrer Tätigkeit (vgl. Nestmann, Engel & Sickendiek 2007a, S. 40).

Dieser Tendenz versuchen Sozialarbeitswissenschaftler wie Manfred Neuffer entgegenzuwirken, indem sie für Beratung in der Sozialen Arbeit eine eigenständige Konzeption fordern. Neuffer sieht in den systemischen Handlungskonzepten und Theorien, wie sie von Silvia Staub-Bernasconi entwickelt wurden, eine wegweisende Option für die Gestaltung sozialer Beratung, um den mehrdimensionalen Problemsituationen, in denen sich Klienten Sozialer Arbeit oft befinden, gerecht zu werden (vgl. Neuffer 2000, S. 103).

Nach diesem Überblick über die Geschichte der Beratung und ihrer Methoden sollen nun verschiedene Konzepte, u.a. das systemische, näher vorgestellt werden, die der Beratung in der Sozialen Arbeit ein wichtiges Fundament gegeben haben bzw. immer noch geben.

3. Ausgewählte Konzeptionen von Beratung

In der Entwicklung der Beratung gingen und gehen von dem Konzept der klientenzentrierten Beratung nach Carl Rogers sehr wichtige Impulse aus, weshalb wir unseren Überblick über verschiedene Beratungskonzepte hiermit beginnen möchten.

3.1 Klientenzentrierte Beratung und Engaging

Die klientenzentrierte Beratung geht auf Carl Rogers zurück, der dabei auf Erfahrungen zurückgriff, die er als Studienberater sammeln konnte. Ursprünglich entwickelte er sein Konzept für den therapeutischen Bereich, dieses fand jedoch darüber hinaus auch außerhalb des therapeutischen Sektors breite Rezeption. Rogers selbst förderte diese Tendenz, indem er deutlich zu erkennen gab, dass für ihn die Grenzen zwischen Therapie und Beratung fließend seien (vgl. Neuffer 2002, S. 101).

Seine Grundüberzeugung ist, dass Beratung Menschen dabei unterstützen soll, im Kontext multifaktoriell bestimmter Lebens- und Arbeitsbedingungen selbstbestimmt handeln und hierdurch ihr Selbst entfalten zu können.

Rogers geht davon aus, dass „der Einzelne die hinlängliche Fähigkeit hat, konstruktiv mit all jenen Aspekten seines Lebens fertigzuwerden, die potenziell dem Bewusstsein gegenwärtig werden können.“ (Rogers 2002, S. 37f.)

Zwar vertraut Rogers auf die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen, sein Selbst permanent aktualisieren, d.h. den ständig wechselnden Umweltbedingungen anpassen zu können, gleichzeitig verweist er jedoch bereits 1951 darauf, dass die moderne Kultur den Menschen immer mehr sich selbst überlasse und dieser daher stärker gefordert sei, grundlegende Probleme und Konflikte des Lebens selber zu lösen, für die früher die Gesellschaft zuständig gewesen sei. Aus dieser Entwicklung der zunehmenden Individualisierung in der ersten Moderne ergibt sich für Rogers ein größerer Bedarf sowie ein wachsendes Interesse an Beratungsleistungen (vgl. Rogers 2002, S. 21).

In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwischen direktiven und nicht-direktiven Beratungsangeboten. Direktive Angebote wie z.B. die Psychodiagnostik oder die Psychoanalyse betrachtet Rogers kritisch und grenzt sich daher deutlich von ihnen ab (vgl. Geißler & Hege 2007, S. 64). Letztgenannte schaffen seiner Meinung nach ein Beratungssetting, das den Schwerpunkt auf die Lösung des Problems des Klienten legt, welches in erster Linie vom Berater diagnostiziert und behandelt wird. Hierdurch kommt dem Berater eine große Verantwortung für die Lösung des Problems zu, während dem Klienten nur ein beschränkter Raum zur Verfügung steht, sein Selbst durch neue Erfahrungen zu aktualisieren (vgl. Geißler & Hege 2007, S. 64). Rogers selbst bringt seine Ablehnung gegenüber direktiven Beratungsansätzen sinngemäß wie folgt zum Ausdruck: Der Therapeut müsse aufhören, sich mit der Diagnose zu beschäftigen, er müsse seinen diagnostischen Scharfsinn ruhen lassen und den Wunsch aufgeben, professionelle Wertbestimmungen vorzunehmen. Stattdessen dürfe er sich nur auf ein Ziel konzentrieren, nämlich zu einem tiefen Verstehen und zur Akzeptanz der Einstellung zu gelangen, die der Klient in dem jeweiligen Augenblick einnimmt (vgl. Rogers 2002, S. 43).

Direktive Beratungs- und Therapieansätze lehnt Rogers darüber hinaus auch deshalb ab, weil er davon ausgeht, dass jeder Mensch seine eigene Realität konstruiert. Für ihn gibt es so viele Wirklichkeiten wie Individuen. Die Erfassung einer objektiven Wirklichkeit außerhalb des Individuums ist für ihn daher nicht möglich (vgl. Galuske 2005, S. 181; Behr 1987, S. 143). Rogers selbst fasst seine Haltung in folgender These zusammen:

„Der Organismus reagiert auf das Feld [die Umwelt, M.V.-M., M.H.], wie es erfahren und wahrgenommen wird. Dieses Wahrnehmungsfeld ist für das Individuum ‚Realität’.“ (Rogers 2002, S. 419.)

Zur Erläuterung führt er weiter aus, dass der Mensch nicht auf irgendeine absolute Realität reagiere, sondern auf seine Wahrnehmung dieser Realität. Diese Wahrnehmung sei dann für den Menschen Realität (vgl. Rogers 2002, S. 419).

Daher steht in Rogers Konzept der nicht-direktiven Beratung nicht das Problem, sondern das Individuum, d.h. also der Klient, im Fokus, während dem Therapeuten eine deutlich zurückhaltendere Rolle zugewiesen wird:

„Ein solcher [nicht-direktiver, M.V.-M., M.H.] Berater ist einigermaßen gewillt, den Klienten selbst-direktiv sein zu lassen. Er ist eher geneigt zuzuhören, anstatt zu lenken. Er vermeidet es nach Möglichkeit, den Klienten seine eigene Wertbestimmung aufzudrängen. Er stellt fest, dass eine Reihe seiner Klienten sich selbst helfen kann.“ (Rogers 2002, S. 40)

Um dieses nicht-direktive Konzept in die Beratungspraxis umsetzen zu können, sind nach Rogers vor allem die folgenden Aspekte zu beachten. Ausgangspunkt ist hierbei immer, dass die Beratungssituation fundamental strukturiert wird durch die Beziehung des Beraters zum Klienten. So weist Rogers Gesprächstechniken nur eine sekundäre Rolle zu: Worte des Klienten oder des Beraters hätten wenig Bedeutung verglichen mit der augenblicklichen emotionellen Beziehung, die zwischen beiden bestehe (vgl. Geißler & Hege 2007, S. 66).

Für einen gelingenden Beziehungsaufbau sind nach Rogers vor allem drei Haltungen des Beraters von entscheidender Bedeutung:

An erster Stelle steht die bedingungslose Akzeptanz bzw. Wertschätzung des Klienten, d.h., dass der Berater jedem Klienten „seinen ihm gemäßen Wert, seine ihm gemäße Würde“ zugesteht (vgl. Rogers 2002, S. 35).

Neben der Akzeptanz stellt für Rogers das empathische Einfühlen in das innere Bezugssystem oder Wahrnehmungsfeld des Klienten ein unerlässliches Prinzip dar, um beim Klienten Blockaden zu lösen und ihm eine tief greifende Selbstreflexion zu ermöglichen:

„In der emotionalen Wärme der Beziehung mit dem Therapeuten erfährt der Klient ein Gefühl der Sicherheit, wenn er merkt, dass jede von ihm ausgedrückte Einstellung fast auf die gleiche Weise verstanden wird, wie er sie wahrnimmt, und gleichzeitig akzeptiert wird.“ (Rogers 2002, S. 52)

Für Rogers ist das Schaffen einer warmen Gesprächsatmosphäre eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass der Klient sein Selbst aktualisieren, d.h. einen wichtigen Schritt zur Selbstverwirklichung gehen kann. Als Instrumente können hierzu dienen: einfühlendes Verstehen (Empathie), aktives Zuhören und Paraphrasieren. Diese Haltung des Therapeuten bzw. Beraters kann den Klienten dabei unterstützen, verschiedene Facetten seiner Persönlichkeit (auch die unangenehmen) wahrzunehmen, ohne sich dabei schuldig zu fühlen – eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch als Ganzes annehmen kann. Ein Klient von Rogers beschreibt seine diesbezüglichen Erfahrungen folgendermaßen: Durch die Beratung habe er ein sehr viel klareres Bild von sich selbst gewonnen, was ihn anfangs etwas deprimiert und enttäuscht habe, ihm im Endeffekt aber dazu verholfen habe, seinen Weg und seine Ziele eindeutig zu erkennen (vgl. Rogers 2002, S. 83f.).

Das dritte wichtige Prinzip der Kongruenz bzw. Echtheit verlangt vom Therapeuten bzw. Berater absolute Authentizität in der Begegnung, d.h., der Therapeut/Berater soll „er selbst“ sein, sich als die Person zeigen, die er ist, und keine professionelle Maske tragen (vgl. Behr 1987, S. 142; Weinberger 2006, S. 64). Sabine Weinberger betont in diesem Zusammenhang, dass ein solches Verhalten nur dann möglich sei, wenn er sich in seiner Position wohlfühlt bzw. in der Lage ist, sich mit seinen persönlichen Grenzen, den Grenzen seiner Institution und der eigenen Helfermotivation auseinanderzusetzen. Ist dies der Fall, so kann darin ein wichtiges Fundament für die Beziehungsgestaltung zwischen Klient und Berater liegen, da nach Auffassung von Rogers ohne Authentizität keine gegenseitige Wertschätzung entstehen kann (vgl. Weinberger 2006, S. 64).

In der Rezeption bzw. wissenschaftlichen Diskussion hat das Konzept von Rogers sehr viel Anerkennung, aber auch Kritik erfahren. Grundsätzlich positiv wird hervorgehoben, dass Rogers den Professionellen eine gewisse Demut und Zurückhaltung empfiehlt, worin sich u.a. eine Abkehr vom Expertentum, der Verzicht auf Besserwissen und Respekt vor dem Klienten als Experte für die eigene Lebenssituation ausdrückt und dieser prinzipiell als autonomes Wesen begriffen wird (vgl. Galuske 2005, S. 186).

Ferner weisen Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen wie z.B. Michael Behr darauf hin, dass Rogers’ eigentliche Leistung darin bestehe, dass er explizit auf die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehung für die Gestaltung pädagogischer Prozesse wie z.B. Beratung eingeht (vgl. Behr 1087, S. 149).

Bezüglich der Anwendung der Methode von Rogers auf die Soziale Arbeit heben Kritiker wie Geißler und Hege hervor, dass Rogers’ Konzept nicht den Ansprüchen einer ganzheitlich orientierten Sozialarbeit genüge. So weisen sie darauf hin, dass Rogers’ Konzept sehr individualistisch ausgerichtet sei; in keiner seiner Thesen werde die Sozialität des Menschen auch nur angedeutet. Dieses gelte sowohl für die Voraussetzungen als auch für die Ergebnisse der Therapie bzw. Beratung (vgl. Geißler & Hege 2007, S. 64).

Schon Rogers selbst hat deutlich gemacht, dass Klienten, die Schwierigkeiten haben, den Anforderungen ihrer Umwelt zu entsprechen, nicht für die klientenzentrierte Gesprächsführung geeignet seien. Daraus schließen Geißler und Hege, dass der Sozialarbeiter mit der Methode von Rogers sehr behutsam umgehen und zuerst analysieren solle, wo genau die Ursachen für die Probleme des Klienten zu suchen seien, ob im Umfeld oder aber beim Klienten selbst (vgl. Geißler & Hege 2007, S. 78).

Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt liegt darin, dass die therapeutische Ausrichtung von Rogers nicht den spezifischen Anforderungen von Beratungsprozessen in der Sozialen Arbeit entspricht. Peter Lüssi hebt hervor, dass therapeutische Settings grundsätzlich dem Natürlichkeitsprinzip von Sozialer Beratung widersprechen. Lüssi unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass Therapie u.a. dadurch eine virtuelle Situation schafft, dass z.B. künstliche Zeitregeln geschaffen werden, die feste Zeitfenster vorgeben (Gesprächsdauer, Gesprächsfrequenz, Gesprächsablauf). Dieses steht den Anforderungen an die reale Sozialarbeitspraxis klar entgegen, die Flexibilität erfordert: Je nach der gegebenen äußeren Problemsituation und der psychischen Verfassung der beteiligten Personen kann ein Gespräch in der Sozialen Beratung zehn Minuten oder aber vier Stunden dauern. Vor diesem Hintergrund hält Lüssi feste Zeitlimits für kontraproduktiv (vgl. Lüssi 2008, S. 276ff.).

Ebenso wie Galuske betont Lüssi außerdem, dass die sozialarbeiterische Beratung in der Praxis oft ein Gespräch verlange, das direktiv zu führen sei. Insbesondere klassische Sozialarbeitsklienten wie „Unterschichtsangehörige“ benötigen – wie oben bereits in anderem Zusammenhang erwähnt - oftmals direkte Ansprache und viel gesprächsleitende Unterstützung, was durch Rogers’ Konzept der klientenzentrierten Gesprächsführung nicht gegeben sei.

Rogers selbst war bereits während seiner Tätigkeit als Therapeut bzw. Berater um eine Evaluation seines Konzeptes bemüht. Dabei vertrat er die Position, dass dieses bei Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft Erfolge gezeigt habe, auch wenn er einschränkend hinzufügte, dass dieses bei Weitem nicht auf alle seiner Klienten zugetroffen habe, sondern individuell betrachtet werden musste und immer noch werden müsse (vgl. Rogers 2002, S. 213).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Ansatz von Rogers der Sozialen Beratung wichtige Impulse geben kann, weil er Sozialarbeiter dabei unterstützt, Klienten zu einem Problembewusstsein zu verhelfen sowie zur Selbsthilfe anzuleiten (vgl. Lüssi 2008, S. 398).

Auf der anderen Seite sind natürlich immer die Grenzen der Methode von Rogers zu beachten. Er selber hat dieser niemals eine Allmacht bzw. Allzuständigkeit zugesprochen, sondern darauf hingewiesen, dass selbst im Falle eines Misserfolgs „diese Therapie dem Individuum offenbar keinen Schaden zufügt.“ Denn die klientenzentrierte Beratung habe grundsätzlich einen „weichen“ Charakter, d.h., aufgrund der Tatsache, dass in der Beziehung zwischen Klient und Berater jede Art von Druck fehle, würden nur diejenigen Erfahrungselemente ins Bewusstsein von Klienten gelangen, die diese erkennen und ertragen könnten, ohne sich dabei bedroht zu fühlen. Rogers selbst fasste dies in die gängige Formel: „Der Klient hält sich von den Themen fern, die ihm zu gefährlich sind oder beunruhigen.“ (Rogers 2002, S. 214f.)

In diesem Sinne entspricht das Konzept der klientenzentrierten Beratung prinzipiell der Forderung nach Freiwilligkeit als Grundvoraussetzung Sozialer Beratung und kann daher unter Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallsituation als Instrument zur praktischen Verwirklichung dieses Anspruchs dienen.

An dieser Stelle ist noch hinzuzufügen, dass es Bemühungen gibt, die klientenzentrierte Beratung mehr den spezifischen Anforderungen der Sozialen Arbeit anzugleichen. So hat Mechthild Seithe den Versuch unternommen, die klientenzentrierte Beratung an diese Bedarfe anzupassen. Ihr Konzept bezeichnet sie als Engaging, das sie wie folgt definiert: Engaging sei ein Handlungsansatz, der konsequent und alltagsorientiert angewendet werde und somit auf allen Ebenen und in allen Phasen und thematischen Handlungsangeboten Sozialer Arbeit Empowerment-Prozesse anstoßen könne. Engaging habe daher vor allem das Ziel, Klienten in ihrer Eigenmotivation zu stärken, damit diese zu einem möglichst selbstbestimmten Leben gelangen könnten. Hierbei sei vor allem die Einzigartigkeit eines jeden Klienten zu berücksichtigen, der auf seine besondere Art und Weise seine Lebenswelt wahrnehme und entsprechend in ihr handle. Mechthild Seithe fasst dieses unter dem Begriff Subjektorientierung folgendermaßen zusammen:

„In jedem sozialpädagogischen Prozess ist der Mensch mit seiner ganzen Lebenswelt präsent: mit den sozialen, materiellen und räumlichen Lebensbedingungen und Lebenslagen und den gesellschaftlichen Abhängigkeiten und ebenso mit seiner Persönlichkeit und seiner subjektiven Verarbeitung der von ihm erfahrenen Realität. Auch bei der Behandlung sachlicher Themen, die selber keinen psychologischen Inhalt haben, ist das Subjekt KlientIn immer lernend und empfindend an der Interaktion sozialer Arbeit beteiligt.“ (Seithe 2008, S. 58f.)

Das Zitat macht deutlich, dass Soziale Beratung immer die individuelle Sichtweise des Klienten berücksichtigen müsse, sowohl bei sachbezogenen Themen (z.B. sozialrechtliche Beratung) als auch bei individuellen Aspekten (psychosoziale Beratung).

Grundsätzlich gilt für Mechthild Seithe, dass Soziale Beratung bestimmten Anforderungen genügen muss, die sich deutlich von den Erfordernissen einer therapeutisch orientierten Beratung unterscheiden. So müssten sich Sozialarbeiter oftmals mit schwer motivierbaren Klienten auseinandersetzen, so dass dem eigentlichen Beratungsprozess eine Motivierungsphase vorgeschaltet werden müsse. Außerdem agiere die Soziale Beratung nicht selten im Spannungsfeld des doppelten Mandats, was von den Beratern besondere methodische Kenntnisse und ein spezifisches Beratungsverständnis verlange. Eine konsequente Anwendung der Prinzipien klientenzentrierter Beratung (Empathie, akzeptierendes Verstehen und Authentizität) könne diesen dabei helfen, den Spagat zwischen Hilfe und Kontrolle zu bewältigen (vgl. Seithe 2008, S. 14).

Exemplarisch soll dies anhand des Umgangs mit Widerstand von Klienten in Gesprächssituationen dargestellt werden. Wenn auf der Grundlage der Basisvariablen nach Rogers eine stabile Beratungsbeziehung entstanden ist, können Berater auch zu dem Instrument der Konfrontation greifen, um ihrem Kontrollauftrag gerecht zu werden und diesen auch zu kommunizieren bzw. die Klienten zu einer Auseinandersetzung mit ihren inneren Widersprüchen anzuregen. Unter diesen Voraussetzungen ist es für den Berater eher möglich, sich mit heftigen Reaktionen seitens des Klienten konstruktiv auseinanderzusetzen und nicht in einen Machtkampf mit diesem zu verfallen. Gleichzeitig wird es dem Klienten eher möglich sein, kritische Äußerungen des Beraters differenziert wahrzunehmen, sie nicht als vollständige Ablehnung seiner Person bzw. als Machtgebaren seitens des Beraters zu erleben (vgl. Seithe 2008, S. 43).

Das von der klientenzentrierten Beratung abgeleitete Konzept des Engaging birgt insofern eine Chance für die Praxis der Beratung in der Sozialen Arbeit in sich, als dass es eine emanzipatorische Zielsetzung verfolgt, d.h. Hilfe zur Selbsthilfe immer Vorrang gegenüber Fremdhilfe gibt (vgl. Seithe 2008, S. 13).

Kritisiert wird allerdings die Unschärfe des Begriffs Engaging. So weist der Sozial- und Kulturwissenschaftler Klaus Sander darauf hin, dass das von Mechthild Seithe vorgestellte Konzept zwar Anregungen für die Arbeit mit schwer motivierbaren bzw. schwierigen Klienten gebe, aufgrund seiner diffusen Natur aber wenig konkrete methodische Vorgehensweisen erkennen lasse (vgl. Sander 2008).

3.2 Systemische Beratung

Neben dem klientenzentrierten Beratungsansatz genießt auch die systemische Beratung hohes Ansehen in der Sozialen Arbeit. Sie geht zurück auf die systemische Familientherapie, die seit den 70er Jahren verstärkt von Sozialarbeitern rezipiert wird, um sich neue Perspektiven für die Arbeit mit Klienten zu eröffnen. Familientherapeutische Bemühungen konzentrieren sich auf verschiedene funktionale bzw. dysfunktionale Interaktionsformen innerhalb der Familie. Letztgenannte wird als Ganzes betrachtet, anstatt den Fokus nur auf einzelne Familienmitglieder zu richten (vgl. Burnham 1995, S. 29; Brunner 2007, S. 655; Brunner 1990, S. 88). Der Familientherapeut ist somit aufgefordert, die Kommunikationsabläufe innerhalb der Familie zu erfassen, um dysfunktionale Verhaltensmuster analysieren und durch gezielte Eingriffe (Umdeutungen, Verordnungen, Setzen neuer Regeln im Umgang miteinander) Veränderungen anzustoßen, die im Endeffekt aber nur von den Betroffenen selbst in die Tat umgesetzt werden können (vgl. Brunner 1990, S. 90ff.).

Im Laufe der Zeit gibt es eine Verschiebung bzw. Ausdehnung des familientherapeutischen Denkens hin zu einer weiter gefassten systemischen Therapie. Dahinter steht der Gedanke, dass nicht nur das System Familie bedeutsam für das Beziehungsnetz einzelner Personen ist, sondern auch noch andere wichtige Personen-Netzwerke wie Arbeits- und Schulkollegen, Nachbarn, soziale Institutionen etc. Auf dieser Basis sind dann auch Konzeptionen von systemischer Beratung entstanden (vgl. Brunner 2007, S.656).

Zum besseren Verständnis scheint es an dieser Stelle angemessen, kurz auf die Systemtheorie einzugehen, die die Grundlage für systemische Interventionen bildet.

Silvia Staub-Bernasconi geht davon aus, dass alles Existierende „ein System oder Teil eines Systems oder Interaktionsfeldes ist.“ (Staub- Bernasconi 2007, S. 160). In diesem Zusammenhang unterstreicht sie den dynamischen Charakter von Systemen, die in ständiger Interaktion mit ihrer Umwelt stünden.

Ferner besagt die Systemtheorie, dass soziale Systeme (wie z.B. die Familie) immer durch bestimmte Hierarchien, Machtkonstellationen bzw. auch Koalitionen gekennzeichnet seien (vgl. Lüssi 2001, S. 66f.).

Oft ist die Systemzugehörigkeit eines Individuums ein äußerst komplexer Sachverhalt. Menschen gehören einer Reihe von Sub- und Suprasystemen an. Es ist aus Sicht der Systemtheorie daher sehr wichtig, ihre jeweilige Zugehörigkeit zu den einzelnen Referenzsystemen, ihre jeweiligen Rollen darin etc. exakt zu analysieren. Hierbei ist immer zu berücksichtigen, dass der Mensch ein so genanntes systembedürftiges Wesen ist, d.h., er ist darauf angewiesen, in verschiedene Sozialsysteme (wie Familie, Firma, Sportverein etc.) eingebunden zu sein, um existieren zu können (vgl. Lüssi 2001, S. 65ff.).

Auf die Soziale Arbeit bezogen bedeutet die Anwendung der Systemtheorie vor allem, nicht nur die individuellen Eigenschaften des Klienten, sondern auch sein Umfeld (persönliche Netzwerke, soziale Bezugssysteme, Beziehungsgefüge etc.) mit einzubeziehen. Es geht somit um einen ganzheitlichen Ansatz, der den Anforderungen von Sozialer Arbeit im Allgemeinen und Sozialer Beratung im Speziellen entspricht, was den großen Einfluss systemischer Beratungsansätze im Methodenkatalog der Sozialen Arbeit erklärt.

Somit zeichnet sich systemische Beratungsarbeit vor allem durch folgende Prinzipien aus: Hierzu zählt einmal ein tief greifendes, adäquates Erfassen der von den Klienten vorgetragenen Probleme, wobei zwischenmenschliche Verstrickungen bzw. Verquickungen vorrangig behandelt werden und im Zentrum der Betrachtungsweise stehen. Dabei wird der Multikomplexität von Problemlagen große Aufmerksamkeit geschenkt und dementsprechend eine Multi-Perspektivität entwickelt, d.h., systemische Beratung begreift vorhandene Schwierigkeiten von Klienten immer als vielschichtige Muster, an denen meist mehrere Personen bzw. Personengruppen beteiligt sind. (vgl. Brunner 2007, S. 2007, S. 656f.).

Um diese Vorgaben erfüllen zu können, muss der systemische Berater bestimmten Anforderungen genügen. So sollte er im Beratungsprozess bestrebt sein, eine gelungene Balance zwischen Nähe und professioneller Distanz zum Klienten zu finden. Hierzu ist er aufgefordert, sich immer wieder bewusst zu machen, dass er für die Zeit der Beratung vorübergehend zu einem Teil des Klientensystems wird. Dieses erweist sich einerseits als vorteilhaft, da der Berater auf diesem Wege zu einem tieferen Verständnis von Kommunikations- bzw. Interaktionsmustern im Klientensystem gelangt und gegebenenfalls Anstöße zu deren Veränderung gibt. Andererseits kann er aber hierbei Gefahr laufen, seine professionelle Distanz und seine Außensicht auf Vorgänge im Klientensystem zu verlieren, wie Manuel Barthelmess betont:

„Einlassen ist also wichtig, jedoch hat der systemische Berater großen Respekt vor der Eigendynamik der Klientensysteme und weiß um die Gefahr, selbst in diesen ‚eigendynamischen Strudel’ mit hineingezogen zu werden. Dies ist dann der Fall, wenn er die Klienten so gut ‚versteht’, dass er komplett deren Wirklichkeitskonstruktionen teilt.“ (Barthelmess 2005, S. 119).

Ferner gilt es für den Berater, aus verschiedenen Gründen seine Rolle bescheiden zu definieren. Dieses drückt sich u.a. darin aus, dass er sich selbst nicht als Lieferant fertiger Lösungen, sondern nur als „Entwicklungshelfer“ bei der Lösungsfindung versteht. So betrachtet Barthelmess die Beratungssituation als Prozess, innerhalb dessen weder Ratschläge noch Vorschläge gemacht würden, sondern eine Selbstveränderung des Systems in Gang gesetzt werden sollte, die von den Betroffenen verantwortlich getragen werde (vgl. Barthelmess 2005, S. 121). Somit ist ein nicht direktives Vorgehen eine wichtige Grundhaltung des systemischen Beraters.

Ebenso muss er bei seiner Arbeit immer die Einzigartigkeit von Klientensystemen berücksichtigen, d.h. der Tatsache Rechnung tragen, dass jegliche Außenreize, die an Systeme herangetragen werden, in dessen spezifische Verarbeitungsmechanismen passen müssen, damit eine Veränderung eintreten kann. So kann kompetentes Sachwissen wenig hilfreich sein, wenn es vom Klientensystem nicht aufgenommen und verstanden werden kann. Barthelmess bringt dies auf eine gängige Formel: „Ein System sieht, was es sieht, und es sieht in der Regel nicht, dass es nicht sieht, was es nicht sieht.“ (Barthelmess 2005, S. 115)

Zusammenfassend stellt Barthelmess daher fest, dass der systemische Berater niemals der Vorstellung erliegen darf, ein System direkt beeinflussen zu können, sondern seine Interventionen so gestalten muss, dass hierdurch das Klientensystem irritiert und somit in die Lage versetzt wird, problematische Kommunikations- und Interaktionsmuster zu hinterfragen (vgl. Barthelmess 2005, S. 124).

Um dieses leisten zu können, kann der Berater unter anderem auf folgende Instrumente bzw. Techniken zurückgreifen: Fragen nach Ausnahmen vom Problemen („Wann ist das Problem nicht aufgetreten?“), Fragen nach Ressourcen unabhängig vom Problem („Was möchten Sie in ihrem Leben gerne so bewahren, wie es ist?“), die so genannte Wunderfrage („Wenn das Problem durch ein Wunder über Nacht weg wäre: Woran könnte man erkennen, dass es passiert ist?“), die Methode der Umdeutung (reframing) sowie das zirkuläre Fragen („Wie erklärt sich ihr Vater, dass ihre Schwester das getan hat?“). Diese Fragen sollen den Klienten dabei unterstützen, neue Perspektiven zu entwicklen und nicht in einer bestimmten negativen Sichtweise zu verharren (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 158 ff.).

Die systemische Beratung lehnt sich schon aufgrund ihres Ursprungs in der familientherapeutischen Arbeit stark an therapeutische Überlegungen an. Hier setzt auch die Kritik an. So weisen z.B. Sickendiek, Engel und Nestmann darauf hin, dass die systemische Perspektive ihre Risiken habe. So würden Umweltaspekte überwiegend vernachlässigt. Die einseitige Konzentration auf innerfamiliäre Problemdimensionen berge immer die Gefahr in sich, dass außerfamiliäre Faktoren nur soweit beachtet würden, als sie das Systemgleichgewicht offensichtlich störten, was dazu führen könne, dass in der praktischen Beratungsarbeit Klientensysteme dazu bewogen würden, sich einfach nur an Umweltbedingungen anzupassen, ohne diese kritisch zu hinterfragen (vgl. Sickendiek, Engel & Nestmann 2008, S. 191 f.).

Michael Galuske beleuchtet noch einen anderen Aspekt, den er an systemisch-therapeutisch geprägten Konzepten für problematisch hält. So seien diese oftmals eher für eine Beratungsarbeit mit motivierten und ökonomisch besser gestellten Menschen aus der Mittelschicht geeignet, die bereits mit konkreten Veränderungswünschen in die Beratungsstelle kämen. Weniger motivierte bzw. ökonomisch schlechter gestellte Menschen, die zum großen Teil Adressaten der Sozialen Arbeit darstellen, würden dagegen weniger von solchen Konzepten erreicht werden bzw. könnten hiervon nicht wirklich profitieren, da sie nicht in ihrer Lebenswelt angesprochen würden (vgl. Galuske 2005, S. 233).

Schließlich unterstreicht Manuel Barthelmess noch folgendes mögliches Risiko von systemischer Beratung:

Problem- und Beratungsgespräch sind rekursiv miteinander verknüpft. Logisch weitergedacht bedeutet dies, dass es ohne die Konstruktion von Problemen keine Konstruktion eines Beratungssettings gibt. Ebenso gibt es ohne ein Beratungssystem (ohne das Sprechen und Bearbeiten von Problemen) keine Probleme.“ (Barthelmess 2005, S. 113).

Mit diesem Zitat zeigt er die Gefahr auf, dass Probleme durch Kommunikation darüber aufrechterhalten oder gar erst erschaffen werden könnten. Anders ausgedrückt: Durch den Beratungsprozess bilden Berater und Klient ein neues, eigenständiges System, das sich für beide so attraktiv entwickeln kann, dass sie sich gar nicht davon lösen mögen, was dem Anspruch von Sozialer Beratung entgegensteht, Klienten möglichst schnell wieder zum eigenständigen Handeln zu verhelfen.

Engel und Nestmann bringen dieses für die Beratung allgemein auf den Punkt, indem sie Beratung als ambivalentes Handlungsfeld beschreiben und davor warnen, dass sich Ratsuchende durchaus in „eine für sie nur schwer durchschaubare Abhängigkeit von Experten begeben“ und somit zu „Beratungsobjekten“ werden könnten (vgl. Engel & Nestmann 1997, S. 179).

Abschließend lässt sich also festhalten, dass die systemische Beratung der Sozialen Arbeit neue und positive Anstöße geben kann, wenngleich zu berücksichtigen ist, dass sie nicht immer lebenswelt- bzw. alltagssensibel organisiert ist, wie es die Soziale Arbeit fordert.

3.3 Ressourcenorientierte Beratung

Die ressourcenorientierte Beratung basiert auf einer klassischen Arbeitsweise der Sozialen Arbeit. So findet sich schon bei frühen Sozialarbeitstheoretikern wie z.B. Alice Salomon oder Ilse Arlt eine Definition von Fürsorglichkeit als „Anrecht auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen“ (zit. nach Staub-Bernasconi 1998, S. 61). Hieraus ergibt sich die schon traditionelle Aufgabe der Sozialen Arbeit, für eine „ressourcenmäßige Besserstellung“ von Individuen, Familien, gesellschaftlichen Gruppen etc. zu sorgen (vgl. Staub-Bernasconi 1998, S. 61).

Hieran knüpft das Konzept der ressourcenorientierten Beratung von Frank Nestmann an. Im Mittelpunkt seines Ansatzes steht angesichts von zunehmenden Modernisierungsrisiken (Individualisierung, Flexibilisierung, Globalisierung, Verlust von traditionellen Lebensentwürfen) die Befähigung von Betroffenen, ihr Leben wieder eigenständig gestalten zu können, d.h. sich als „Planungsbüro“ in Bezug auf ihren eigenen Lebenslauf zu begreifen (vgl. Nestmann 2007d, S. 726).

Um dies realisieren zu können, ist nach Nestmann eine genaue Analyse der vorhandenen, aber auch der fehlenden Ressourcen notwendig. Er geht hierbei von der sogenannten Theorie der Ressourcenerhaltung (COR = Conservation of Resources nach Hobfoll & Jackson) aus, welche besagt, dass für das Wohlbefinden und die gelingende Alltagsgestaltung von Menschen verfügbare Ressourcen von Bedeutung sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies, „dass Ressourcenverlust einflussreicher und bedeutsamer ist als Ressourcengewinn, denn er bedeutet oft eine Gefährdung von Existenz“ (Nestmann 2007d, S. 730).

Grundsätzlich gilt, dass Menschen mit großen Ressourcen meistens noch weitere Ressourcen hinzugewinnen (Gewinnspirale), während Menschen mit geringen Ressourcen erheblich anfälliger für Ressourcenverlust sind und daher auch weniger imstande, neue Ressourcen hinzuzugewinnen. Vielmehr investieren sie in dem verzweifelten Versuch, drohende weitere Verluste zu verhindern, oftmals die wenigen vorhandenen Ressourcen (Ressourceninvestition), was die Verlustspirale jedoch eher noch verschärft (vgl. Nestmann 2007d, S. 730). Um dies anhand eines Beispiels zu verdeutlichen, sei hier z.B. auf die Situation überschuldeter Menschen hingewiesen, die Mietschulden machen und damit ihre Wohnung gefährden, um damit andere Gläubiger (Versandhaus, Telefongesellschaft, Fitnessstudio etc.) zu befriedigen.

In diesem Zusammenhang unterscheidet Nestmann folgende Kategorien von Ressourcen:

- Objekte der materiellen Umwelt (Nahrung, Wohnung, Kleidung, Kommunikations- und Transportmittel etc.)
- Lebensbedingungen und –umstände (Status, Sicherheit, Zuwendung etc.)
- persönliche Merkmale (Selbstwert, Bewältigungsoptimismus / coping -Strategien, Kontrollbewusstsein, soziale Kompetenz, emotionale Intelligenz etc.)
- Energieressourcen (Geld, Bildung, soziale Netzwerke)

Diese Kategorien können sich gegenseitig bedingen, d.h., ein (langzeit-) arbeitsloser Mensch verliert nicht nur seinen Status bzw. die Anerkennung, die ihm durch die Teilhabe am Arbeitsleben zuteil wird, sondern ist auch mit Einschränkungen im Bereich der Energieressourcen (Einkommen, Dequalifizierung, soziale Isolation) sowie auf lange Sicht eventuell mit der möglichen Gefährdung seiner Wohnsituation konfrontiert.

Gleichzeitig verdeutlicht dieses Beispiel, dass eine Ressourcenanalyse immer ganzheitlich orientiert sein muss. Es müssen also sowohl individuelle als auch Umweltfaktoren berücksichtigt werden.

Auf dieser Grundlage greift ressourcenorientierte Beratung in Situationen ein, in denen Menschen Unterstützung suchen, weil sie

- ihre vorhanden Ressourcen ausbauen bzw. gezielter nutzen wollen
- weil sie unsicher sind, genügend Bewältigungsressourcen zur Verfügung zu haben
- weil sie von Verlust bedrohte Ressourcen erhalten möchten
- weil sie bereits Ressourcenverlust erlebt haben oder erleben

Auf die Soziale Arbeit bezogen geht es weniger um Ressourcenoptimierung (wie z.B. bei ökonomisch und psychosozial besser gestellten Menschen), sondern vielmehr darum, die wenigen vorhandenen Ressourcen von Klienten zu erhalten bzw. ihren Ressourcenpool zu erweitern. Frank Nestmann bringt dieses wie folgt auf den Punkt:

„Auch bei psychosozialen Beratungsanlässen sind die Konstellationen von Ressourcenbedrohung, befürchtetem oder faktischem Ressourcenverlust häufig – gerade im Beratungsalltag mit Menschen, die mehr auf der Risiko- und Verliererseite einer sich spaltenden Gesellschaft stehen.“ (Nestmann 2007d, S. 729)

Eine ressourcenorientierte Soziale Beratung verlangt von dem Berater, zunächst einmal die Stärken des Klientensystems ausführlich zu erfassen. Er ist somit aufgefordert, eine erhöhte Ressourcensensibilität zu entwickeln, die sich sowohl auf den Klienten als Individuum als auch auf dessen soziale, institutionelle und natürliche Umwelt bezieht. Hierzu kann sich der Berater u.a. folgender Instrumente bedienen: Er kann gemeinsam mit dem Klienten eine sogenannte Netzwerkkarte erstellen, die die vier Koordinaten Familie, Freunde / Bekannte / Nachbarn, Kollegen und Professionelle (z.B. in sozialen Einrichtungen Tätige) umfasst (vgl. Ansen 2009b, S. 141; Bullinger & Nowak 1998; Pantucek 2006, S. 141ff.). Daneben gibt es auch die Möglichkeit, mit einer Netzwerktabelle (vgl. Gehrmann & Müller 2007, S. 177ff.) oder aber der Personalliste nach Peter Pantucek zu arbeiten (vgl. Pantucek 2006, S. 134ff.).

Die ressourcenorientierte Diagnostik vernachlässigt nicht die Analyse bzw. Definition von vorhandenen Problemen, sie legt den Schwerpunkt nur eindeutig auf den positiven Bestand von persönlichen und Kontextressourcen und richtet zudem einen anderen Blick auf die bestehenden Defizite, d.h. auf die Frage, wo selbst in Risiken, Belastungen, Krisen und Verlusten noch Ressourcen entdeckt werden können, die bislang von den Betroffenen bzw. von ihrer Umwelt überhaupt noch nicht wahrgenommen wurden. Hierzu gehört auch, Krisen nicht nur als Risiken, sondern auch als wertvolle Erfahrungsmöglichkeiten zu definieren (vgl. Nestmann 2007d, S. 731).

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass es primäres praktisches Ziel von ressourcenorientierter Beratung im Rahmen Sozialer Arbeit ist, Verlustspiralen zu durchbrechen. Die gemeinsame Analyse von Ressourcen kann in diesem Zusammenhang bereits intervenierende Wirkung haben: Alleine die Erfassung persönlicher Stärken sowie ökologischer Ressourcen des Klienten (Netzwerke etc.) kann dazu führen, dass dieser sich seiner Entwicklungsmöglichkeiten bewusst bzw. ermutigt wird, Belastungen möglichst früh anzugehen, um weitere krisenhafte Zuspitzungen zu verhindern (vgl. Sickendiek, Engel & Nestmann 2002, S. 217).

Ebenso wie die anderen genannten Beratungskonzeptionen bietet der ressourcenorientierte Ansatz eine Reihe von Anknüpfungspunkten für die Soziale Arbeit (veränderter Blick auf Klienten, Abkehr von einer eher psychologisch geprägten Defizitorientierung, Schärfung professioneller Sensibilität für versteckte Ressourcen). Dennoch gibt es auch kritische Anmerkungen. Insbesondere die Aussage von Frank Nestmann, dass selbst schwerst gestörte Menschen über Restressourcen und –kräfte verfügen würden, an die es anzuknüpfen gelte, wird hinterfragt (vgl. Nestmann 2007c, S. 65 bzw. Nestmann 2007d, S. 731).

So findet sich in den Ausführungen Frank Nestmanns unserem Eindruck nach ein wesentlicher Widerspruch. Einerseits fordert er, dass selbst zutiefst beeinträchtigte Personen durch entsprechende professionelle Hilfe neue Kräfte und coping -Strategien mobilisieren könnten, andererseits betont er aber, dass sich Beratung schwerpunktmäßig mit Personen befasse, deren Probleme zwar vielfältig seien, aber in relativ normalen Dimensionen blieben, d.h. sich auf alltägliche psychosoziale Schwierigkeiten wie Erziehungsprobleme, Bildung, berufliche Entwicklung etc. konzentrieren würden (vgl. Nestmann 2007c, S. 65). Auf diese Problematik verweist auch Hermann Schmidt-Nohl, für den kritisch zu hinterfragen bleibt, „ob eine Ressourcenarbeit mit den sozial Schwächsten tatsächlich Erfolg verspricht, da diese meist kaum noch über Ressourcen [...] verfügen.“ (Schmidt-Nohl 2006, S. 23)

Hinzu kommt, dass Beratung laut Nestmann eigentlich auf relativ kurzfristige Interventionen angelegt sein müsse (vgl. Nestmann 2007c, S. 65), was sich in der Arbeit mit schwerst gestörten Individuen unserer Meinung nach oft nicht als ausreichend erweisen dürfte.

3.4 Life Model of Social Work Practice

Für die Gestaltung von Beratungsprozessen in der Sozialen Arbeit hat das Life Model von Germain und Gitterman insofern eine wichtige Bedeutung, als dass es sich eng an der ökologischen Perspektive von sozialen Problemen orientiert und dabei die permanente Interaktion von Individuum und Umwelt im Fokus hat.

Ökologisches Denken ist demnach dadurch geprägt, dass das Hauptaugenmerk nicht ein isoliert genommenes Merkmal eines Individuums oder der Umwelt ist, sondern die Beziehung zwischen diesen beiden. Germain und Gittermann bringen diese gegenseitige Bedingtheit zwischen Einzelperson und Umwelt wie folgt auf den Punkt:

„Wenn die Umwelt eines Menschen und ihre oder seine Bedürfnisse, Fähigkeiten, Rechte und Wünsche schlecht aufeinander abgestimmt sind, werden wahrscheinlich die Entwicklung der Person und das Zusammenwirken ihrer Funktionen behindert und die Umwelt geschädigt werden. Ist die Abstimmung gut, werden beide, die Person und ihre Umwelt, gedeihen.“ (Germain & Gitterman 1999, S. 9)

Weiter führen sie aus, dass bei einem ungünstigen Anpassungsverhältnis zwischen Person und Umwelt die Person allein oder mit Hilfestellung die Qualität der wechselseitigen Abstimmung verbessern könne, indem sie sich selbst oder aber die Umwelt verändere (vgl. Germain & Gitterman 1999, S. 10).

Die Grundlage für diesen Denkansatz liefert die Arbeit des Psychiaters Bernhard Bandler, der in seiner Praxis eng mit Sozialarbeitern kooperiert. Hierbei geht Bandler von der Annahme aus, dass wenn die Soziale Arbeit wirklich klientengerecht arbeiten wolle, sie sich „auf das Leben selbst“ ausrichten müsse, den individuellen Lebensverlauf mit seinen Wachstums-, Entwicklungs- und Alterungsprozessen sowie seinen Methoden der Problemlösung und Bedürfnisbefriedigung zu berücksichtigen habe. Auf dieser Grundlage stellt Bandler den Anspruch an Soziale Arbeit, die progressiven Kräfte von Menschen zu stärken und sie damit in die Lage zu versetzen, schwerwiegende Stressoren des Lebens wie z.B. Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalterfahrungen usw. besser bewältigen zu können (vgl. Germain & Gitterman 1999, S. 35).

Zu den wichtigsten Prinzipien des Life Models gehören u.a. eine professionelle (d.h. ethisch und rechtlich korrekte) Anwaltschaft für die Belange von Klienten, eine empowerment- orientierte Praxis, der Respekt vor Autonomie, Wissen und Können von Klienten, die partnerschaftliche Gestaltung der Klient – Sozialarbeiter - Beziehung (dialogische Diagnose, Kontrakt), eine ganzheitliche Betrachtungsweise und die Evaluation der Praxis zwecks Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse (vgl. Germain & Gitterman 1999, S. 36ff.).

Anhand der Prinzipien wird deutlich, dass sich das Konzept des Life Model sehr stark an den spezifischen Anforderungen der Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft ausrichtet. In diesem Zusammenhang fordern die Begründer von Sozialarbeitern ganz bestimmte professionelle Methoden und Fertigkeiten, die sich auch für die Praxis der Sozialen Arbeit als hilfreich erweisen können. Die Wichtigsten sollen daher kurz vorgestellt werden:

- befähigen, d.h. Schaffen einer Gesprächsatmosphäre, die es dem Klienten ermöglicht, sich so zu zeigen, wie er ist, und die ihn gleichzeitig dazu anregt, sich selbst in den Beratungsprozess einzubringen
- explorieren, d.h. Strukturieren und Gewichten der Klientenaussagen, Fragen nach verborgenem Sinn, Aufzeigen von Widersprüchen
- mobilisieren, d.h. Förderung der Motivation des Klienten durch Aufzeigen realistischer Zukunftseinschätzungen und Hoffnungen
- führen, d.h. z.B. Korrigieren subjektiver Fehleinschätzungen des Klienten
- erleichtern, d.h. Thematisieren von bzw. Konfrontieren mit Vermeidungsverhalten und Illusionen, um Klienten zum Handeln zu veranlassen

Darüber hinaus umfasst das Methodenrepertoire eines Beraters nach Germain & Gitterman auch umweltbezogene Aufgaben. Damit ist sowohl formelle als auch informelle Netzwerkarbeit gemeint, um die Einflussmöglichkeiten bzw. die Handlungsspielräume der Klienten zu erweitern (vgl. Germain & Gitterman 1999, S. 72ff. bzw. Germain & Gitterman 2008, S. 102ff.).

Mit ihrem Life Model und der damit verbundenen ökologischen Perspektive haben Germain & Gitterman den Blick geschärft für eine ganzheitlich orientierte Soziale Beratung. Das Hervorheben der wechselseitigen Bedingtheit zwischen Individuum und Umwelt erhöht die Sensibilität des Beraters für die Komplexität von sozialen Problemen. Eine Schwäche des Ansatzes liegt unserer Ansicht nach jedoch darin, dass die Begründer von therapeutischer Beratung durch Sozialarbeiter sprechen und damit das Konzept nicht eindeutig von psychologischen Ansätzen abgrenzen, wie folgendes Zitat aus der aktuellsten Auflage des Life Model von Germain und Gitterman belegt : “Social workers bring professional knowledge and skill to the therapeutic encounter.“ (Germain & Gitterman 2008, S. 94).

3.5 Alltagsnahe Konzepte Sozialer Beratung

3.5.1 Lebensweltorientierte Soziale Beratung

Neben den genannten Beratungsansätzen haben weitere in der Diskussion und Praxis der Sozialen Arbeit große Resonanz gefunden. Hierzu zählt auch die lebensweltorientierte Soziale Beratung von Hans Thiersch, auf die wir im Folgenden näher eingehen werden.

Dieses Beratungskonzept geht auf die gleichnamige Theorie einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit zurück, die Hans Thiersch in einem jahrzehntelangen Prozess entwickelt, ausgebaut und immer wieder verändert hat. Erste wichtige inhaltliche Fundamente legt er bereits 1976, als er ein Konzept für „sozialpädagogische Beratung“ im Zusammenhang mit der Kinder- und Jugendhilfe vorstellt, das er gemeinsam mit Anne Frommann und Dieter Schramm erarbeitet hat. Er tritt hierbei für eine Konzeption von sozialpädagogischer Beratung ein, die sich eng an Lebensverhältnissen und alltäglichen „Hilfsressourcen“ orientiert und sich eindeutig „gegen die Rigidität von Verwaltung, Sanktion, Professionalisierung und Psychologisierung“ wendet (vgl. Frommann, Schramm & Thiersch 1976, S. 721 bzw. 726).

Ausgangspunkt von Thiersch ist somit die Annahme, dass jede Art von sozialpädagogischen Interventionen (u.a. Beratung) bei den sozialen Strukturen, in denen Menschen leben, ansetzen soll. Anders ausgedrückt: Soziale Beratung muss immer an die Lebenswelt von Menschen anknüpfen, d.h. an die subjektiven Erfahrungen bzw. individuellen Lebensbezüge, die den Alltag von Menschen geprägt haben und prägen. Thiersch sieht hierin eine inhaltliche Verknüpfung mit dem zentralen Auftragskriterium der Sozialen Arbeit, nämlich dort anzufangen, wo Klienten stünden, immer in dem Feld zu agieren, in dem Adressaten Sozialer Arbeit lebten (vgl. Thiersch 2007, S. 707 bzw. Niemeyer 1998, S. 244), mit dem Ziel, Menschen dabei zu unterstützen, ihren Alltag als „gelingenderen“ zu erleben (vgl. Thiersch 2007, S. 707).

Diese neue Ausrichtung Sozialer Arbeit stellt für Thiersch einen wichtigen Perspektivwechsel dar. In der Praxis bedeutet dies die Abkehr von normativen und funktionalen Hilfskonzepten zugunsten individueller und lebensweltorientierter Unterstützungsangebote (vgl. Wahl 2009, S. 6).

Lebensweltorientierte Soziale Beratung steht somit immer vor der Herausforderung, eine Gemengelage von Problemen und Ressourcen bzw. von Belastungen und Stärken der Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt berücksichtigen zu müssen, wie das nachfolgende Zitat von Alfred Schütz und Thomas Luckmann, das gleichzeitig eine Art Definition des Begriffs Lebenswelt liefert, veranschaulicht:

„Die Lebenswelt ist der Inbegriff der Wirklichkeit, die erlebt, erfahren und erlitten wird. Sie ist aber auch die Wirklichkeit, in welcher - und an welcher - unser Tun scheitert. Vor allem für die Lebenswelt des Alltags gilt, dass wir in sie handelnd eingreifen und sie durch unser Tun verändern.“ (Schütz und Luckmann 1984, S. 11)

Das Zitat macht deutlich, dass die Lebensverhältnisse, von denen Menschen geprägt werden, immer auch aktiv durch sie mitgestaltet werden. Dies kann zum Teil problematisch bzw. risikobehaftet sein, gleichzeitig lassen sich aber immer auch Talente und Kompetenzen finden, die es aufzudecken und nutzbar zu machen gilt. Dabei tritt Thiersch dafür ein, dass lebensweltorientierte Soziale Beratung niemals invasiv vorgehen sollte, sondern der Kontakt zu den Menschen stattdessen stets geprägt sein sollte durch den Respekt vor ihrer Autonomie und ihrer Fähigkeit, mittels verschiedener Optionen ihren Alltag als gelingend zu erleben und sich als Subjekt ihrer Lebenspraxis zu fühlen (vgl. Thiersch 1997, S. 99).

Entscheidend ist für Thiersch, dass Menschen ihre Lebenswirklichkeit und ihre Handlungsmuster immer wieder neu unter dem Gesichtspunkt der Alltäglichkeit konstruieren. Nach Thiersch ist Alltag strukturiert durch folgende drei Faktoren:

- durch die erlebte Zeit
- durch den erlebten Raum
- durch die erlebten sozialen Beziehungen

Der Zeit-Bezug wird dadurch definiert, wie Menschen ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erleben, d.h., ob sie ihre Vergangenheit als Ansporn oder als Anlass zur Resignation, ob sie ihre Gegenwart als strukturiert oder eher chaotisch wahrnehmen und ob sie ihre Zukunft eher als attraktiv oder aber als perspektivlos einschätzen.

Ähnliches gilt nach Thiersch für die Einschätzung der räumlichen Gegebenheiten, d.h., wie bewerten Menschen ihre Wohnsituation, ihr Stadtviertel, den Grad der Verwurzelung an ihrem Lebensort: Erleben sie ihr Wohnumfeld z.B. als stimulierend oder eher als eintönig, bietet es ihnen Möglichkeiten bzw. Handlungsspielräume sowohl innerhalb als auch über seine Grenzen hinaus (Offenheit) oder fordert es kaum dazu auf bzw. hält wenig Chancen bereit, Perspektiven zu entwickeln, sich selbst zu verwirklichen und dabei auch einmal „über den Tellerrand hinauszuschauen“ (Geschlossenheit)?

Der dritte Bezugspunkt, die sozialen Beziehungen, hat neben dem Zeit- und Raumbezug eine wichtige Bedeutung für das individuelle Erleben von Alltag. So können Beziehungen, die ein Mensch pflegt, von ihm als selbstverständlich wahrgenommen werden und (unter-)stützende, d.h. im positiven Sinne herausfordernde, tragende Funktion haben. Doch nicht immer können Menschen von ihren sozialen Kontakten profitieren: So können Beziehungen aufgrund unterschiedlichster Konstellationen (z.B. Machtungleichgewicht zwischen den Beziehungspartnern) selbst zur Belastung für den Menschen werden (vgl. zu diesem Komplex Thiersch 2005, S. 50f. bzw. Thiersch 2002, S. 171ff.)

Alltag ist für Thiersch demnach gekennzeichnet durch die entlastende Funktion von Routinen, die einerseits Sicherheit vermitteln, zum anderen jedoch Unbeweglichkeit erzeugen (Tunnelblick) und somit einschränkend und behindernd wirken können (vgl. Thiersch 2002, S. 168).

Für die Soziale Beratung bedeutet dies seiner Ansicht nach, dass der Berater sich in der Lebenswelt der anderen auskennen und sich auch mit deren eigentümlichen, d.h. den eigenen Vorstellungen nicht unbedingt entsprechenden Lebensverhältnissen arrangieren müsse (vgl. Thiersch 1997, S. 105). Gleichzeitig bedeutet Beratung für ihn aber auch, durch gezielte Interventionen bzw. Irritationen problematische Alltagsroutinen, die sich für Klienten als Hemmnis erweisen, aufzubrechen, um damit Veränderungsprozesse einzuleiten. Thiersch propagiert demnach ein „Zusammenspiel von Zutrauen, Vorschlagen von Alternativen und Konfrontationen“ (Thiersch 2002, S. 165).

Um im Rahmen der lebensweltorientierten sozialen Beratung dazu beitragen zu können, die Gestaltungsräume von Menschen zu vergrößern, sind ihm gemäß vor allem folgende Prinzipien zu beachten bzw. Haltungen von Seiten des Beraters einzubringen: Zum einen soll der Berater im Beratungsprozess eine „entmoralisierende Nüchternheit“ an den Tag legen, d.h. – wie oben bereits an anderer Stelle erwähnt - die Lebenssituation von Klienten nicht ausschließlich auf der Grundlage eigener Wertvorstellungen betrachten und den Beratungsprozess danach gestalten. Ein solches Vorgehen, so Thiersch, könne nämlich letztendlich dazu führen, dass der Berater an den Bedürfnissen des Klienten vorbei agiere und diesen in der Konsequenz als Kommunikations- und Aushandlungspartner verliere. In diesem Zusammenhang wendet sich Thiersch auch eindeutig gegen eine einseitige Psychologisierung bzw. „Therapeutisierung“ von Beratung, denn diese könne dazu führen, dass lebenspraktische Fragen, die Klienten wichtig seien, ausgeblendet würden (vgl. Thiersch 1990, S. 137).

Wenn der Berater sich nicht genügend in die spezifische Lebenswelt des Klienten einfühlen könne bzw. mit dessen Problemen überfordert sei, müsse er den Mut haben, dieses offen einzugestehen und dürfe nicht auf Felder ausweichen, in denen er sich eventuell sicherer fühle, beispielsweise die psychologische Anschauungsweise, um seinen Expertenstatus zu wahren (vgl. Thiersch 1990, S. 135ff.).

Nur durch offenes, authentisches Auftreten des Beraters könne eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts entstehen, die maßgeblich für den Aufbau einer vertrauensvollen Beratungsbeziehung sei:

„Der alte Slogan, dass die [eigene, M. V. – M., M. H.] Person das Werkzeug des Pädagogen und Beraters sei, gewinnt in diesem Zusammenhang neue dramatische Bedeutung. Professionalität verlangt, dass BeraterInnen sich als Person in ihrer Situation akzeptieren und in Bezug auf ihre Beraterkompetenz reflektieren.“ (Thiersch 2007, S. 706)

Zum anderen tritt Thiersch dafür ein, dass die Evaluation von sozialen Beratungsprozessen immer aus verschiedenen Perspektiven erfolgen müsse. Formen professioneller und kollegialer Selbstkontrolle allein würden nicht genügen, um eine einseitige expertokratische Ausrichtung von Beratungsprozessen zu verhindern. Hierzu sei ebenso Kontrolle von außen, d.h. Mitbestimmung, Mitgestaltung und ggf. Einspruchsmöglichkeiten durch die Adressaten, erforderlich (vgl. Thiersch 2007, S. 707).

Das Beratungskonzept von Thiersch ist in Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit stark rezipiert worden. Dennoch gibt es einige Kritikpunkte, die nachfolgend kurz dargestellt werden sollen und teilweise auch von seinem Begründer selbst geteilt werden.

So hebt beispielsweise Wolfgang Wahl hervor, dass Thiersch keine präzisen Instrumente nennt, mit denen das Konzept der Lebensweltorientierung praktisch umgesetzt werden soll. Dadurch verliere es seine potenzielle Erklärungskraft. Lebensweltorientierung und Alltagsorientierung würden damit zu Allerweltsbegriffen (vgl. Wahl 2009, S. 10).

Diese begriffliche Unschärfe hat in der Vergangenheit oftmals dazu geführt und führt noch dazu, dass das Konzept der Lebensweltorientierung „benutzt“ wurde bzw. wird, um öffentliche Sparmaßnahmen im sozialen Bereich zu rechtfertigen. Thiersch selbst ist sich dieser Problematik durchaus bewusst und bis heute darum bemüht, sein Konzept nicht nur zu präzisieren, sondern auch zu radikalisieren, mit der Absicht zu verhindern, dass Maximen lebensweltorientierter sozialer Arbeit im Allgemeinen und Sozialer Beratung im Speziellen als „vielfältige Einfallstore missverstanden werden, Soziale Arbeit gesellschaftlich zu missbrauchen“ (Grunwald & Thiersch 2008, S. 26).

Daneben wird auch auf inhaltliche Widersprüche hingewiesen. Georg Cleppien betont z.B., dass Thiersch einerseits den Anspruch verfolgt, Klienten bei der Strukturierung ihres Alltags zu unterstützen, hierbei ihren Eigensinn zu respektieren, gleichzeitig aber vor der Borniertheit und Enge von Handlungsroutinen von Klienten warnt. Cleppien kritisiert, dass Thiersch in seinem Konzept nicht weiter ausführt, wie dieser Spagat von professioneller Seite praktisch bewältigt werden soll (vgl. Cleppien 2008, S. 81). Auch Harald Ansen weist auf das Spannungsverhältnis hin, das in Bezug auf das sozialpädagogische Ziel der Lebensweltorientierung der Sozialen Arbeit entstehe: Einerseits gelte es, Menschen in ihren konkreten Lebensbezügen anzuerkennen, andererseits komme es aber ebenso darauf an, durch Infragestellung von Alltagsroutinen Klienten dabei zu unterstützen, auf verborgene und übersehene Handlungsmöglichkeiten zurückzugreifen (vgl. Ansen 2006a, S. 32).

Trotz der genannten Widersprüche genießt das Konzept der lebensweltorientierten sozialen Beratung in der Fachwelt eine große Akzeptanz bzw. breite Anerkennung, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass es an das von Peter Lüssi propagierte „Natürlichkeitsprinzip“ Sozialer Arbeit anknüpft, d.h. sich an der alltäglichen Lebenspraxis von Klienten orientiert (vgl. Lüssi 2008, S. 276).

[...]


[1] Hier und im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit nur die männliche Form

verwendet. Es sind jedoch selbstverständlich immer beide Geschlechter gemeint.

Ende der Leseprobe aus 180 Seiten

Details

Titel
"Ich muss immer gucken, wo die Augen von Menschen funkeln"
Untertitel
Zur Methodenfrage in der Sozialen Beratung
Hochschule
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg  (Fakultät Wirtschaft & Soziales)
Note
1,0
Autoren
Jahr
2009
Seiten
180
Katalognummer
V161805
ISBN (eBook)
9783640758449
Dateigröße
829 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bei der Arbeit handelt es sich um die gemeinsame Diplomarbeit von Marret Vögler-Mallok &amp, Mathias Hörtnagel.
Schlagworte
Soziale Beratung, Methodenfrage, Methodik, Soziale Arbeit, Beratungspraxis
Arbeit zitieren
Marret Vögler-Mallok (Autor:in)Mathias Hörtnagel (Autor:in), 2009, "Ich muss immer gucken, wo die Augen von Menschen funkeln", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/161805

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