Eros und Gewalt in >Dantons Tod<


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2008

13 Seiten


Leseprobe


Eros und Gewalt in Dantons Tod

Von Christian Milz (Frankfurt a. M.)

In einem schmalen Œuvre von drei Dramen und einer Erzählung finden sich in Verbindung mit der Liebe: drei Selbstmorde, zwei Selbstmordversuche, ein potentieller Selbstmord, ein Mord sowie drei Wahnsinnige. Diese Bilanz stammt von Reinhold Grimm, der 1979 in seinem Aufsatz Cœur und Carreau[1] mit Bezug auf Dantons Tod weiter feststellt, »daß die Thematik der Liebe hier nicht minder beherrschend und wichtig ist als diejenige der Revolution«.[2] Grimm nennt im gleichen Atemzug die von ihm behauptete Gleichrangigkeit von Eros und politischem Diskurs »Ketzerei«, womit er sowohl auf die gelegentliche Überakzentuierung des Politisch-Sozialen in den Deutungen des Werks anspielt als auch auf das Sakrileg, diesen Diskurs nunmehr mit dem Erotischen zu vereinen. »Büchner war Erotiker und Revolutionär, war erotischer Revolutionär und revolutionärer Erotiker«[3] lautet das Fazit im Zeitgeist der 68er – an das diese Untersuchung anknüpft, allerdings aus der Distanz der Jahrzehnte mit einem etwas nüchterneren Blick auf den Diskurs von Eros und Gewalt.

Denn die Eingangsbilanz von Cœur und Carreau spricht wohl kaum für »die leibhafte Utopie, die konkrete Praxis erotischer Befreiung«[4] und die »soziale und sexuelle Umwälzung«,[5] sondern im Gegenteil für ein eher tragisches Verhältnis von Eros und Gewalt. Auch das sieht Reinhold Grimm durchaus, denn er konstatiert zutreffend die durch Büchner »bewußt und mit Absicht« hergestellte Einheit von »Wiege, Schoß und Grab«.[6] Allerdings steht dahinter weniger das Konzept einer »maßlosen Verherrlichung der Liebe«,[7] sondern vielmehr das eines Kreislaufs von Geburt und Tod. Prototypisch für die Fehlinterpretation Reinhold Grimms ist die lakonische Kategorisierung des ersten Selbstmordes in Dantons Tod als »Dummejungenstreich«.[8] In einem ähnlich oberflächlichen Tenor handelt Inge Rippmann den Suizid des enttäuschten Liebhabers in ihrem Artikel in dem Band Erotik und Sexualität im Vormärz[9] entgegen dem Titel Die ersäuften Liebhaber in einer Fußnote als »Kurzschlußreaktion«[10] ab. Eine adäquate Beachtung der Aussage des jungen Menschen

»er hätte fast einen dummen Streich gemacht, ich solle mein Kleid nur behalten und es brauchen, es würde sich schon von selbst abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit verderben, es wär doch das Einzige, was ich hätte.« (I,5)[11]

kurz nach dem gerade noch unterdrückten Tötungsimpuls gegen die untreue Geliebte kommt dagegen nicht an der Feststellung vorbei, dass der sich anschließende Selbstmord auf der kalkulierten Umkehrung der Sequenz von Zeugung, Geburt und Tod beruht.

Dem zugrunde liegenden Algorithmus gebührt einige Aufmerksamkeit, denn in ihm verbirgt sich der Quellcode des dramatischen Ablaufs in Dantons Tod. Der Tod des jungen Menschen, der, wie Grimm anführt, »lediglich mittelbar und zudem ausgesprochen stimmungshaft geschildert wird«,[12] manifestiert musterhaft die Dantonsche Programmatik der Identität von Schoß und Grab. Die feuchten Locken und die bleiche, mondbeschienene Stirn, die vorauslaufenden Kinder, der Korb, der unter dem Fenster vorbeigetragen wird, symbolisieren neugeborenes Leben. Danach erst folgt das: »er hatte sich ersäuft«, was bei einer Geliebten, die sich mit einem verschlingenden Meer vergleicht, unterschwellig transzendente Erfüllung suggeriert. Entsprechend der Gleichung Schoß = Grab bzw. deren Umkehrung Grab = Schoß symbolisiert das Ersäufen letztendlich die zeitenthobene Vereinigung des Liebhabers mit seiner Melusine in einer umfassenderen Dimension des Feuchten. Die Metaphorisierung von Julies Selbstmord gehorcht dem gleichen, hier noch deutlicher in Erscheinung tretenden Konzept. Der Tod wird mit dem kosmischen Bild des Laufs der Erde um die Sonne verglichen, und auch das Meersymbol begegnet dem Publikum in der »Fluth des Aethers« wieder. Die Analogie von Tod, Sonnenuntergang, Abend sowie Schlaf impliziert die von Wiedergeburt, Sonnenaufgang, Morgen und Erwachen:

»Die Sonne ist hinunter. Der Erde Züge waren so scharf in ihrem Licht, doch jezt ist ihr Gesicht so still und ernst wie einer Sterbenden. Wie schön das Abendlicht ihr um Stirn und Wangen spielt. Stets bleicher und bleicher wird sie, wie eine Leiche treibt sie abwärts in der Fluth des Aethers; will denn kein Arm sie bey den goldnen Locken fassen und aus dem Strom sie ziehen und sie begraben? Ich gehe leise. Ich küsse sie nicht, daß kein Hauch, kein Seufzer sie aus dem Schlummer wecke. Schlafe, schlafe.« (IV,6)

Der Algorithmus der exemplarischen Selbstvernichtung in der Marionszene stellt sich folgendermaßen dar: Marions Liebhaber steuert die Richtung seines Affekts, indem er dessen ursprüngliches Ziel, die physische Schädigung des Lustobjektes, einer allgemeineren Instanz, der Vergänglichkeit, also der Zeit anheimstellt. Das Umsteuern auf dem Höhepunkt des Affektes kommt einer momentanen Außerkraftsetzung von naturgesetzlichen Abläufen gleich,[13] des Weiteren aber wird die emotionale Qualität der Beziehung des jungen Menschen zu seiner Geliebten durch die Selbstvernichtung – im Gegensatz zu dem am Liebesobjekt ausagierten Tötungsaffekt – bewahrt bzw. intensiviert und veredelt. Das unbefriedigte Begehren sucht sich eine sublime Kompensation, so wie ein Werther seine unerreichbare Lotte durch die suizidale Vereinigung mit dem jenseitigen mütterlichen Urbild der Geliebten ersetzt.[14] Der Mechanismus von Sterben und Geburt bzw. Wiedergeburt, auf den nicht nur wiederholt in den sprachlichen Bildern des Revolutionsdramas,[15] sondern auch in Lenas »Auf dem Kirchhof will ich liegen wie ein Kindlein in der Wiegen« (I,4)[16] angespielt wird, erschöpft sich indes nicht im wirkungsvollen poetischen Bild, sondern, das ist das Erstaunliche, schwingt zurück auf die Auslöserin. Ihr Wesen erfährt einen Bruch – mit einer bedeutsamen Konsequenz. Marion, die zwischen zwei Bettüchern mehr Vergnügen findet als bei einer Unterhaltung, erzählt. Der Autor weist ausdrücklich auf die Tatsache hin, dass dieses Erzählen in Opposition zu Marions sonstigem Verhalten, also zur physischen Erotik, zu verstehen ist, denn zweimal widersetzt sie sich mit ihrem »Nein, laß mich!« Dantons handfesteren Wünschen. Seine Bemerkung: »Du könntest deine Lippen besser gebrauchen«, geht ins Leere, und Inge Rippmann ist zuzustimmen, wenn sie den »hohen Reflexionsgrad« von Marions Introspektion registriert.[17] Die Venus mit dem schönen Hintern inkarniert sich als platonische Diotima; sie praktiziert als Dozentin der Liebe für einen Moment tatsächlich die von Reinhold Grimm beschworene Einheit des Eros in der Zusammengehörigkeit von Sensualismus und Spiritualismus.[18] Das ursprüngliche Anliegen dieses seit alters bekannten ambivalenten Diskurses, der für Büchner als bekannt vorausgesetzt werden darf, ist indes nicht die »konkrete Praxis erotischer Befreiung«,[19] was auch immer das sei, sondern ein metaphysisches. »Die Geschichte des Nachlebens der platonischen Theorie des Eros reicht von Platons eigener Zeit bis in die unsrige hinein und erstreckt sich zum Guten und zum Schlechten über alle Bereiche der abendländischen Kultur«,[20] konstatiert Glenn W. Most, und Jürgen Schwann bekräftigt die Gültigkeit dieser Feststellung in Bezug auf Georg Büchner:

[...]


[1] Reinhold Grimm: Cœur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner. In: GB I/II, S. 299–326. Grimms Zusammenstellung wurde um den potentiellen Selbstmord von Danton »ich liebe dich wie das Grab« (I,1), »Ich kokettire mit dem Tod« (II,4) usw. und Lenz’ Selbstmordversuch ergänzt.

[2] Ebd., S. 304.

[3] Ebd., S. 318.

[4] Ebd., S. 312.

[5] Ebd., S. 313.

[6] Ebd., S. 304.

[7] Ebd., S. 306.

[8] Ebd., S. 311.

[9] Inge Rippmann: Die ersäuften Liebhaber. Zu einem Motiv zweier Werke aus dem Jahre 1835. In: Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch 1999. »Emanzipation des Fleisches«. Erotik und Sexualität im Vormärz. Bielefeld 1999, S. 37–65.

[10] Ebd., S. 57, Anm. 46.

[11] Georg Büchner: Danton’s Tod. MBA 3.2. Darmstadt 2000, S. 19.

[12] Grimm (s. Anm. 1), S. 308.

[13] Der Selbstmord an sich ist selbstverständlich eine natürlich und kulturell vorgeprägte, in bestimmten Krisensituationen durchaus übliche Verhaltensmöglichkeit. Nicht aber der Verzicht auf den aggressiven Impuls zugunsten einer rationalen, höchst komplexen Überlegung; ein bei Büchner umso bedeutenderer Vorgang, als der Dichter in allen seinen Werken eben der affektiven Seite des Menschen, paradigmatisch »den Leibern« in Marions Erzählung, das gebührende Gewicht zukommen lässt.

[14] Wörtlich: »Ich träume nicht, ich wähne nicht! Nahe am Grabe wird es mir heller. Wir werden sein! Wir werden uns wieder sehen! Deine Mutter sehen! Ich werde sie sehen, werde sie finden, ach, und vor ihr mein ganzes Herz ausschütten!« J. W. Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Hamburger Ausgabe. Bd. 6. München 1989, S. 117. Bereits Lotte selbst trägt durch die Kinderschar starke mütterliche Züge: »[…] fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern […]« (ebd., S. 30); »[…] wie sie […] eine wahre Mutter geworden […]« (ebd., S. 44).

[15] I,1: »Danton. Wenn das ist, lieg’ ich in deinem Schooß schon unter der Erde«; ebd.: »Philippeau. Wie lange sollen wir noch schmutzig und blutig seyn wie neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben […]«; II,1 »Danton. Sterbende werden oft kindisch.« IV,3: »Danton. Der Tod äfft die Geburt, beym Sterben sind wir so hülflos und nackt, wie neugeborne Kinder. Freilich, wir bekommen das Leichentuch zur Windel.« IV,9: »Lucile. [...] Du liebe Wiege, die du meinen Camill in Schlaf gelullt, ihn unter deinen Rosen erstickt hast.«

[16] Georg Büchner: Leonce und Lena. MBA 6. Darmstadt 2003.

[17] Rippmann (s. Anm. 9), S. 59.

[18] Grimm (s. Anm. 1), S. 315.

[19] Ebd., S. 312.

[20] Glenn W. Most: Sechs Bemerkungen zum platonischen Eros. In: Christian Begemann / David E. Wellbery: Kunst, Zeugung, Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg im Breisgau 2002, S. 37–49, hier S. 49.

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Details

Titel
Eros und Gewalt in >Dantons Tod<
Autor
Jahr
2008
Seiten
13
Katalognummer
V162127
ISBN (eBook)
9783640785025
ISBN (Buch)
9783640784714
Dateigröße
464 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erstveröffentlichung im Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005-2008)
Schlagworte
Eros, Gewalt, Tod<
Arbeit zitieren
Christian Milz (Autor:in), 2008, Eros und Gewalt in >Dantons Tod<, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162127

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