Kurt Tucholskys Art mit verstecktem Symbolismus zu spielen ist faszinierend und ernüchternd zugleich - in seinem Poem fokusiert er auf die Augen des Einzelnen und der Masse als Organ der Wahrnehmung - sie stehen quasi als pars pro toto für den «Menschen», bzw. die Menschheit selbst. Die scheinbar willkürlich gewählte äussere Form ist typisch für den Expressionismus, da die Autoren dieser Epoche sich nicht an strikte formale Vorgaben hielten. Weitere Merkmale des Expressionismus sind das Großstadtmotiv, der Lärm, die Verschmutzung und die Anonymität in der Stadt, die generelle Orientierungslosigkeit, der Verlust des Individuums, das Unsicherheitsgefühl nach dem ersten Weltkrieg sowie auch der einzelne Mensch für sich, der auf seine Arbeit und auf seine Funktionalität in der grossen anonymen Masse reduziert erscheint. Der Mensch und seine Grundbedürfnisse scheinen verloren gegangen zu sein, was zwangsläufig in eine innerliche Vereinsamung führt.
Klingt in der ersten Strophe eine unterschwellige erotische Komponente mit, die auf die Liebe auf den ersten Blick hofft («vielleicht dein Lebensglück»), werden wir ab der zweiten Strophe mit der brutalen Vergänglichkeit des Lebens konfrontiert, dem Lebensweg, der einmal beschritten, unwiderruflich in den Tod führt und der Ohnmacht, dies nicht ändern zu können («kein Mensch dreht die Zeit zurück»). Schlussendlich bleibt die Begegnung mit einem, bzw. den fremden Anderen immer ein Risiko, aber auch eine Angst überwindende Herausforderung, denn wir alle sind letztendlich Teil des grossen Ganzen («von der grossen Menschheit ein Stück!») – pars pro toto – der Titel der den Beginn der lyrischen Geschichte einleitet wird auch zum Schlußstrich des Poems und die Augen zu Zeitzeugen des Lebens.
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- Petra Vincke-Koroschetz (Author), 2024, Kurt Tucholskys "Augen in der Großstadt". Eine Hymne an die Augen als Sitz der Seele (1930), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1623274