Das Hohelied als Verdichtung des Offenbarungsgeschehens in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2000

13 Pages, Note: sehr gut


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Der Mensch und Philosoph Franz Rosenzweig

3. Das Offenbarungsgeschehen

4. Das Hohe Lied als Verdichtung des Offenbarungsgeschehens

5. Nachlese

6. Literatur

1. Einleitung

Der Stern der Erlösung ist auf vielfältige Weise triadisch aufgebaut. Formal ist das Werk in drei Teile geteilt, von denen jeder aus einer Einleitung und drei Kapiteln besteht. Der erste Teil setzt sich zusammen aus Abhandlungen über die drei Grundrealitäten Gott, Welt und Mensch. Deren Beziehung zueinander wird im zweiten Teil bedeutsam und der dritte Teil schließlich handelt von ihrer endgültigen Form: Feuer, Strahlen und Stern. Dieser Unterteilung des Stern entspricht die Einteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei steht das zweite Buch des zweiten Teils sowohl strukturell als auch philosophisch in der Mitte des Stern.[1] Die gegenwärtige Offenbarung wird hier im Anschluß an die vergangene Schöpfung und vor der zukünftigen Erlösung betrachtet. Analog dazu erscheint die Sprache nach Rosenzweig in den drei Modalitäten Zeichensystem, Wort und Rede der Gemeinschaft.[2] Bei allem dreiheitlichen Aufbau wird aber - insbesondere im zweiten Buch des zweiten Teils - die Bedeutung der Bipolarität und Asymmetrie der Beziehungen zwischen den drei Elementen Gott, Welt und Mensch betont[3] und am Verhältnis von Liebendem und Geliebter beispielhaft verdeutlicht.

Die Auslegung des Hohen Liedes im zweiten Buch den zweiten Teils kann von daher als “Mitte und Drehpunkt des Stern der Erlösung, ... Offenbarung in Reinform”[4] betrachtet werden. Ich möchte mich dieser Mitte des Stern darum gleichsam zwiebelartig von außen annähern, indem ich zunächst einige Daten zu Rosenzweigs Leben und Schaffen ausführe, die ich für in diesem Zusammenhang aussagekräftig erachte. Aus seiner Biographie heraus werde ich dann zu Rosenzweigs Auseinandersetzung mit dem Idealismus und dem Begriff der Offenbarung überleiten und schließlich das zweite Buch des zweiten Teils des Stern, überschrieben Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele, näher betrachten - insbesondere “das Herzstück dieses Teils, ... die existentielle Erfahrung des liebend Gerufenseins durch Gott”[5] im Offenbarungsgeschehen, das wiederum im Hohen Lied verdichtet[6] ist. Rosenzweigs Ausführungen über die Kunst und seine Seitenhiebe auf den Islam, die einige Seiten im zweiten Buch des zweiten Teils füllen, werde ich dabei nicht berücksichtigen können und wollen, sondern mich nur auf einzelne Aussagen Rosenzweigs konzentrieren, die ich für das Verständnis des Kernstücks des Stern, also das Hohe Lied als Verdichtung des Offenbarungsgeschehens, für unmittelbar aussagekräftig erachte.

2. Der Mensch und Philosoph Franz Rosenzweig

Franz Rosenzweig wurde am 25. Dezember 1886 als einziges Kind einer etablierten bürgerlichen Familie in Kassel geboren. Die Mutter, Adele, geborene Alsberg, war “offen für alles Künstlerische, war Seele und gesellschaftlicher Mittelpunkt des gastfreien Hauses.”[7] Der Vater, Georg, war als Fabrikant und Kaufmann “erfolgreich und angesehen in Beruf und Öffentlichkeit.”[8] Die jüdische Kultur war in Rosenzweigs weitgehend assimiliertem Elternhaus fast völlig in Vergessenheit geraten. Nach dem Besuch des Friedrich-Gymnasiums in Kassel begann Rosenzweig, Medizin zu studieren. Im Wintersemester 1907/08 wandte er sich jedoch dem Studium von Geschichte und Philosophie zu. Als Student fühlte er sich stark von der christlichen, insbesondere der protestantischen Kirche, angezogen. Im Juli 1913 entschied er sich, zum Christentum überzutreten. Um jedoch “bewußt über das Judentum und nicht aus dem Heidentum ins Christentum zu kommen,”[9] widmete er sich in den folgenden Monaten intensiv dem Studium der jüdischen Überlieferungen. Im Oktober stand für ihn fest, daß er seinen Entschluß vom Juli nicht verwirklichen konnte. Er entschied sich statt dessen für eine gläubige Rückkehr zum Judentum. Der Stern der Erlösung ist das Hauptwerk dieser Lebensphase.[10] Im September 1914 wurde Rosenzweig einberufen. Er nutzte die Zeit als Soldat zum Lesen und Lernen. Der Stern der Erlösung entstand gegen Kriegsende während des Rückzugs von der Balkanfront in der Zeit zwischen dem 22. August 1918 und dem 16. Februar 1919 als Abschluß von Rosenzweigs theoretisch-jüdischer Epoche.[11]

“Die Wende vom Neuheidentum zum Judentum fiel bei Rosenzweig zeitlich zusammen mit der Wende vom Historiker zum Philosophen.”[12] Nicht nur die Art und Weise seines Denkens änderte sich, sondern auch die Inhalte. “Nicht mehr von jedem beliebigen Punkt aus wollte er die Entwicklung der Ideen betrachten, sondern von einem festen Standpunkt aus, die Vielfalt des Lebens erfassen. Erkennen war ihm nicht mehr Selbstzweck; nicht von Wissenschaftlern, sondern von Menschen wußte er sich jetzt befragt, und diesen Fragen standzuhalten, galt ihm als die wichtigste Aufgabe.”[13] Auf dem Weg zu dieser neuen Auffassung von Philosophie ließ er sich einerseits beeinflussen von Schelling und Kierkegaard, bei denen die christliche Offenbarung im Zentrum des Denkens stand, und andererseits von Philosophen wie Feuerbach, Schopenhauer und Nietzsche, die das Christentum bekämpften. So verschieden diese Philosophen, inhaltlich gesehen, auch waren, einte sie doch der Ansatz, von einem subjektiven Standpunkt aus die Welt zu betrachten. Damit wandten sie sich gegen die “berufsmäßige Unpersönlichkeit” des idealistischen Philosophen. Im Gegensatz dazu waren sie “Standpunktphilosophen, ihre Philosophie entsprechend Weltanschauung.”[14]

In verschiedener Hinsicht prägend für das Leben und Denken Rosenzweigs war der Rechtshistoriker und Soziologe Eugen Rosenstock. Der Lehrer und Freund Rosenzweigs war getaufter Jude und hatte Rosenstock 1913 zum Übertritt zum Christentum geraten. Trotz zahlreicher Differenzen, gab es grundlegende Übereinstimmungen im Denken der beiden. “In negativer Hinsicht waren sie untereinander einig, daß die idealistische Philosophie mit ihrer Methode der Erkenntnis der Einen Wahrheit mit Hegels System an ihr Ende gekommen sei; im Positiven, daß an ihrer Stelle ein neues Denken anzusetzen habe, das vermittels vieler Methoden der unendlichen Fülle des Lebens gerecht werden und das Menschsein der Menschen erfassen soll.”[15] Sie erarbeiteten eine Lebens- oder Existenzphilosophie, die anstelle des zeitlosen und einsamen Ich den lebendigen Menschen in seiner Zeitlichkeit und Abhängigkeit vom Gegenüber ins Zentrum stellt und nannten dies “Sprachdenken,” da es “wie alles Sprechen nur in der Ich-Du-Korrelation möglich ist.”[16]

Der Offenbarung bietet in diesem Denken den Standpunkt, von dem aus die Vielfalt erfaßt wird. Rosenstock definierte die Offenbarung von daher als Orientierung. “(V)on ihr aus ergeben sich Festpunkte: was oben und was unten im Raum, was früher und was später in der Zeit.”[17] Von dieser Definition ausgehend fragte Rosenzweig weiter, “ob und wie man rein philosophisch oder auch nur überhaupt an irgend welchen aufzeigbaren Kriterien die Offenbarung von aller eigenmenschlichen Erkenntnis abgrenzen könnte.”[18] Durch die Entdeckung des Menschen als Partner im Offenbarungsgeschehen gelingt es Rosenzweig schließlich, den vergegenständlichten Menschen des Idealismus zu überwinden und den wirklichen Menschen, den Menschen als Ich, zu befreien.[19] Dieses dialogische Geschehen der Offenbarung, wie Rosenzweig es im zweiten Buch des zweiten Teils des Stern beschreibt, werde ich im folgenden von seiner Auslegung des Hohen Liedes aus, betrachten.

3. Das Offenbarungsgeschehen

Den Übergang aus der Schöpfung in die Offenbarung, der gleichzeitig ein Übergang aus der Vergangenheit in die Gegenwart ist, kennzeichnet Rosenzweig bewußt mit den Worten des Hohen Liedes: “Stark wie der Tod ist die Liebe.” (174 und 225-226) “Soweit der Tod den Endpunkt der Schöpfung darstellt, ist er ein Ende; soweit jedoch die Erfahrung seines sterblichen Wesens den Menschen dazu treibt, seine eigene Endlichkeit zu transzendieren, also aus der Naturordnung herauszutreten, leitet sie eine neue Seinsweise ein.”[20] Rosenzweig nennt diese transzendierende Bewegung, dieses über die Grenzen hinausgehen, diese Öffnung zum Anderen hin, Liebe. Und zur Liebe gehören mindestens zwei: ein Liebender und eine Geliebte. Im Augenblick der Offenbarung tritt Gott in eine liebende Beziehung zum Menschen. Diese Beziehung Gottes zum Menschen wird im Gleichnis der Liebe zwischen Mann und Frau im Hohen Lied dargestellt, wobei Rosenzweig betont, daß das Verhältnis Gottes zum Menschen “unmittelbar und nicht ‘bloß’ gleichnisweise” dem Verhältnis von Liebendem zu Geliebter entspricht. Er macht keinen Unterschied zwischen der Liebe Gottes und der des Menschen. “Der Mensch liebt, weil und wie Gott liebt.”(222)

Da die Liebe vom Sprechen lebt, kann sie nach Rosenzweig gar nicht “rein menschlich” sein. “Indem sie spricht - und sie muß sprechen, denn es gibt gar kein anderes aus sich selber heraussprechen als die Sprache der Liebe - indem sie also spricht, wird sie schon ein Übermenschliches; denn die Sinnlichkeit des Worts ist randvoll von seinem göttlichen Übersinn; die Liebe ist, wie die Sprache selbst, sinnlich-übersinnlich.” (224) Wie bei der Liebe macht Rosenzweig keinen Unterschied zwischen der Sprache Gottes und der des Menschen. “(D)as Wort Gottes und das Wort des Menschen sind das gleiche. Was der Mensch in seinem Herzen als seine eigene Menschensprache vernimmt, ist das Wort, das aus Gottes Munde kommt.” (167-168) Damit Gott sich dem Menschen nun liebend offenbaren kann, muß er in Dialog mit ihm treten. Mit Bezug auf die ersten Kapitel der Genesis beschreibt Rosenzweig den Übergang von Gottes verborgenem Ich zu seinem offenbaren denn auch als eine Unterbrechung des Schöpfungsmonologs. Indem Gott sein “Lasset uns” der Schöpfung verläßt und mit der Frage nach dem Du aus sich heraus tritt, geschieht Offenbarung. In dem damit eröffneten Dialog “(geht) es nicht um ein Thema oder eine Sache ..., sondern um die Begegnung zwischen Gott als dem Liebenden und dem Menschen als der geliebten Seele.”[21]

[...]


[1] vgl. Miller 1989, 57-58

[2] vgl. Mosès 1985, 94

[3] vgl. ebd., 84-86

[4] Hufnagel 1994, 40-41

[5] Schmied-Kowarzik 1991, 182

[6] “Verdichtet” kann in diesem Zusammenhang sowohl im Sinne von “poetisch formuliert” als auch im Sinne von “komprimiert und prägnant dargestellt” gelesen werden.

[7] Mayer 1973, 9

[8] ebd.

[9] ebd., 22

[10] vgl. ebd., 19

[11] vgl. ebd., 26

[12] ebd., 24

[13] ebd.

[14] ebd., 26

[15] ebd., 39

[16] ebd.

[17] ebd., 40

[18] So in einem Brief an Eugen Rosenstock vom 8. Juni 1916. Zitiert nach Mayer 1973, 47

[19] vgl. Mayer 1973, 48-49

[20] Mosès 1985, 83

[21] Bauer 1988, 903

Fin de l'extrait de 13 pages

Résumé des informations

Titre
Das Hohelied als Verdichtung des Offenbarungsgeschehens in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung
Université
University of Frankfurt (Main)  (Vergleichende Religionswissenschaft und Religionsgeschichte)
Cours
Rosenzweigs Stern der Erlösung und seine jüdischen Quellen
Note
sehr gut
Auteur
Année
2000
Pages
13
N° de catalogue
V16271
ISBN (ebook)
9783638211673
Taille d'un fichier
389 KB
Langue
allemand
Mots clés
Hohelied, Verdichtung, Offenbarungsgeschehens, Franz, Rosenzweigs, Stern, Erlösung, Rosenzweigs, Stern, Erlösung, Quellen
Citation du texte
Ramona Lenz (Auteur), 2000, Das Hohelied als Verdichtung des Offenbarungsgeschehens in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16271

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