Nach wie vor ist der Neorealismus eine der populärsten strukturellen Theorien zur Erklärung von internationaler Politik und Krieg. Seit dem ersten Erscheinen der Theorie in den 1940er Jahren wurde der Realismus kontinuierlich verbessert und ausgefeilt. Heute sehen wir im Neorealismus eine Theorie, die den Anspruch erhebt, aufgrund grundlegender Kernannahmen (Anarchie, Staat als einheitlicher rationaler Akteur, Sicherheitsstreben/-Dilemma, Streben nach Macht/Hegemonie, Informationsmangel, Bildung von Allianzen) und deren Dauerhaftigkeit, Staatsverhalten im Konfliktfall erklären und vorhersagen zu können. Aufgrund der Behauptung, dass diese Kernannahmen ein dauerhafter Zustand und verantwortlich für das Staatsverhalten sind, liegt dem Neorealismus eine gewisse Zeitlosigkeit und „Oberflächigkeit“ zugrunde. Das bedeutet, dass es im Neorealismus nicht darum geht, Kriege aus epochalen und individuellen, eben historischen Gegebenheiten und Details zu erklären, sondern aus strukturellen, de facto „natürlich bedingten“ Gegebenheiten. Demzufolge entstehen Kriege gemäß dem Prinzip, dass Staaten sich in einer bestimmten Situation gar nicht anders verhalten können. Das Internationale System erlaubt schlicht kein anderes Verhalten. Neorealisten begründen und demonstrieren diese Zeitlosigkeit gerne anhand historischer Beispiele. Sie zeigen, dass Großmächte, die sich durch ihr Streben nach Macht und Sicherheit zum Hegemon im System ausbildeten, notwendig am „balancing“ anderer Staaten, d.h. am System und damit immer auf dieselbe Weise scheiterten.
Historiker müssen hier den Einwand einbringen, dass Geschichte dadurch einen zyklischen Charakter erhält. Geschichte wirkt dadurch so „vereinfacht“, als ob sie sich mit dem Aufstieg und Fall der Großmächte stets wiederholen würde und bloß die Akteure ausgetauscht werden. Geschichte jedoch – und genau das will die Geschichtswissenschaft demonstrieren – ist kein zyklischer Prozess. Obwohl es phänotypische Ähnlichkeiten in der Weltgeschichte bestimmt gibt, so ist es doch unser Ziel, aufzuzeigen, dass jede Aktion, jeder Konflikt und damit jeder Krieg einzigartig in seiner Entstehung ist. Wenn im Folgenden also versuchen möchte, den Neorealismus genauer auf seinen Wahrheitsgehalt anhand konkreter Beispiele zu analysieren, so tue ich das nicht nur mit dem typischen Ruf der Historiker nach mehr Detailtreue, sondern gerade weil ich glaube, grundlegende Schwachstellen in einigen Kernannahmen des Neorealismus entdeckt zu haben.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Europa 1800-1813
- Staaten als rationale Akteure mit einheitlichem Interesse
- Das Sicherheitsdilemma
- Relativer Gewinn von Sicherheit und Macht
- Das Informationsproblem
- „balancing“ und „bandwaggoning“ im Napoleonischen Zeitalter
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit einer kritischen Betrachtung des Neorealismus im Kontext des Napoleonischen Zeitalters. Ziel ist es, die Gültigkeit neorealistischer Kernannahmen anhand historischer Beispiele zu untersuchen und deren Grenzen aufzuzeigen.
- Kritik am Neorealismus anhand des Napoleonischen Zeitalters
- Analyse des Sicherheitsdilemmas und seiner Relevanz für die Kriegsentstehung
- Die Rolle von „balancing“ und „bandwaggoning“ in der europäischen Politik
- Bedeutung der inneren Strukturen von Staaten für das internationale System
- Vergleich von neorealistischen Annahmen und historischen Ereignissen
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Arbeit stellt den Neorealismus als eine der einflussreichsten Theorien zur Erklärung internationaler Politik vor und erläutert die Kernannahmen der Theorie.
- Europa 1800-1813: Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die politische und militärische Situation Europas zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
- Staaten als rationale Akteure mit einheitlichem Interesse: Dieses Kapitel untersucht die Annahme des Neorealismus, dass Staaten rationale Akteure mit einheitlichen nationalen Interessen sind und diese Annahme im Kontext des Napoleonischen Zeitalters kritisiert.
- Das Sicherheitsdilemma: Dieses Kapitel analysiert das Konzept des Sicherheitsdilemmas und untersucht, ob es tatsächlich die Kriegsentstehung im Napoleonischen Zeitalter erklärt.
- „balancing“ und „bandwaggoning“ im Napoleonischen Zeitalter: Dieses Kapitel untersucht die Rolle von „balancing“ und „bandwaggoning“ in der europäischen Politik im Kontext des Napoleonischen Zeitalters und beurteilt deren Bedeutung für das internationale System.
Schlüsselwörter
Neorealismus, internationales System, Anarchie, rationale Akteure, Sicherheitsdilemma, „balancing“, „bandwaggoning“, Napoleonisches Zeitalter, Geschichte, Krieg, Macht, Hegemonie, nationale Interessen, Informationsmangel.
- Citation du texte
- Tim Altpeter (Auteur), 2009, Neorealismus und Napoleon, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/163795