Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Das Verhalten des Grafen F
2.1 Zitadelle
2.2 Heiratsantrag
2.3 Schwan Thinka
III. Das Verhalten der Marquise von O
3.1 Psychische Krise
3.2 Unwissentliche Empfängnis
3.3 List der Mutter
3.4 Enttäuschung
IV.hlussbetrachtung
V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
“Die Marquise von O ” ist zum ersten Mal 1808 in Dresden im zweiten Heft des Phöbus abgedruckt worden.1 Diese Erzählung, aber auch alle anderen Texte Kleists sind schon zu Lebzeiten Kleists stark kritisiert worden und hatten eine Schock-erregende Wirkung. Sie stellten ein “Skandalon für die Zeitgenossen”2 dar. Neumann behauptet weiter, dass sie es auch über die Jahrhunderte geblieben sind.
In der Novelle behandelt Kleist die drei großen Themen des beginnenden 19. Jahrhunderts, und zwar Familie, menschliche Aggression und brüchig gewordene Moralinstanzen. Dabei verknüpft er sie mit Sexualität, sozialen Rollenkonzepten und menschlichem Trieb.3 Die zentralen Hauptpersonen in der Erzählung sind zum einen die Frau Marquise von O und der Graf F… . Was zwischen Marquise und Grafen geschehen sein könnte, wird auf unterschiedliche Weise interpretiert. Die Auslegungen reichen von Vergewaltigung bis zu aktiven Verführung des Grafen durch die Marquise.4 Beispielsweise negieren einige Kritiker, die von Dorrit Cohns Lektüre inspiriert wurden, dass sich die Novelle thematisch mit einer Vergewaltigung beschäftigt.5 Sie gehen vielmehr von einem bewusst verdrängten Sexualakt auf Seiten der Marquise aus, den sie als “erotic happening”6 bezeichnen.
Diese Hausarbeit wird ihr Augenmerk auf die zwei Hauptpersonen legen. Es sollen anhand der Primär- und einiger ausgewählter Sekundärliteratur Hinweise gefunden werden, die die Erzählung eindeutig als eine Vergewaltigungslektüre lesen lassen.
Im ersten Schritt werden wir daher auf den Grafen F… eingehen. Anhand der Zitadellen-Szene, der Erzählsequenz des Heiratsantrags und der Traumerzählung über den Schwan Thinka sollen Hinweise gefunden werden, die den Grafen F… nicht nur als Vater, sondern auch als Vergewaltiger entlarven. Dabei gehen wir von vornherein davon aus, dass eine Vergewaltigung vorliegt. Diese Vermutung soll verifiziert werden. Im nächsten Schritt folgt eine nähere Betrachtung der Marquise. An ihrer Person wollen wir nochmals zeigen, dass es sich um keinen verdrängten Geschlechtsakt handelt, sondern um eine Vergewaltigung, aktiv vom Grafen F… an der passiven Marquise von O begangen. Dabei soll auf die Psyche der Marquise, auf die List der Mutter, auf die Empfängnis im Schlaf und schließlich noch auf die Reaktion der Marquise in der Schlussszene eingegangen werden. Als Abschluss erfolgt eine kurze Schlussbetrachtung.
II. Das Verhalten des Grafen F...
2.1 Zitadelle
“ein russischer Officier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wüthenden Hieben zerstreute. […] stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, … mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte” (11).7
Ausdruck und Zeichen weiblicher Versehrtheit ist das blutende Geschlecht, wie beispielsweise beim Verlust der Jungfräulichkeit, bei der Menstruation oder bei der Geburt eines Kindes.8 Kleist, der die Schilderung der Vergewaltigung ausgespart hat, deutet sie nur im Degenstoß gegen einen der “viehischen” (11) Verfolger an.9
Dieser Szene folgend kommt die Szene mit dem Gedankenstrich. “Hier -- traf er” (11). Er ist der narrative Ort der Entstehung der Schwangerschaft bzw. der Verwundung der Marquise durch den Grafen.10 Eine syntaktische Funktion hat der Gedankenstrich jedoch nicht.11 Wir wissen nicht, ob der Erzähler durch den Gedankenstrich die Vergewaltigung wortlos sichtbar macht oder die Sicht der Marquise wiedergibt.12
Neben dem Degenstoß sollen auch die nachfolgenden Hinweise im Text beweisen, dass die Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung ist und nicht die Folge eines verdrängten Geschlechtsakts seitens der Marquise.
Auf den Gedankenstrich folgt das Verb “traf” (11). In einer älteren Bedeutung, die dem Bereich der Waffen entlehnt ist, heißt ‘treffen’ auch geschlechtlich gebrauchen. Künzel sagt, "dass dem
Grafen ein wahrer ‘Treffer’ gelingt, indem er die Marquise mit dem ersten und einzigen Schuss schwängert".13
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1 Kleist, Heinrich von: Die Marquise von O Berliner Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Band II/2. Basel/Frankfurt am Main 1989. S. 105.
2 Neumann, Gerhard: Skandalon. Geschlechterrollen und soziale Identität in Kleists Marquise von O und in Cervantes’ Novelle La fuerza de la sangre. In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall-Rechtsfall-Sündenfall. Hrsg. von Gerhard Neumann: Freiburg im Breisgau 1994. S. 149.
3 Ebd. S. 149f..
4 Berroth, Erika: Heinrich von Kleist. Geschlecht-Erkenntnis-Wirklichkeit. New York 2003. S. 30
5 Künzel, Christine: Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht. Frankfurt am Main 2003. S. 25
6 Hohn, Dorrit: Kleist’s >>Marquise von O…<<: The Problem of knowledge. In: Monatshefte 67 (1975). S. 133. Zit. nach: Künzel, Christine: Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht. Frankfurt am Main 2003. S. 25.
7 Hier und im Folgenden wird die Erzählung mit Seitenzahlen zitiert nach: Kleist, Heinrich von: Die Marquise von O Berliner Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle, Band II/2. Basel/Frankfurt am Main 1989. S. 105.
8 Allen, Marguerite De Huszar: Denial and Acceptance. Narrative Patterns in Thomas Mann’s “Die Betrogene” and Kleist’s “Die Marquise von O”. In: Germanic Review 64:3 (1989). S. 126.
9 Vinken, Barbara/ Haverkamp, Anselm: Die zurechtgelegte Frau: Gottesbegehren und transzendentale Familie in Kleists Marquise von O In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall-Rechtsfall-Sündenfall. Hrsg. von Gerhard Neumann. Freiburg im Breisgau 1994. S. 140.
10 Berroth, Erika: Heinrich von Kleist. Geschlecht-Erkenntnis-Wirklichkeit. New York 2003. S. 35.
11 Vinken, Barbara/ Haverkamp, Anselm: Die zurechtgelegte Frau: Gottesbegehren und transzendentale Familie in Kleists Marquise von O In: Heinrich von Kleist. Kriegsfall-Rechtsfall-Sündenfall. Hrsg. von Gerhard Neumann. Freiburg im Breisgau 1994. S. 131.
12 Földenyi, Laszlo F.: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. München 1999. S. 308ff.
13 Künzel, Christine: “Das gerade wäre der Ort, wo ich am tödlichsten zu verwunden bin!”. Sexuelle Gewalt und die Konzeption weiblicher Verletzungsoffenheit. In: Das verortete Geschlecht. Literarische Räume sexueller und kultureller Differenz. Hrsg. von Petra Leutner/ Ulrike Erichsen. Tübingen 2003. S. 68.