Das Phänomen Rebellion - Antikonformes Handeln zwisches Rigidität und moralischem Anspruch


Master's Thesis, 2011

126 Pages, Grade: 2,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

Teil I: Theoretischer Hintergrund

2 Das Phänomen „Rebellion“
2.1 Inhaltliche Annäherungen an den Begriff „Rebellion“
2.2 Rebellion und Aggression: Eine differenzierende Betrachtung
2.3 Einflussfaktoren auf das Rebellieren: Handlungsorientierte Instanzen
2.3.1.Selbstwert und Selbstwirksamkeit
2.3.2 Assimilation und Akkomodation
2.3.3 Externalisierendes/internalisierendes Verhalten und Geschlecht

3 Frank J. Sulloway: Die Geburtsrangtheorie
3.1 Selektive Studien und Analysen zur Geburtenfolge
3.2 Die Geburtsrangtheorie Sulloways: Evolutionstheoretischer Hintergrund
3.3 Grundzüge der Geburtsrangtheorie
3.4 Zusammenhang zwischen Geburtsrang und Rebellion

4 Aspekte der Verschiedenartigkeit von Geschwistern - Geburtsrang und Persönlichkeitsentwicklung -
4.1 Einzelkind und Erstgeborene(r)
4.2 Zweitgeborene(r) / Spätergeborene(r)
4.3 Weitere persönlichkeitsformende Prädiktoren
4.3.1 Altersabstand
4.3.2 Geschlecht
4.3.3 Geschwisteranzahl

5 Die Bindungstheorie nach John Bowlby
5.1 Theoretischer Hintergrund
5.2 Grundzüge der Theorie: Regulation des Bindungsverhaltens
5.3 Die Baltimore-Studie: Identifizierung von Bindungsmustern
5.4 Zusammenhang zwischen Bindungsqualität und Rebellion

Teil II: Empirische Analyse

6 Methode
6.1 Der Fragebogen: Aufbau und Entwicklung
6.2 Hintergrund und Zusammensetzung der Stichprobe

7 Fragestellung und Untersuchung
7.1 Geburtsrang und rebellisches Verhalten
7.1.1 Die Hypothese
7.1.2 Wichtigste Ergebnisse und Schlussfolgerung
7.2 Bindungsqualität und rebellisches Verhalten
7.2.1 Die Hypothese
7.2.2 Wichtigste Ergebnisse und Schlussfolgerung
7.3 Bindungsqualität und Geburtsrang im Zusammenhang mit Rebellion
7.4 Erklärungsmodell: Rebellisches Verhalten und Co-Variablen
7.4.1 Die Hypothesen
7.4.1.1 Co-Variablen und rebellisches Verhalten
7.4.1.2 Zusammenhang zwischen den Hauptfaktoren und den Co- Variablen
7.4.1.3 Stellung der Co-Variablen
7.4.2 Wichtigste Ergebnisse und Schlussfolgerung

8 Diskussion

Literaturverzeichnis

Anhang: Der Fragebogen

Danksagung

Ich bedanke mich herzlich bei

- Sascha Ignorek, der mich als Ruhepol und Kraftquelle einen großen Teil meines Studiums mit Rat und Tat sowie Zuversicht begleitet hat.
- meiner lieben Kommilitonin und mittlerweile guten Freundin Beate Zander, die es immer wieder geschafft hat, mich durch ihre Hilfsbereitschaft und ihren Humor aufzumuntern und die nicht zuletzt dazu beigetragen hat, dass ich mit vielen positiven Gefühlen und Eindrücken auf die Studienzeit in Hildesheim zurückblicke.
- Herrn Prof. Dr. Werner Greve, der neben seinem außer Frage stehenden Wissen und Ideenreichtum, das er auf verständliche und oftmals humorvolle Art und Weise zu vermitteln weiß, über weitere bedeutsame Eigenschaften und Fähigkeiten verfügt - die der Empathie, Offenherzigkeit, Natürlichkeit und Zuversicht - die er trotz Zeitmangel und Vielbeschäftigtheit stets ausstrahlt.
- Herrn Dr. Lothar Wittmann, der all meine Hausarbeiten mit vielen ausführlichen sowie konstruktiven Hinweisen betreut hat und bei dem ich die mit Abstand lebendigsten und praxisnahesten Vorlesungen meines Studiums gehört habe.
- meinen lieben Eltern, ohne die die Studienzeit in ihrer erlebten Intensität nicht möglich gewesen wäre.

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung 01: Die fünf Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie

Abbildung 02: Altersverteilung der Stichprobe

Abbildung 03: Mittelwertsgrafik „Familiäre Rebellion“

Abbildung 04: Mittelwertsgrafik „Allgemeine Rebellion“

Abbildung 05: Mittelwertsgrafik „Familiäre Rebellion“

Abbildung 06: Mittelwertsgrafik „Moralische Rebellion“

Tabelle 01: Episoden und Abfolge der „Fremden Situation“

Tabelle 02: Häufigkeitsverteilung der Geburtsränge

Tabelle 03: Deskriptive Statistik für die Varianzanalyse bei Anzahl (gültige N) =

Tabelle 04: Gruppenstatistik t-Test: Deskriptive Statistik der Geburtsränge

Tabelle 05: Deskriptive Statistik der Varianzanalyse: Geburtsränge

Tabelle 06: Berechnungen zum Geburtsrang

Tabelle 07: Gruppenstatistik gemäß t-Testung für Bindungsqualität und Rebellion

Tabelle 08: Deskriptive Statistik der Varianzanalyse für die Bindungsqualität

Tabelle 09: Grundlegende Berechnungen zur Bindungsqualität

Tabelle 10: Testung auf Haupt- und Interaktionseffekte

Tabelle 11: Korrelation der Skalen zum Rebellionsverhalten mit den Co-Variablen

Tabelle 12: Interkorrelation der Co-Variablen

Tabelle 13: Interkorrelation der abhängigen Variablen

Tabelle 14: Mediatoranalyse mit Selbstwert und Bindung

Tabelle 15: Mediatoranalyse mit Selbstwert und Geburtsrang

Tabelle 16: Moderatoranalyse mit Selbstwert und Bindung

Tabelle 17: Moderatoranalyse: Wichtigste Ergebnisse der ausstehenden Co-Variablen 80f

Tabelle 18: Rotierte Hauptkomponentenanalyse

Tabelle 19: Komponententransformationsmatrix

Tabelle 20: Koeffizientenstatistik: „Moralische Rebellion“

Tabelle 21: Kollinearitätsdiagnostik: „Familiäre Rebellion“

1 Einleitung

„ Letzte Nacht habe ich dar ü ber nachgedacht, wie man zum Entdecker von unentdeckten Dingen wird; und das ist ein ganz verzwicktes Problem. Viele kluge Menschen - Menschen, die viel kl ü ger sind als die Entdecker - brin gen es nie dazu, etwas Originelles zu schaffen. “

Charles Darwin 1871, in einem Brief an seinen Sohn Horace 1

„Rebellion“ - eine kurze, prägnante Bezeichnung für ein facettenreiches Phänomen, das seit Menschengedenken existiert und sich in unterschiedlichsten geschichtlichen Zusammenhängen, aber ebenso in der heutigen Zeit zeigt. Sie kann zu Denkanstößen, Bewegungen, (bahnbrechenden) Veränderungen, Fortschritt, Aufmerksamkeit, aber auch zu Belächelung und im schlimmsten Fall zu Angst und Tod führen.

Sei es auf politischer, moralischer, sozialer, auf familiärer oder kultureller Ebene: Es gibt immer Individuen, die sich unabhängig von einer durch pubertäre Einflüsse ausgelösten „Sturm und Drang-Zeit“, im Erwachsenenalter „abgrenzen“. Dies kann eine Abgrenzung von ihrer unmittelbaren Umwelt sein, wie der Familie oder dem Freundes- und Bekanntenkreis oder das Auflehnen gegen das vorliegende Denken und Handeln des gesellschaftlichen Gros. Es ist immer wieder zu beobachten, dass Personen im Alleingang oder zumindest in einer Minderheit gegen eine große Mehrheit auftreten und dabei rigide ihre Ziele verfolgen. Den Antrieb hierfür stellt ihre Überzeugung von der Richtigkeit der Sache dar.

In der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, wie es kommt, dass bestimmte Menschen Persönlichkeitsfacetten besitzen, die sie vehement an ihren Überzeu- gungen festhalten und ihnen den Antrieb, die Stärke, Gabe oder Fähigkeit verleihen, sich von dieser inneren Überzeugung lenken zu lassen, ganz gleich, ob es sich hierbei um anerkannte oder zumindest geduldete Werte und Normen, ethische Fragen, Verhaltensweisen oder all- gemeine Ansichten handelt, gegen die sie rebellieren. Welche Erklärungsansätze können he- rangezogen werden, um nachvollziehbar zu machen, warum diese Individuen sich für ihre speziellen Ziele, auch unter Inkaufnahme von für sie negative Folgen, einsetzen, während die Mehrheit im jeweiligen (gesellschaftlichen) Status quo zufrieden oder unzufrieden lebt und in ihm verharrt bzw. sich mit ihm arrangiert?

Hierzu ist es vorab notwendig, das Phänomen „Rebellion“ in seinem Facettenreichtum zu greifen und es von ähnlichen Begrifflichkeiten und Verhaltensweisen abzugrenzen. Diese differenzierten Betrachtungen werden unter Kapitel 2 vorgenommen, ebenso wie die Be- schreibung von Faktoren, die auf handlungsorientierter Basis das rebellierende Agieren beeinflussen und bedingen können. Hierbei fungiert Brandtstädters Ansatz der Handlungstheorie als rahmengebende „Metatheorie“ und Eingrenzungsmöglichkeit für persönlichkeitsformende Einflussfaktoren.

Die Idee dieser Arbeit, rebellisches Handeln und Verhalten näher zu beleuchten, soll in zwei theoretischen Perspektiven begründet liegen. Bei der ersten handelt es sich um die Ge- burtsrangtheorie Frank Sulloways, die auf evolutionspsychologischen und -biologischen Rückbezügen fußt und die Anlage des geschwisterlichen Konkurrierens um die elterliche Gunst als Überlebenszweck sieht. Sulloway zufolge ist es der Zweit-/Spätergeborene, der sich gezwungenermaßen in der Position des „Zu-spät-Gekommenen“ durch auffallendes Verhalten, die Aufmerksamkeit der Eltern erarbeiten muss. Der evolutionstheoretische Hin- tergrund, die Grundzüge der Theorie sowie der mögliche Zusammenhang zwischen dem ge- schwisterlichen Geburtsrang und rebellischem Handeln werden unter Kapitel 3 dargelegt.

An die Geburtsrangtheorie schließt sich das Kapitel 4 mit den Aspekten der Verschiedenartigkeit von Geschwistern an. Ein Großteil der Menschen lebt in einem nicht freiwilligen, jedoch sehr lang anhaltenden, unkündbaren Subsystem innerhalb des familiären Netzwerks, der Geschwisterbeziehung. Gerade der bloße Umstand, in einen gewissen Rang hineingeboren zu werden, kann jedes Individuum bezüglich gewisser Eigenschaften und Verhaltensweisen formen. Charakteristika und Persönlichkeitseigenschaften von Erstgeborenen und Einzelkindern sowie Zweit- und Spätergeborenen sind in das Konstrukt des Phänomens „Rebellion“ ebenso miteinzubeziehen, wie die Betrachtung von weiteren persönlichkeitsformenden Prädiktoren (z.B. Altersabstand der Geschwister zueinander).

Bei der zweiten Theorie, die der Arbeit zugrunde liegt, handelt es sich um die Bindungs- theorie nach John Bowlby. Hierzu werden im Kapitel 5 ihr theoretischer Hintergrund und ihre Grundzüge betrachtet sowie der Zusammenhang zwischen der erworbenen kindlichen Bindungsqualität und der Tendenz zu rebellischem Verhalten hergestellt. Die Grundidee, eine Verbindung zwischen hier schlechter Bindungsqualität und Rebellion anzunehmen, entwickelte sich in Anlehnung an Blasis Ausführungen (2007) zu „moralischen Revolutionä- ren“.

Die Fragestellung konzentriert sich somit darauf, ob im zweit- bzw. spätergeborenen Geschwister die größere Tendenz zu rebellierendem Verhalten gesehen werden kann; ob, unabhängig von der geschwisterlichen Position, eine schlechte Bindungsqualität mit diesem Verhalten in tatsächlichem Zusammenhang steht; und ob die handlungsrelevanten Variablen (Selbstwert, Selbstwirksamkeit, Assimilation, Akkomodation) in erwarteten Ausprägungen, die noch differenziert ausgeführt werden (vgl. Kapitel 2.3) , zu rebellierenden Tendenzen zu sehen sind.

In der empirischen Analyse wird der Versuch unternommen, rebellisches Handeln unter dem Betrachtungswinkel eben aufgelisteter Fragen aufzudecken: Besitzt eine rebellische Per- son, ferner sie in dieser Studie erfasst wird, tatsächlich eine schlechte oder doch eher eine gute Bindungsqualität? Befindet sie sich in der Position des Zweit-/Spätergeborenen und erfüllt die in dieser Arbeit als notwendig erachteten Ausprägungstendenzen auf handlungs- theoretischer Ebene? Ein konzipierter Fragebogen soll hierzu möglichst einige Erkenntnisse liefern. Im Diskussionsteil werden die Ergebnisse von statistischer Analyse und theoretischer Herleitung bewertet, kritisch beleuchtet sowie ein Ausblick auf nachfolgende Untersu- chungsansätze gegeben.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass zur besseren Lesbarkeit der vorliegenden Arbeit, geschlechtsneutrale Bezeichnungen verwendet werden, wobei der Rebell und die Rebellin, der Individualist und die Individualistin sowie der Proband und die Probandin etc. selbstverständlich gleichermaßen gemeint sind.

2 Das Phänomen „Rebellion“

„ Es gibt keine Entwicklungsmuster oder -verl ä ufe, die nicht ge ä ndert wer- den k ö nnten, vorausgesetzt, das Entwicklungssubjekt selbst oder der rele- vante soziale oder kulturelle Kontext verf ü gen ü ber entsprechende M ö glich- keiten und Interessen. “

Brandtst ä dter 2

Zu Lebzeiten des britischen Naturforschers Charles Darwin (1809 - 1882) war der Glaube an eine Evolutionsgeschichte ketzerisches Gedankengut. Er widerstrebte sowohl dem gesunden Menschenverstand als auch dem religiösen Dogma. Folglich lehnte der Großteil Darwins Zeitgenossen diese Ansicht schlichtweg ab. Er hingegen berücksichtigte sie bei all seinen Vorhaben, auch wenn seine Skepsis und Unsicherheit ihn stark belasteten. Als es für ihn kei- ne Alternative mehr gab als die Akzeptanz des evolutionären Ursprungs, sei dies für ihn wie „das Geständnis eines Mordes“ gewesen (vgl. Burkhardt/Smith, 1987, zit. nach Sulloway, 1997).

John Brown (1800 - 1859), amerikanischer Kämpfer gegen die Sklaverei, äußerte sein Engagement fast ausschließlich in Handlungen, die bisweilen moralisch fragwürdig waren. Sein Leben lang als Aktivist in der „Untergrundbahn“ tätig, unternahm er in der Organisation illegale Versuche, Sklaven, die vor ihren südlichen Herren geflohen waren, zu Sicherheit und Zuflucht im Norden zu verhelfen. Friedliche Lösungen des Sklavereiproblems scheiterten und Brown verlor die Hoffnung in seine bisherigen Vorhaben. Fortan steckte er deshalb seine gesamte Entschlossenheit in die Gründung von Schwarzen-Organisationen, deren Ziel die Erhebung und Freiheitserkämpfung darstellen sollte, notfalls auch mit Gewalt und Brutalität. Unter anderem plante er einen Aufmarsch, bei dem ein Bundes-Zeughaus eingenommen werden sollte, um Waffen für eine große Rebellion zu beschaffen. Die Expedition der 21 Teilnehmer endete im Tod von zehn dieser, wozu zwei seiner Kinder gehörten. Brown wurde gefangen, verurteilt und daraufhin gehängt (vgl. Blasi, 2007).

Es stellt sich die Frage, was diese beiden Ausschnitte historischer Geschichte, die scheinbar verschiedener kaum sein könnten, miteinander verbindet. Zum einen ist es die Ein- stellung gegenüber den vom gesellschaftlichen Gros akzeptierten Werten und Normen, Bräu- chen, Denk- und Handlungsweisen, denen beide in einigen Punkten zu jedem Zeitpunkt ve- hement entgegenstanden, zum anderen ihre Handlungsart innerhalb zeitgenössischen, mitun- ter festgefahrenen, aber gesellschaftlich geduldeten Umständen. Beide, hier exemplarisch aufgeführten Individuen lehnten sich mit persönlichem und auch nach ihrem Verständnis moralischem Engagement3 zwar auf unterschiedliche Weise und in ganz verschiedenen Kon- texten, jedoch im Alleingang oder zumindest in einer Minderheit gegen eine Mehrheit auf. Sie nahmen daraus für sich persönliche Folgen in Kauf, wie schwerwiegend sie auch sein mochten. Im Stillen vertraten sicherlich durchaus viele weitere Zeitgenossen mitunter gleiche oder ähnliche Denkweisen wie Brown und Darwin, doch unterschieden sie sich in dem Punkt von beiden, indem sie diese im Stillen teilten und sich somit von der Allgemeinheit in letzter Konsequenz nicht abhoben4. Etliche nachvollziehbare Gründe sind hierfür denkbar, wie die Angst, der gesellschaftlichen Generalität den Rücken zuzukehren um den Preis des unbe- quemen, antikonformen Weges, verbunden mit Stigmatisierung, Auffälligkeit, Kampf und Niederlage, aber gegebenenfalls auch mit Ruhm, Anerkennung und Unvergänglichkeit. Ganz gewiss wurde ihnen jedoch (kurzweilige) innerliche Befriedigung sowie Befreiung und der Erinnerungswert bei anderen zuteil - ob in positiver oder negativer Ausprägung.

Anhand dieser zwei historischen Beispiele soll einleitend der Facettenreichtum und die Schwierigkeit einer einheitlichen Definition dieses Phänomens „Rebellion“ verdeutlicht wer- den. Wie kann die Erscheinung dieser „Andersgeartetheit“ und „Andersartigkeit“, wobei die- se nicht als eine Auf- oder Abwertung verstanden werden soll, erklärt werden und welche Aspekte müssen zusätzlich Berücksichtigung finden, um von „Rebellion“ oder „dem Rebel- len“ sprechen zu können?

Der Versuch einer begrifflichen Erfassung und einer Abgrenzung von scheinbar ähnli- chen Begriffen und Verhaltensweisen wird im Folgenden vorgenommen, ebenso wie der ei- ner Beschreibung von Faktoren, die primär auf handlungstheoretischer Basis das rebellieren- de Verhalten beeinflussen könnten. Mögliche Ansatzpunkte für die Begründung der Unter- schiede zwischen Individuen in eben angesprochenen Aspekten könnten zwei unterschiedli- che Theorien liefern. Zum einen ist die Geburtsrangtheorie von Frank Sulloway zu nennen, die auf evolutionspsychologischen und -biologischen Rückbezügen fußt (siehe Kapitel 3) , zum anderen die von John Bowlby begründete Bindungstheorie. Sie bündelt sich um verschiedene Disziplinen wie die der Entwicklungspsychologie, Anthropologie und auch Evolutionspsychologie und wird unter Kapitel 5 ausführlich behandelt.

2.1 Inhaltliche Annäherungen an den Begriff „Rebellion“

Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Erscheinung, welche in der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff „Rebellion“ erfasst wird, auch für die heutige Zeit Gültigkeit besitzt und nicht nur im Zusammenhang historischer Ereignisse gesehen und ausschließlich bezüglich wissen- schaftlicher Ansprüche wie beispielsweise bei Darwin, auf sie transferiert werden darf. So kann auf der einen Seite an den politisch und sozial engagierten Aktivisten gedacht werden, der nach seiner eigenen Facon versucht, die Welt durch radikale Taten zu verändern, aber eben auch an das „Schwarze Schaf“ der Familie oder den „Aufständler“ im Bekanntenkreis, der grundsätzlich immer alles anders macht als die Allgemeinheit und damit auch nicht selten auf Ärgernisse oder Belächelung stößt.

Ebenso muss es nicht zwingend um moralische Ansprüche gehen, die bestimmtes Denken oder Handeln einer Person vorantreiben und nur dann der Bezeichnung „Rebellion“ oder „Rebell“ genüge tragen würden. Motor kann auch das sich Abheben und „anders sein wollen“ darstellen, allein der Andersartigkeit wegen, worauf jedoch noch anhand eines Beispieles aus der Kunst spezifischer eingegangen wird.

Zur Schwierigkeit einer einheitlichen Definitionsbildung tragen ebenfalls die unter- schiedlichsten kulturellen sowie politischen Denk-, Glaubens- und Lebensweisen der Men- schen heutzutage bei. Um den Fokus an dieser Stelle auf große Teile der westlichen Zivilisa- tion zu legen, ist festzuhalten, dass sie sich insofern von ihrer Toleranz und Weltoffenheit her sowie durch Erfahrungen aus vergangenen historischen Geschehnissen gewandelt hat, als dass im 21. Jahrhundert nicht mehr an beispielsweise derartige Sanktionen und zerstöreri- sches absolutes Denken und Handeln wie noch vor 70 Jahren zu denken ist. Es handelt sich somit um eine Hinentwicklung zu relativ toleranten Gesellschaften, in denen grundsätzlich Platz für Andersdenkende und individuelle Auslebungen vorhanden ist. Sei es bezüglich des Kleidungsstils, erzieherischen Verhaltens, Forschung, Sexualität oder des allgemeinen Sprach- und Lebensstils: Annähernd alles wird „revolutioniert“, annähernd alles wird (er)möglich(t), besonders sofern (mehrheitliche) Interessen (z.B. politischer, gesellschaftli- cher Art) und der Profitgewinn groß genug sind. Es zeigt sich demnach, dass die Definition der Rebellion vielleicht schwerer denn je greifbar gemacht werden kann. Blasi (2007) bei- spielsweise definiert Persönlichkeiten wie John Brown, d.h. Terroristen, aber auch Individu- en wie Martin Luther King, die allesamt unter moralisch handelnden Gesichtspunkten zu betrachten sind, als „moralische Revolutionäre“. Sie streben Ziele und Vorstellungen sowohl für ihr Privatleben als auch für ihre gesamte Gesellschaft an. Diese stehen meist in Kontrast zu denen ihrer Familie und Freunde sowie zu allgemein gebräuchlichen und zeitgenössischen Moralvorstellungen. Der Autor betont, dass sie ihr Denken und ihre Taten als die einzige moralische Wahrheit ansehen und ihr Handeln allein im Nachgehen und Nachgeben ihres Gewissens, das Befriedigung finden muss, begründen. In diesem Fall ist ein „moralischer Revolutionär“ dazu bereit, dem Konformitätsdruck seiner Nächsten standhaft zu bleiben und sich Zuneigungen und Vertrautheit zu entsagen (vgl. Blasi, 2007).

Sulloway hingegen legt den Rebellen bzw. Revolutionär unter dem Gesichtspunkt eines wissenschaftlich denkenden Individuums mit der Begabung dar, in Distanz zum vorherrschenden Wissen seiner Zeit treten und dieses als wertlos zurückweisen zu können. Er definiert ihn als in der Lage seiend, bestehendes Denken vollkommen umwälzen und die Bereitschaft zeigen zu können, das Weltverständnis grundlegend zu verändern. Sulloway tituliert diese Persönlichkeit ferner als Visionär mit Geistesblitzen, der unabhängig von der Radikalität seiner Idee, diese durchzusetzen versucht - wie erbittert der Widerstand gegen seine Person und seine Idee auch sein mag (vgl. Sulloway, 1997).

Ganz gleich, ob es sich um wissenschaftliche Revolutionäre oder solche Rebellen mit oder ohne moralischen Anspruch handelt - es zeigt sich, dass eine einheitliche Definitions- Betrachtung ein schwieriges Unterfangen darstellt. Zwei Titulierungen, die scheinbar dassel- be meinen und teilweise Überschneidungen aufweisen, sollen im Folgenden differenzierter betrachtet werden. Dadurch soll auf einen vorliegenden und entscheidenden Unterschied die- ser Bezeichnungen für eine rebellisch handelnde Person aufmerksam gemacht werden, der eine stellvertretende Verwendung letztlich nicht ermöglicht: Nonkonformist und Antikonfor- mist ! Zwei Beispiele aus der Kunst sollen den Unterschied der Begriffe verdeutlichen.

Salvador Dalí (1904 - 1989), spanischer Maler, Grafiker und Bildhauer und einer der Hauptvertreter des Surrealismus, gilt als einer der bekanntesten Maler des 20. Jahrhunderts. Er stellte in seiner Kunst u.a. die Welt des Unbewussten dar. Dalís Spätwerk, seine Sympa- thie für den spanischen Diktator Francisco Franco sowie sein exzentrisches Verhalten führten und führen auch heute noch vielfach zu Kontroversen bei der Bewertung seiner Werke und der Charakterisierung seiner Person. Es ist jedoch trotz der Auffälligkeit seiner Person, für den Abgrenzungsversuch zwischen Nonkonformist und Antikonformist und somit letztlich für eine Definition wichtig zu beachten, dass er nicht aktiv und in der Form für seine Kunst eintrat, als dass er durch sie politische, moralische oder soziale Stellung eingenommen oder durch sie ein Anliegen offenbart hätte, dass seine Antihaltung gegen etwas oder jemanden zum Ausdruck bringt. Sicherlich war er ein Individuum, das auffallen und sich vom Gros abheben wollte sowie großen Anspruch in und an seine Werke legte (vgl. Puyplat, 2005). Aber in die Situation, sich von der gesellschaftlichen Mehrheit im engeren Sinne abgrenzen zu müssen oder zu wollen, kam er nicht bzw. brachte er sich nicht. Er wollte gefallen und gefeiert werden. So kann man ihn, obgleich er fragwürdige politische Sympathisierungen zeigte, sich durch seine exzentrische Individualität von der Masse abhob oder mit seinen Werken nicht jedermanns ästhetischem Kunstempfinden gerecht wurde, nicht als einen Rebellen betrachten, sondern vielmehr als einen Nonkonformisten.

Anders verhält es sich, um eine Vergleichbarkeit zu schaffen, mit den Begründern des „Dadaismus“, Bull, Tzara, Huelsenbeck, Janco und Arp. Sie schufen im Jahr 1916 in Zürich diese künstlerische und literarische Bewegung und wollten mit ihr ihre Ablehnung gegen die bürgerlichen Ideale zum Ausdruck bringen. Es handelte sich bei diesen Künstlern um ein starres und stures Aufbegehren gegen das vorherrschende zeitgenössische Denken und Wer- tesystem, das sich in der „konventionellen“ Kunst bzw. den Kunstformen widerspiegelte. Der Begriff „Dada(ismus)“ steht im Verständnis der Dadaisten für absoluten Zweifel an allem, uneingeschränktem Individualismus und der Zerstörung von gefestigten Werten und Normen. Die durch Disziplin und gesellschaftliche Moral bestimmten künstlerischen Verfahren wur- den durch schlichte, willkürliche, meist zufallsentstandene Aktionen, Bilder und Worte er- setzt. Die Künstler beharrten darauf, dass Dada nicht definierbar sei. Als der Stil, der eigent- lich keiner sein sollte, sich zu festigen begann, riefen die Anhänger dazu auf, die Ordnung wieder zu „vernichten“, da es gerade die Ordnung war, die sie zerschlagen wollten. Diese Entwicklung machte den Dadaismus in letzter Konsequenz wieder zu dem, was er sein sollte: Antikunst. Es wird somit auch deutlich, was die Schaffer des Dadaismus mit ihren Aktionen waren: Antikonformisten (vgl. Schröer, 2005).

Sicherlich, und das zeigt das Beispiel der Dadaisten auch, kann sich in jedem Antikon- formist, d.h. dem Rebellen bzw. im Phänomen „Rebellion“, immer auch ein nonkonformisti- scher Anteil verbergen. Dies kann miteinander einhergehen. Aber umgekehrt können keine rebellischen Anteile in einer nonkonformen Handlung vorhanden sein, wie das Beispiel Dalís zeigt und die klare Abgrenzung zwischen Nonkonformist und Antikonformist auszeichnet.

Als weiterer Aspekt gilt es zu beachten, dass die Definition der Rebellion nicht das kind- liche bzw. jugendlich-pubertäre Aufbegehren und Trotzen meinen kann, das für die Entwick- lungsphase im Alter zwischen 12 und 19 Jahren eine typische und notwendige Begleiter- scheinung darstellt5. Mit steigendem Alter regulieren sich im Normalfall aufbegehrende Handlungsweisen sowie das rebellische Ausleben der in der Formung inbegriffenen Persönlichkeit. Hält dieses Verhalten auch im Erwachsenenalter an, bzw. lebt es dann und dort (wieder) auf, so ist eine Bezeichnung des Antikonformisten oder Rebellen (unter der Voraussetzung inhaltlicher Gegebenheiten, die in diesem Kapitel beschrieben sind) durchaus angebracht. Dies soll jedoch keinesfalls zu der Schlussfolgerung führen, ein Rebell sei zwangsläufig vom Verhalten her mit einem pubertären Heranwachsenden zu vergleichen. Vorrangig sollte durch diese Erläuterung die unabdingbare Voraussetzung des Altersaspektes für die Annäherung an das Phänomen verdeutlicht werden6.

Zusammenfassend kann eine rebellische Persönlichkeit nach bisheriger Arbeitsdefinition als ein zwischen Rigidität und moralischem Anspruch sowie unabhängig von pubertären Ein- flüssen denkender und handelnder Antikonformist verstanden werden, dessen Ziel es ist, sich von Micro- und/oder Mesosystemen seiner Umwelt abzugrenzen und sich sowohl im Allein- gang oder in einer Minderheit gegen eine Mehrheit aufzulehnen. Dabei zeichnet er sich nicht durch Sporadität seines Verhaltens aus, sondern durch überdauernde Zielgerichtetheit, stabile Verhaltens- und Denkweisen, aber tendenziell gleichsam durch eine gewisse Starrheit und Unbeweglichkeit bezüglich seiner Einstellungen, Zielsetzungen und Ansichten, die kaum bis keine Alternativen zulassen.

Für eine Komplettierung der Arbeitsdefinition bedarf es noch der genaueren Betrachtung des Begriffes Auflehnung bzw. ihrer Umsetzungsform durch Aggression und/oder Gewalt als hinreichende jedoch nicht notwendige Voraussetzung. Dieser Differenzierung und einer möglichen Zuschreibung für einen Rebellen wird im Folgenden Kapitel nachgegangen.

2.2 Rebellion und Aggression: Eine differenzierende Betrachtung

Die Begriffe „Aggression“ und „Aggressivität“ werden in der Literatur oftmals synonym verwendet, so dass hieraus keine bedeutsamen Unterschiede erkennbar sind. Nach Gratzer (2004) sind die Begrifflichkeiten getrennt voneinander zu betrachten. Aggressivit ä t geht der Aggression voraus, da sie die Einstellung und die Bereitschaft zu aggressivem Handeln darstellt. Aggression hingegen ist die Handlung selbst (vgl. Gratzer, 2004). Cierpka beschreibt den Begriff „Aggressivität“ als eine relativ stabile psychische Eigenschaft, die eine erhöhte Bereitschaft zu aggressivem Handeln aufweist (vgl. Cierpka, 2002).

Etliche Kategorisierungen für aggressive Handlungen wurden im Laufe der Auseinandersetzung mit der Thematik vorgenommen, so z.B. die der Unterscheidung „expressiver“ und „instrumenteller“ Aggression nach Michaelis. Sie stellt einen Bezug zur zugrunde liegenden Motivation bzw. Funktionalität her. Hierbei wird die expressive Aggression durch starke Emotionen oder Erregungszustände ausgelöst und wirkt kurzzeitig spannungsreduzierend, wohingegen die instrumentelle Verletzungen anderer mit der Motivation einer Zielerreichung oder Problemlösung anstrebt.

Petermann und Petermann (2000) nehmen eine Unterscheidung und Gegenüberstellung von Aggressionen vor, indem sie diese in fünf Dimensionen einteilen:

- Offen gezeigte Aggression versus verdeckte/hinterhältige Aggression
- Körperliche Aggression versus verbale Aggression
- Aktiv-ausübende versus passiv-erfahrene Aggression
- Direkte versus indirekte Aggression
- Nach außen gewandte versus nach innen gewandte Aggression (Peter- mann/Petermann, 2000).

Auf weitere Differenzierungen zum Aggressionsbegriff und zu Formen aggressiven Verhaltens soll an dieser Stelle verzichtet werden. Im weiteren Verlauf wird hingegen der Gewaltbegriff erwähnt, da aggressive Tendenzen oftmals zu Gewalt führen können bzw. Gewaltdenken und -handeln ebenfalls, genau wie Aggressionen als hinreichende Voraussetzungen, dem Rebellen zugeordnet werden können.

Aus dem Althochdeutschen stammend, bedeutet Gewalt „stark sein“ oder „beherrschen“ und ist grundsätzlich als relativ wertneutral zu betrachten. Heute wird der Begriff fast aus- schließlich im Zusammenhang mit Sitten- und Normenverstößen gesehen und häufig gleich- gesetzt mit dem Verständnis von Aggression. Wie Lind (1993) betont, ist eine Trennung von Aggression und Gewalt im wissenschaftlichen Zusammenhang aber notwendig, denn Gewalt ist das sichtbare Resultat von aggressiven Neigungen eines Menschen. Sie besitzt gegenüber der Aggression die Besonderheit der Zielgerichtetheit und des Zwanges, ein gestecktes Ziel zu erreichen, im Sinne einer Inkaufnahme von entstehenden Schäden oder Zerstörungen. Gewalt dient damit der Sicherung eines subjektiven Handlungserfolges, sie muss aber nicht zwangsläufig mit direkter Zerstörung in Zusammenhang gebracht werden. Sie kann verschiedenste Facetten menschlichen Handelns annehmen, entscheidend ist jedoch, dass ihr immer der Charakter eines bewussten und zielfokussierten Verhaltens zugrunde liegt (vgl. Imbusch, 2002, zit. nach Gugel, 2006).

Bei der Definition von Rebellion oder dem Rebellen sollen die eben beschriebenen As- pekte als weiteres notwendiges Hintergrundwissen für eine sinnvolle Zuordnung des Begrif- fes beachtet werden, da eine antikonform handelnde Person zum Zweck ihrer Zieldurchset- zung zu Gewalttaten neigen und greifen kann. Die Begründung für eine rebellische Haltung darf jedoch nicht mit einer stabil vorliegenden, pathologischen Aggressivität gleichgesetzt bzw. verwechselt werden. Ferner sollte Abstand davon genommen werden, die Rebellions- haltung ggf. primär in Zusammenhang mit aggressiven Verhaltenstendenzen zu sehen und suchen zu wollen.

Aggression und Gewalt können für einen Antikonformisten, wie es das extreme Beispiel von John Brown darstellt, als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung angesehen werden, um von Rebellion sprechen zu können. Nichtsdestotrotz müssen Aggressions- und Gewalthandlungen keineswegs gegeben sein, damit das Individuum einer Bezeichnung oder Einordnung als Rebell gerecht wird. Der Versuch einer Zielerreichung durch aufständleri- sches Handlungen kann theoretisch immer sowohl Aggression als auch Gewalt beinhalten, doch sollten diese Verhaltensweisen, falls sie überhaupt vorhanden sind und zutage treten, als Mittel zum Zweck gesehen und nicht als Ursache rebellierenden Verhaltens betrachtet wer- den. Ansonsten könnte nicht mehr vom im Sinne dieser Arbeit verstandenen „Rebellen“ die Rede sein, sondern eher vom Rowdy7.

2.3 Einflussfaktoren auf das Rebellieren: Handlungsorientierte Instanzen

Etliche Eigenschaften und Faktoren sind für die Persönlichkeitsformung und somit auch für die Forcierung rebellierender Tendenzen verantwortlich. So könnten hieran vorrangig moti- vationale Aspekte, kognitive Prozesse , Intelligenz , emotionale Eigenschaften , wie z.B. Temperament und/oder die soziale Umwelt beteiligt sein.

Der Mensch als individuelle Persönlichkeit mit einer mehr oder weniger stabilen und dauerhaften Organisation seines Charakters, Temperaments, Intellekts und Körperbaus, die seine einzigartige Anpassung an die Umwelt ermöglichen, ist aber ebenso ein durch Hand- lungen bestimmtes Individuum. Da das Phänomen „Rebellion“ immer im Zusammenhang mit Handlungen und intentionalem Verhalten steht, soll die antikonforme Persönlichkeit in dieser Arbeit aus handlungstheoretischer Perspektive nach Brandtstädter beleuchtet werden. Denn Rebellion selbst stellt immer auch eine Handlung dar und die Entwicklung hin zu ei- nem Antikonformisten kann eine selbstgesteuerte Handlung sein. Seine Entwicklung gestaltet jedes Individuum mit und die erworbene Handlungsfähigkeit kann genutzt werden, um die weitere Entwicklung selbst zu lenken. Es kann hiernach konkludiert werden, dass das Indivi- duum die Fähigkeit besitzt, seine Entwicklung durch sein eigenes Potenzial und seine Be- schränkungen mit auszubilden (vgl. Boerner/Jopp, 2007, S. 5 ff.).

Handlungstheoretische Ansätze gehen davon aus, dass das Verhalten des Menschen in Handlungseinheiten strukturiert ist. Handlung meint damit einerseits Intentionalität (Zielge- richtetheit) und andererseits, dass dieses Verhalten zumindest teilweise willentlich kontrol- liert werden kann. Ziele können dann eine handlungsleitende Funktion übernehmen, wenn das Verhalten nicht gänzlich von externen Reizen bestimmt ist. Dies bedeutet aber wiederum nicht, dass alle Handlungen unter der Kontrolle des Individuums stehen. Es ist festzuhalten, dass die Ansätze vielmehr einen theoretischen Rahmen darstellen als dass sie eine allgemein- gültige Theorie menschlichen Verhaltens und Erlebens abbilden. Entwicklung findet nicht ausschließlich auf der Ebene mehr oder weniger definierter Ziele statt, sondern auch auf einer Metaebene, die eine Selbstentwicklung mit sich bringt. Das heißt, dass sie ihre Ziele und Ideen bezüglich ihrer individuellen Wünsche, Werte und Normen sowie (moralischen) Ein- stellungen ausbilden (vgl. Freund, 2007). Zusammenfassend sind Handlungen folglich als regelbezogenes, (teil)bewusstes, stückweise kontrolliertes und zielgerichtetes Verhalten einer Person zu verstehen (vgl. hierzu ausführlich Greve, 1994).

Die Realisierung von Absichten wird insbesondere in Handlungsmodellen wie dem Ru- bikon-Modell nach Heckhausen und Gollwitzer (1987) hervorgehoben. Es differenziert zwi- schen vier Motivations- und Volitionsphasen: In der Vor-Entscheidungsphase (pr ä dezisiona- le Phase) werden Ziele nach den Kriterien der Wünschbarkeit von kurz und langfristigen Folgen auf realitätsorientierter Basis in eine Rangordnung gebracht. Neben individuellen Vorlieben müssen auch altersrelevante, soziale Erwartungen und Normen Berücksichtigung finden, da sie sowohl die Zielerreichung mitbestimmen als auch als Indikator für die Umsetzbarkeit eines Zieles angesehen werden können.

Die Vor-Handlungsphase ( pr ä aktionale Volitionsphase) ist geprägt durch das Fassen einer verbindlichen Intention, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Darüber hinaus werden auch konkrete Handlungsvorsätze zur Realisierung des Zieles formuliert. Verinnerlichte Handlungsstrategien wie die der Assimilation oder Akkomodation sowie Handlungs- und Lageorientierung werden an dieser Stelle aktiviert. Abhängig von den situationalen Bedingungen und Gelegenheiten zur Ausführung einer Intention wird die Handlung initiiert. Die Überschreitung des Rubikons hat stattgefunden.

In der dritten Phase ( Handlungsinitiierung und aktionale Volitionsphase ) geht es um die Umsetzung der Handlungsabsichten. Entscheidend dabei ist immer, in welcher Nachdrück- lichkeit die Ziele verrichtet werden und wie günstig sich die Realisierungsmöglichkeiten ges- talten.

Die vierte Phase, die Nach-Handlungsphase (postaktionale Volitionsphase) , kennzeich- net sich durch die Beurteilung der Handlungsergebnisse. Wurde das angestrebte Ziel nicht erreicht, werden die bereits eingesetzten Verfolgungsstrategien verstärkt oder, falls diese keinen Erfolg gezeigt hatten, neue Zielerreichungswege eingeschlagen. Ist das Ziel hingegen erreicht worden, wird die Intention deaktiviert und künftiges Handeln geplant (vgl. ebd.).

Als mögliche handlungsregulierende Einflussfaktoren auf ein Individuum sowie auf die Ausprägung seiner Zielverfolgungen, die gerade bei dem Phänomen „Rebellion“ bedeutsam sind, werden im Folgenden die Eigenschaften „Selbstwirksamkeit“, „Selbstwert“ sowie die Handlungsstrategien „Assimilation“ und „Akkomodation“ definiert. Diese vier Co-Variablen sollen in der Arbeit als Moderator- bzw. Mediatorvariablen fungieren und neben der Bindungstheorie sowie der Geburtsrangtheorie je nach ihrer Ausprägung als Prädiktoren für rebellierendes Handeln und Verhalten betrachtet werden.

2.3.1 Selbstwert und Selbstwirksamkeit

Der Selbstwert umfasst den Ausdruck der Wertschätzung, die der eigenen Person entgegen- gebracht wird, d.h. der Bewertung in konstruktiver oder destruktiver Ausprägung. Rosenberg (1965) definiert den Begriff wie folgt: „ Mit dem Selbstwert beziehen wir uns auf die Bewer- tung, die das Individuum bez ü glich sich selbst vornimmt und ü blicherweise aufrechterh ä lt: Diese Bewertung dr ü ckt eine Einstellung der Anerkennung oder Missbilligung aus “ (http://www.verlagdrkovac.de/pdf/0400/0400_5.pdf, S. 15). Eine grundsätzliche Kontroverse bei der Erforschung des Selbstwertes besteht darin, ob es bei diesem Konstrukt um eine ein- heitliche globale Betrachtung und Bewertung der eigenen Person geht oder ob es sich um ein untereinander weitgehend unkontrolliertes Set von Evaluationen einzelner Lebens- und Handlungsbereiche handelt, wie es sich analog zur Struktur der Intelligenz debattieren ließe (vgl. ebd., S. 17).

Das Konstrukt der Selbstwirksamkeit ist im Wesentlichen auf die Gedanken von Robert White (1960) zurückzuführen, der mit dem Begriff „feeling of efficacy“ die kognitiv verfüg- bare Überzeugung des Individuums bezüglich seines eigenen Wirkens beschreibt. Diese An- nahme einer kognitiven Ressource gemäß der Effizienz des eigenen Handelns bettete Bandu- ra (1977) in einen sozialpsychologischen Zusammenhang ein und verwendete sie im Rahmen seiner sozialen Lerntheorie. Er verstand das Konstrukt ursprünglich als aufgabenbezogen und definierte es als die „Ü berzeugung, dass man das Verhalten, das notwendig ist, um das ange- strebte Ziel zu erreichen, erfolgreich zeigen kann “ (http://www.verlagdrkovac.de/pdf/0400/0400_5.pdf, S. 23). Ein Ansatz von Sherer et al. (1982) bezieht sich auf die Generalität und gestaltete Banduras Konstrukt in dem Sinne um, dass er in Abkehr von seiner Idee der Aufgabenbezogenheit der Selbstwirksamkeit, von ei- nem einzigen „Trait“ der generalisierten Selbstwirksamkeit spricht. Er versteht darunter das globale Vertrauen einer Person in sich selbst bezüglich der erfolgreichen Lösung von Aufga- ben. Individuen, die auf einen reichen Erfahrungsschatz an Erfolgserlebnissen zurückgreifen können, weisen somit eine höhere generalisierte Selbstwirksamkeit auf (vgl. ebd., S. 23).

Im Zusammenhang mit der Handlungstheorie kommt dieser Kompetenzerwartung einer Person an sich selbst eine wichtige Rolle zu. Denn die Selbstwirksamkeit ist eine handlungs- steuernde Funktion und bestimmt bezüglich der eigenen Fähigkeiten, wie die Person sich fühlt, motiviert, denkt und handelt (vgl. Schwarzer/Jerusalem, 1989, zit. nach http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb77.pdf, S. 15.). Ihre Ausprägung und ebenfalls die des Selbstwertes8 kann wiederum für das Vorhandensein bzw. den Ausprägungsgrad von antikonformen Verhalten von Bedeutung sein, da beide mit beeinflussen, wie ein Mensch sich selbst wahrnimmt und seine Persönlichkeitsfacetten und mögliches Handlungspotential ausschöpft.

2.3.2 Assimilation und Akkomodation

Bewältigungsstrategien („Coping“) können im Rahmen dieser Arbeit als ein Vorgang ver- standen werden, der sich auf das Verhalten bezüglich belastender oder bedrohlicher Heraus- forderungen bezieht, denen antikonform handelnde Personen vermehrt ausgesetzt sein kön- nen bzw. mit denen sie sich auseinandersetzen. In Anlehnung an Brandtstädters theoretischen Ansatz sind generell zwei Modi einer Bewältigungsreaktion zu unterscheiden. Im assimilati- ven Modus werden bei gleich bleibenden Zielen, Standards und Orientierungen aktive An- strengungen für eine Problemlösung/Zielerreichung unternommen. Im akkomodativen Bew ä l- tigungsmodus nimmt das Individuum die Auflösung der belastenden Konstellationen vor. Durch Um- und Neubewertungen werden Präferenzbildungen sowie kognitive Restrukturie- rungen aufgelöst (Brandtstädter, 1998, zit. nach http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb77.pdf, S. 28 f.). Die Bereitschaft, die beiden Reak- tionsmodi zu nutzen, variiert interindividuell. Bewältigung (auch Zwei-Prozess-Modell ge- nannt) beschreibt also einen Vorgang, bei dem Anforderungen gesteuert und organisiert wer- den, so dass letztlich die Überwindung eines Hindernisses stattfindet. Die Erfahrung, die aus dieser Überwindung resultiert, besitzt dann wieder einen Einfluss auf die Anwendung und Bewertung dieser Strategie. Diese Anpassungsprozesse beinhalten nach den Lebensspannen- Entwicklungstheorien, zu denen Copingstrategien ebenfalls gehören, Aufschwung-, Aufrech- terhaltungs- und Neuorientierungsprozesse, die sich im Laufe des Lebens und des Alterungs- prozesses durchaus ändern können (vgl. Boerner/Jopp, 2007; Hellmers, 2010).

Es wird ersichtlich, dass Bewältigungsressourcen gerade bei antikonform handelnden Persönlichkeiten einen wichtigen Stellenwert einnehmen können. Sie sind dabei in assimila- tiver Ausprägung zu vermuten, wie aus der Arbeitsdefinition zu einem sich rebellisch verhal- tenden und agierenden Individuum mit Eigenschaften, wie „überdauernder Zielgerichtetheit“, hervorgeht.

2.3.3 Externalisierendes / internalisierendes Verhalten und Geschlecht

Es ist sinnvoll an dieser Stelle einen kurzen Exkurs zu externalisierenden sowie internalisie- renden Verhaltenstendenzen und Geschlecht zu geben, da das Geschlecht ebenfalls im Zu- sammenhang mit dem Phänomen „Rebellion“ und handlungsorientiertem Verhalten stehen kann.

Externalisierende Verhaltensweisen, (d.h. das nach-außen auf die Umwelt Verlagern von eigenen Prozessen), umfassen beispielsweise Aggressionen oder hyperkinetische Störungen. Sie stehen internalisierendem Verhalten, wie Ängstlichkeit oder Depressivität, gegenüber (vgl. Achenbach, 1982, zit. nach Petermann/Scheithauer, 1998). Befunde zur Auftretens- Häufigkeit psychischer Störungen verdeutlichen, dass das männliche Geschlecht bei den ex- ternalisierenden, das weibliche bei den internalisierenden Verhaltensweisen überwiegt. Die- ser tendenzielle Unterschied zwischen den Geschlechtern kann ungefähr ab dem vierten bis fünften Lebensjahr beobachtet werden und vertieft sich nach Schuleintritt sowie nach Einset- zen der Pubertät. Unter anderem führen verschiedene Sozialisations- und Erziehungsprakti- ken dazu, dass geschlechtsstereotypes Verhalten bei Mädchen durch die Eltern und Personen des sozialen Umfeldes verstärkt werden, wie prosoziales Verhalten, Zurückhaltung und Emo- tionalität. Jungen dagegen sind motorisch expansiver und werden für ihr Rollenverhalten, wie z.B. wild, frech oder emotional eher unantastbar und „stark“ zu sein, verstärkt (vgl. Zahn-Waxler, 1993, zit. nach ebd.).

Es ist das externalisierende Verhalten, das vorrangig im konkreten Zusammenhang mit rebellischem Handeln betrachtet werden kann, da dieses häufig bestimmendes oder aggressi- ves Auftreten, das Fokussieren auf ausschließlich sich selbst sowie die Inkaufnahme der be- wussten Verletzung oder Diffamierung anderer, erfordert. Schlussfolgernd könnte somit die Vermutung nahe liegen, dass unter rebellisch handelnden Personen eher das männliche als das weibliche Geschlecht anzutreffen wäre. Die Ergebnislage hierzu soll im Diskussionsteil kurz aufgegriffen werden.

3 Frank J. Sulloway: Die Geburtsrangtheorie

„ Eine arme Witwe [ … ] hatte zwei Kinder, [ … ] das eine hie ß Schneewei ß - chen, das andere Rosenrot. [ … ] Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fing Sommerv ö gel: Schneewei ß chen aber sa ß daheim bei der Mutter, half ihr im Hauswesen oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war. “

Gebr üder Grimm

Etwa 50 Prozent ihres genetischen Erbmaterials ist identisch, nichtsdestotrotz unterscheiden sich Geschwister sehr häufig in ihrer Wesensart bezüglich Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen. Obgleich Märchenfiguren und nicht notwendigerweise repräsentativ, zeigt der Auszug des Märchens der Gebrüder Grimm einleitend, wie trotz ähnlicher Sozialisationserfahrungen und Erziehungsmethoden Verhaltensentwicklungen vollkommen unterschiedlich verlaufen können (vgl. Klasen, 2000).

Geschwisterliche Beziehungen sind nicht nur durch häufige Andersartigkeit, sondern üblicherweise ebenso durch zwei Gemeinsamkeiten beschrieben; nämlich den Gefühlen von Liebe und Rivalität zueinander. Ob in der Bibel, Antike, späteren Sagen, Märchen oder Romanen - Geschwisterpaare sind immer wieder Akteure, wenn es um tiefe menschliche Gefühle geht (vgl. Lüscher, 1997). Die Erzählung von Kain und Abel beispielsweise ist wegweisend für Geschwisterrivalitäten, und die Aktualität des Motivs der „verfeindeten Brüder“ sowie des Geschwisterkonflikts hat in der vor- wie nachchristlichen Weltliteratur nicht minder Beachtung gefunden (vgl. Frenzel, 1992).

Für Begründungen geschwisterlicher Rivalität und Unterschieden in ihrer Persönlich- keitsentwicklung können verschiedenste Ursachen herangezogen werden. Der Historiker Frank J. Sulloway (*1947) widmete sich über zwanzig Jahre dieser Thematik mit der For- schungsfrage, weshalb manche Menschen ihr Leben lang eher konservativen Haltungen treu bleiben und starr den Status quo verteidigen, wohingegen andere Bestehendes und aktuelle Denkansätze durchbrechen (wollen); warum einige Wissenschaftler neue theoretische Ansät- ze ablehnen, während andere geradewegs auf der Suche nach revolutionären Innovationen sind; wieso sich das eine Individuum zu einer verantwortungsbewussten, ehrgeizigen aber angepassten Persönlichkeit entwickelt und das andere unterdessen vielschichtige Interessens- gebiete verbunden mit radikalen Ansichten ausbildet und zum „Rebellen“ wird.

In Anlehnung an Darwins Evolutionstheorie, nach der um Ressourcen aller Art, d.h. auch um die Liebe der Eltern gekämpft werden muss, untersuchte Sulloway in empirischen Studien die Sozialisationsrelevanz von Geschwisterbeziehungen in Verbindung mit der Ge- burtenfolge sowie den daraus resultierenden Differenzen zwischen Geschwistern. Er gene- rierte Hypothesen zu den Persönlichkeitseigenschaften Erst- und Spätergeborener, die seiner Auffassung nach logische Folge von Geburtenrang und den sich entwickelnden Geschwister- strategien seien9. Ausgehend von fünf das Individuum charakterisierenden Persönlichkeits- dimensionen sieht sich ein Kind, je nach Geburtsposition, anderen Herausforderungen in der Familie gestellt und bildet besonders eine dieser Dimensionen „Offenheit für Erfahrung“ unterschiedlich aus. Sulloways Überzeugung nach ist der Spätergeborene, bedingt durch die Nischenbesetzung des Erstgeborenen, der Aufständler in der Familie. Somit hat also die Posi- tion in der Geschwisterkonstellation Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat, insbesondere auf Merkmale, die sich um Nonkonformismus, Risikobereitschaft oder Konser- vatismus herum bündeln.

Bevor auf das Thema „Geschwisterposition und Persönlichkeit“ eingegangen wird, das Sulloway mit seiner groß angelegten Untersuchung erneut in den Fokus der bis dato als abgeschlossen erklärten Forschung rückte, soll vorab zum Ursprung der Geschwisterpositionsforschung zurückgeblickt werden. Denn nur aus diesem Ursprung heraus konnten weitere Untersuchungen folgen, die letztlich auch Sulloway für seine Hypothesen und Herangehensweisen befähigten und damit für diese Arbeit in der Gesamtidee als Perspektive zur Erklärung des Phänomens „Rebellion“ herausgegriffen werden konnte.

3.1 Selektive Studien und Analysen zur Geburtenfolge

Wenn auch größtenteils unbewusst, üben Geschwister dennoch einen bedeutenden Einfluss aufeinander aus, „ da diese Art der Beziehung ein Bewusstsein f ü r die eigene Pers ö nlichkeit und ein Gef ü hl von Konstanz durch das Wissen um Bruder und Schwester als berechenbare Personen vermittelt “ (vgl. Bank/Kahn, 1989). Diese unkündbare geschwisterliche Primärbe- ziehung (vgl. Kasten, 1998) kann sehr unterschiedlich geprägt sein und dies gilt ebenfalls für ihre Geburtenfolge: Es waren die Erstgeborenen, denen vorrangige Rechte, aber auch dazu- gehörige Pflichten zu teil wurden, um den Fortbestand der Familie sowie die Weitergabe von Traditionen und Bräuchen zu sichern. Bis zur Zeit der Französischen Revolution (1789) lag das Erstgeburtsrecht, die Primogenitur vor, d.h. die Konvention der ungeteilten Vererbung allen Grundbesitzes an den (männlichen) Erstgeborenen (vgl. Sulloway, 1997, zit. nach Kahn, 2000). Teilweise wird auch noch bis heute in einigen Kulturkreisen von dieser Tradition Gebrauch gemacht. Zwar liegt rivalisierendes Verhalten zwischen Geschwistern nicht primär in den von Kulturen eingeführten Traditionen begründet, sondern ist wesentlich tiefer angelegt, aber dennoch liefern sie eine weitere Idee für sich entwickelnde Konflikte und oftmals unterschiedliche Charakterausbildungen.

Mit entsprechenden Gedanken befasste sich der Begründer der Individualpsychologie (1920er Jahre) und Forscher der sozialen menschlichen Entwicklung, Alfred Adler (1870 - 1937). Auch tituliert als „Vater der Geschwisterforschung“ maß er der Geschwisterposition (Geburtsrang) erstmals eine Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung bei (vgl. Kasten, 1998) und begründete zu Beginn der 1930er Jahre die Geschwisterkonstellationsforschung. Der Einfluss der Geschwisterposition sei ebenso groß wie der des Geschlechtes und der Eltern und somit identitätstiftend (vgl. Klasen, 2000). Er prägte den Begriff der „Entthronung“, ein aus tiefenpsychologischer Sicht entstehendes Trauma, das der Erstgeborene durch ein nach- folgendes Geschwister durchlebt und das ausschlaggebender Faktor für Geschwisterrivalitä- ten sei. Nach Adler wird der Erstgeborene vom sozialen Umfeld sehnsüchtig wie ein Prinz empfangen, genießt ungeteilte elterliche Zuwendung und Aufmerksamkeit. Wird ein Ge- schwister geboren, so ändert sich dieser Zustand abrupt, der Ältere muss seine Einmaligkeit anzweifeln (vgl. Ansbacher/Ansbacher, 1972, zit. nach Klasen, 2000). Diesem, möglicher- weise in einer Pathologie mündenden „Entthronungstrauma“ kann jedoch durch gezielte Vorbereitung des Erstgeborenen auf den Nachwuchs durch die Eltern vorgebeugt werden. Findet diese statt, nimmt das Kind normalerweise schnell die Beschützerrolle ein und eifert damit seinen Eltern nach. Dieses Sympathisieren mit den Eltern führt nach Adler zur Verin- nerlichung konservativer Theorien und Autoritäten: „ Alles soll durch Regeln gelenkt werden, und alle Regeln sollen unver ä nderlich sein “ (Adler, zit. nach Ansbacher/Ansbacher, 1972, S. 350).

Der Zweitgeborene hingegen sei aufgrund der gewohnten Situation, die elterliche Auf- merksamkeit stets teilen zu müssen, gemeinschaftlicher, jedoch nicht bereit seinen Status als zweitrangig anzuerkennen, weshalb er fortwährende Bemühungen zeigt mit seinem älteren Geschwister Schritt zu halten: „ Im sp ä teren Leben kann der Zweite selten die strenge F ü h- rung anderer ertragen oder sich mit dem Gedanken ewiger Gesetze vertraut sein. Es ist im- mer geneigt daran zu glauben ( … ), dass es in der Welt keine Macht gibt, die nicht gest ü rzt werden kann. Vorsicht vor seinen revolution ä ren Finessen “ (ebd., S. 351)! Adlers Meinung nach steht das jüngste Geschwister („Nesthäkchen“) nie im Wettbewerb zu seinen älteren Geschwistern, habe aber durch die Letztgeborenensituation viele „Schrittma- cher“, denen es nachzueifern gelte (vgl. Adler, 1993, zit. nach Klasen, 2000). Da die Bezie- hung zwischen Geburtsrang und Persönlichkeitsentwicklung bekanntermaßen von mehreren Faktoren abhängt, konnten seine oben beschriebenen Annahmen somit nicht handfest bestä- tigt werden.

Adlers Theorie gab letztlich den Anstoß für Jahrzehntelang folgende Studien zu diesem Thema von denen aber nur Wenige mehrere Variablen der Geschwisterposition berücksich- tigten. Zu diesen „wenigen“ gehörte die der amerikanischen Psychologin Helen Koch.

Koch betrachtete die Geschwisterposition als eine Variable von mehreren und maß ihr vorerst keine gesonderte Rolle bei. Im Jahr 1956 veröffentlichte Koch jedoch eine Studie, in der sie 384 weiße fünf- und sechsjährige Kinder aus intakten Zwei-Kind-Familien untersucht hatte. Hierbei konzentrierte sie sich auf den Geburtsrang, das Geschlecht, das Geschlecht des Geschwisters und deren Altersabstand zueinander (unabhängige Variablen) und setzte diese Variablen in Zusammenhang mit der Persönlichkeit. Sie unterteilte die Geschwisterkinder in drei Altersabstandsgruppen (Alterabstand von weniger als zwei Jahren, zwischen zwei und vier Jahren und mehr als vier Jahren). Ihre Lehrer hatten die Aufgabe, die Kinder auf 58 Merkmale hin zu beurteilen (abhängige Variablen), welche soziale und emotionale Aspekte sowie ihre Arbeitshaltung umfassten (z.B. Selbstvertrauen, Reizbarkeit, Grad an emotionalen Reaktionen, Umgang mit Niederlagen).

Es kann zu dieser Studie zusammenfassend festgehalten werden, dass Koch Haupteffekte einerseits hinsichtlich des Geschlechts und andererseits des Geburtsranges der Versuchs- personen feststellen konnte: Während Jungen als streitsüchtig, unkooperativ, aktiv und skep- tisch eingeschätzt wurden, galten die Mädchen als gehorsam, verantwortungsbewusst, be- harrlich und affektiv. Diese Befunde kamen dem verankerten Geschlechterrollenstereotyp gleich.

Bezüglich des Geburtranges wies sie nach, dass Erstgeborene im Vergleich zu Zweitge- borenen emotionaler und externalisierender bezüglich ihrer Wut reagieren, ängstlicher sowie defensiver sind und sich Sorgen um ihren Status machen, was sie letztlich energischer auf ihren Rechten beharren lässt (vgl. Klasen, 2000). Die Gewichtung der Geburtenfolge lag je- doch teilweise in Wechselwirkungseffekten mit den anderen unabhängigen Variablen be- gründet wie in dem Geschlecht: Während Erstgeborene mit einem gegengeschlechtlichen Geschwister höhere Werte in den Merkmalsbereichen „Eifersucht“, „erhöhtes Aufmerksamkeitsbedürfnis“ und „Dominanz“ erreichten, fielen die der gleichgeschlechtlichen Geschwisterpaare geringer aus. Bei den Zweitgeborenen zeigte sich ein umgekehrter Effekt. Die Forscherin selbst konstatierte, dass einige Ergebnisse sicherlich Resultat der untersuchten Altersstufe seien und zudem, da der Fokus auf Zwei-Kind-Familien lag, Befunde nur eingeschränkt verallgemeinert werden dürften. Dennoch konnte sie aufzeigen, dass Geburtenränge die Persönlichkeit formen (vgl. ebd.).

Obwohl sich ein systematischer Ausbau Kochs Untersuchung und ein Profitieren aus ihren Ergebnissen freilich angeboten hätte, folgten bis in die 90er Jahre hinein jedoch Studien, die die Möglichkeit weiterer Einflussfaktoren neben der der Geschwisterkonstellation auf die Persönlichkeitsentwicklung unberücksichtigt ließen. Kastens Auffassung nach unterstelle man eine Ursache-Wirkungs-Beziehung, wo nur statistische Korrelationen zwischen ausgewählten Geschwisterkonstellationen und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen berechnet wurden (vgl. Kasten, 1994, zit. nach Klasen, 2000).

Selbstverständlich kann nicht allen Geschwisterkonstellationsstudien methodische Lückenhaftigkeit vorgeworfen werden. Nichtsdestotrotz brachten die Befunde unterschiedlicher Studien zum Temperaments-/Charakterbereich der Persönlichkeit und dem Geburtsrang zum Teil keine konsistenten Ergebnisse, widersprachen sich oder konnten wegen Ad-hoc- Erklärungen nicht verallgemeinert werden10.

Die Resultate wurden immer undurchsichtiger und heterogener (vgl. z.B. Bos- hier/Walkey, 1971; MacDonald, 1969; Longstreth, 1970). Eine Bibliographie der Geburts- rangplatzliteratur der 1970er Jahre publizierte Forer (1977). Die Studien boten aber keine konsistenten Ergebnisse und es folgten viele Kritiken. Aufgrund dieses Forschungs- durcheinanders setzten sich die beiden Schweizer Psychiater C é cil Ernst und Jules Angst kritisch mit der Forschungsthematik auseinander. Im Jahr 1983 legten sie die Ergebnisse ih- rer umfassenden Literaturrecherche von Studien vor, die die Jahre ab 1946 bis 1980 berück- sichtigten. Sie schlussfolgerten, dass die meisten Untersuchungen lediglich entscheidende Faktoren und Hintergrundinformationen unberücksichtigt ließen (wie z.B. Familiengröße, Schichtzugehörigkeit), was wiederum unter Miteinbeziehung dieser Faktoren zu einem ver- schwindend geringen Einfluss der Geschwisterposition und deren Anzahl auf die Persönlich- keit führe. Mit der radikalen Schlussfolgerung, dass Geburtsrangeffekte eine bloße „Schein- wahrheit“ seien, galt dieses Thema als abgeschlossen. Die Publikationen zum Thema Gebur- tenfolge gingen deutlich zurück, bis Sulloway, wie eingangs erwähnt, diese Forschungsfrage erneut kritisch aufgriff und das Fazit von Ernst und Angst (1983) aufgrund seiner Metaana- lyse in Frage stellte. Er kam zu dem Schluss, dass der Grad in dem die Geburtenfolge die Persönlichkeit formt, signifikant variiert, je nach Bereich, der analysiert wird (vgl. Sulloway, 1997).

3.2 Die Geburtsrangtheorie Sulloways: Evolutionstheoretischer Hintergrund

Nach Sulloway sind Geschwisterdifferenzen die Folge von fünf evolutionstheoretischen Prinzipien (siehe Abbildung 1) (vgl. Sulloway, 1997) bzw. liegen in einem von dem briti- schen Naturforscher Charles Darwin formulierten Divergenzprinzip begründet (vgl. ebd.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 01: Die fünf Prinzipien der Darwinschen Evolutionstheorie (vgl. ebd., Tab. 3).

Im Daseinskampf aller Lebewesen gilt, so Darwins Entdeckung, dass nur jenes Individuum überleben und sich fortpflanzen kann ( Nat ü rliche & Sexuelle Selektion ), das zu einer idealen Anpassung an die bestehenden Umweltbedingungen in der Lage ist11 (vgl. Buss, 2004). Der Kampf ums Überleben („Survival of the fittest“) wird aber nicht nur zwischen ein und der- selben Art ausgefochten, sondern aufgrund knapper Ressourcen innerhalb einer Nische, um die konkurriert wird, auch artenübergreifend. Schafft es eine Art nicht sich gegenüber der anderen durchzusetzen, wird sie verdrängt oder stirbt langsam aus (vgl. Metzler, 1991). Ne- ben den beiden klassischen Prinzipien bestehen neuere Theorien, von denen die dritte Evolu- tionstheorie der Verwandtenselektion (1963) von William D. Hamilton (1936 - 2000) stammt. Hiernach zeigt das Individuum nicht nur egoistische, sondern aufgrund eines ge- meinsamen genetischen Anteils auch altruistische Verhaltensweisen gegenüber Verwandten. Resultierend aus dieser Theorie konnten zwei weitere Prinzipien abgeleitet werden, die der Eltern-Kind-Konflikte und der Geschwister-Konflikte .

Nach den Eltern-Kind-Konflikten dürfen die elterlichen Aufwandsbetreibungen ge- genüber dem Kind nicht den genetischen Nutzen übersteigen, da Eltern und Nachkommen letztlich nur die Hälfte ihres Erbmaterials teilen. Da das elterliche genetische Interesse darin liegt, weitere Nachkommen zu zeugen, investieren sie nur bis zu dem Zeitpunkt in ihr Erst- geborenes, bis es eigenständig überlebensfähig ist. Anschließend wird der Fokus auf das er- neute Zeugen von Nachkommen gelegt. Das Prinzip des Geschwisterkonflikts wiederum umfasst die Konkurrenzsituation zwischen Geschwistern um elterliche Fürsorge und Pflege. Nach dem Sozio- und Evolutionsbiologen Trivers (*1943) resultiert dieser Konflikt, der bis zur Tötung reichen kann, aus dem Vorhandensein der Hälfte des Genmaterials, was Vollge- schwister vom gleichen Elternteil haben, wohingegen sie mit sich selber hundertprozentig verwandt sind. Dieses Verwandtschaftsverhältnis führt zu einer Missgunst jeglichem Pflege- aufwandes eines Geschwisters gegenüber dem anderen, der durch die Eltern betrieben wird (vgl. Gattermann, 1993). Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass aus evolutionstheoretischer Sicht der Erstgeborene für die Eltern die größten Reproduktionschancen besitzt und somit die Investition in ihn steigt, denn seine Überlebenschancen sind im Vergleich zum Spätergebore- nen höher angesiedelt und damit auch die Weitergabe der elterlichen Gene durch Fortpflan- zung. Entwickelt sich jedoch ein spätergeborenes Kind in die Richtung eines viel verspre- chenden Nachkommen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit elterlicher Aufmerksamkeit und Förderung ihm gegenüber.

Aus diesem Grund ist es für ihn entscheidend einen strategisch geeigneten Platz, eine so genannte Nische in der Familie zu besetzen, von der aus ebenfalls die lebenswichtigen Res- sourcen bezogen werden können. Bestimmte Nischen sind bereits durch den Erstgeborenen und ggf. durch weitere ältere Geschwister belegt. Deshalb müssen Spätergeborene mannig- faltige Entwicklungsrichtungen einschlagen, die sich nach Sulloway durch die besonders ausgeprägte Eigenschaft der Offenheit für Erfahrungen herausdifferenzieren lassen, aber auch in der strategischen Bildung eines einzigen unangefochtenen Spezialgebietes münden können (vgl. Sulloway, 1997). Vielfalt und Spezialisierung reduzieren demnach die Konkur- renz um knappe Ressourcen und verhelfen zum Finden einer unbesetzten Nische (vgl. ebd.).

Die knapp dargestellten Theorien verdeutlichen somit den evolutionstheoretischen Hintergrund aus dem heraus Geschwister schlussfolgernd nach dem Darwinschen Prinzip der Divergenz handeln, einer offensiven Strategie, die die Verminderung direkter Konkurrenz zueinander durch Bildung von Gegensatzeffekten beinhaltet; in Schachters Worten auch als Desidentifikation12 bezeichnet (vgl. ebd.).

3.3 Grundzüge der Geburtsrangtheorie

Sozialisationstheoretisch wird davon ausgegangen, dass ein Teil der Persönlichkeits- eigenschaften und Verhaltensweisen eines Menschen auf Umweltbedingungen, der andere auf seine genetische Ausstattung sowie die Wechselwirkung beider Teile miteinander zu- rückzuführen sind. Somit vollzieht sich der Subjektwerdungsprozess in einem Wechselspiel von Anlage und Umwelt und die exogenen wie die endogenen Entwicklungsfaktoren stehen mit dem Individuum in kontinuierlicher Interaktion (vgl. Hurrelmann, 2002). Wissenschaft- lich einwandfrei lassen sich demnach die konkreten Persönlichkeitsmerkmale wahrscheinlich nie zuordnen (vgl. Frick, 2004). Als gesichert gilt hingegen, dass kindliche Erfahrungen im Normalfall zunächst in der Familie gemacht werden und den ersten persönlichkeitsprägenden Einfluss und Sozialisationskontakt darstellen, entweder durch zum Beispiel sich zufällig ab- spielende Erfahrungen oder durch regelmäßige systematische Ereignisse. Sulloway stellt je- doch in seiner Theorie, entgegen der oben angesprochenen landläufigen Erkenntnisse, die enorme Bedeutung elterlichen systematischen Verhaltens gegenüber den Kindern in den Vordergrund, sieht also den Ursprung innerhalb der Familie, denn trotz aller guten Absichten behandeln Eltern ihre Kinder (unbewusst) nicht gleich. Dadurch würde geschwisterliche Rivalität geschürt werden, die nach Sulloway zwangsläufig in gewissen Persönlichkeits- und Handlungsschemata, insbesondere des Zweit- bzw. Spätergeborenen münden (siehe auch Kapitel 4.2) (vgl. Sulloway, 1997).

Wie bereits in der Einführung dieses Kapitels dargestellt, betont Sulloway zum einen das Bestehen von Geburtsrangunterschieden und zum anderen die Möglichkeit, dass diese in vorhersehbare Verhaltensklassen eingeordnet werden können. Seine Frage lautet, welche Strategien Kinder, die sich bedingt durch ihre Geburtenfolge voneinander unterscheiden, einsetzen, wenn sie um die elterliche Gunst konkurrieren (vgl. ebd.). Sein Augenmerk richte- te sich dabei auf die fünf Persönlichkeitsdimensionen, den „Big Five“13, anhand derer er festmachte, dass die Geschwisterstrategien als logische Folge des Geburtsranges zu betrach- ten sei. Da der Fokus auf die Big Five und eine tief greifende Erläuterung dieser jedoch für das Verständnis dieser Arbeit nicht von ausschlaggebender Relevanz ist, wird die folgende Darstellung im Sinne eines Auszuges seines Forschungsansatzes verstanden und lediglich auf eine knapp gehaltene Zusammenfassung reduziert.

Sulloway beschäftigte sich mit dem evolutionären interfamiliären „Rüstungswettlauf“, woraus seines Erachtens das rivalisierende Verhalten und die Differenzen der Geschwister untereinander resultieren. Er fasste Studien aus 500 Jahren historischer Geschichte mit dem Schwerpunkt auf epochale Charaktere sowie deren Geburtsrang und Persönlichkeits- eigenschaften zusammen, um diese Informationen und Fakten in den Zusammenhang von Geschwisterrivalitäten einzubetten. Mit der Überzeugung, dass „ bestimmte Menschen ( … ) gleichsam zur Rebellion geboren [seien] “ (ebd., S. 13 f.) beendete er seine Untersuchung, durch welche er glaubte, radikales Denken und rebellisches Verhalten als herausragende Merkmale von Geschwisterunterschieden herauskristallisiert zu haben.

Begründet vor dem evolutionstheoretischen Hintergrund der Nischenbildung, die seit den 1990er Jahren als diskutierter Prozess zur Debatte steht, ist nach Sulloway der Späterge- borene „der Rebell der Familie“ (Sulloway 1997). Denn er tritt durch Risikobereitschaft und die Offenheit für radikale Innovationen in Erscheinung, wohingegen sich der Erstgeborene durch Konformismus und generelle Risikoscheue auszeichnet. Für jede Dimension der Big Five formulierte er Unterschiede im Geburtsrang. Die, einen Rebellen charakterisierenden Persönlichkeitseigenschaften stellten die unter der fünften Dimension „Offenheit für Erfahrungen“ subsumierten Begrifflichkeiten dar, wie Interesse, Unkonventionalität, Kreativität und Abendteuerlust. Aus diesem Grund soll eine Darstellung der Unterschiedlichkeiten zwischen den Geschwistern bezüglich der restlichen vier Faktoren an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben und stattdessen auf weiterführende Literatur verwiesen wird14.

Sulloway postulierte ein höheres Rangieren für die Spätergeborenen, da sie als die „Zu-kurz- Gekommenen“ der Familie Erfahrungen mit Unterdrückung und Bevormundung gemacht haben und lernten, Autorität zu hinterfragen, sich mit Konformitätsdruck auseinander- zusetzen und diesem trotzen zu müssen. Als diejenigen, die meist im Schatten ihre(r)/s älte- ren Geschwister(s) bezüglich Gleichberechtigung, Anerkennung und Stärke stehen, fühlen sie sich im Allgemeinen stark in unterdrückte Menschen ein und streben oftmals Verände- rungen moralischer und/oder gesellschaftlich-politischer Zustände an, die der Gleichstellung- förderung dienen sollen (vgl. ebd.).

Die Erstgeborenen aber, die durch das Nachfolgen eines Geschwisters fürchten, ihre Vorrangstellung zu verlieren, entwickeln seiner Ansicht nach den Ehrgeiz, den elterlichen Ansprüchen in vollstem Umfang Genüge zu tragen, um weiterhin in ihrem Wohlwollen zu stehen und diesen Sonderstatus nicht an das Geschwister abtragen zu müssen. Deshalb wer- den die Erstgeborenen ihrer Autorität höchst respektvoll begegnen und mit den elterlichen Werten und Normen konform gehen. Anders hingegen die Spätergeborenen, die nach dem Autor einen in Maßen offenen bzw. unabhängigen Denkstil übernehmen, sich also weniger mit den Eltern identifizieren, was wiederum Konflikte zwischen den Parteien erzeugt.

Diesbezüglich erkannte Sulloway in vielen der von ihm untersuchten Biografien, dass ausgeprägte Differenzen mit den Eltern ein höheres Maß an Offenheit für neue Erfahrungen zur Folge hatten und sich, wie bereits erwähnt, die allgemeine Autoritätsablehnung verstärk- te. Der Unabhängigkeitsgrad des Spätergeborenen reguliere hingegen wieder den Eltern- Kind-Konflikt, vorausgesetzt Erst- und Spätergeborene passen sich kontinuierlich charakter- lich in ihre Rollen ein, ohne die Nische des anderen in Anspruch zu nehmen (vgl. ebd.).

Hier schließt sich nach Sulloway der Kreis der für die Rebellion verantwortlichen Fakto- ren „Offenheit für Erfahrungen“ und Geschwisterposition. Nichtsdestotrotz betont er, dass der Forschungszweig zur Geburtenfolge bisher noch nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit und Achtung erhalten habe, weshalb die fünf Faktoren zwar in Studien teilweise anerkannt wurden, jedoch weitere differenzierte Forschungen vorgenommen werden sollten15 (vgl. ebd.). Es kann hierzu abschließend festgehalten werden, dass in der vorliegenden Arbeit von einer Schwerpunktlegung der Big Five in Kombination mit dem Phänomen „Rebellion“ ab- gesehen wird, weshalb differenzierteren Betrachtungen hierzu nicht nachgegangen wird.

3.4 Zusammenhang zwischen Geburtsrang und Rebellion

Mit von entscheidender Bedeutung für die vorliegende Forschungsarbeit ist bezüglich Sullo- ways Geburtsrangtheorie seine Idee der Nischenbildung. Hierin kann ein Ansatz gesehen werden, einen Zusammenhang zwischen Geschwisterposition und dem Phänomen „Rebelli- on“ herzuleiten, da ein Teil der Persönlichkeitsausbildung, die auch antikonformes Verhalten begünstigt, mit dieser Theorie begründet werden könnte. Da aus evolutions-theoretischer Perspektive betrachtet eine Nische bereits durch den Erstgeborenen belegt wird und zwar jene, die elterlichem Konformismus und Wohlwollen sowie einer weitestgehenden Überein- stimmen mit deren Werten und Normen gerecht wird, muss der Zweit- bzw. Spätergeborene einen anderen strategischen Platz finden bzw. sich eine andere Nische zu eigen machen, um die lebenswichtigen Ressourcen der Eltern zu beziehen. Es könnte so formuliert werden, dass die offensichtlichen, die elterliche Gunst fördernden Persönlichkeitstendenzen mit einherge- henden Verhaltens- und Handlungsstrukturen bereits vom Erstgeborenen abgedeckt werden. Er hat das Vorecht und zugespitzt formuliert ggf. die „bequemere“ familiäre Position inne, die elterlichen Vorstellungen und die anderer Autoritätspersonen weitestgehend zu erfüllen. Somit liegt die Aufgabe des „später Hinzugekommenen“ darin, sich innerhalb seines Ranges zu arrangieren und sich seine Nische zu erarbeiten. Ein Teil seiner Persönlichkeit muss sich unter diesen Voraussetzungen entwickeln und im Rahmen seiner angelegten evolutionstheo- retischen Mechanismen ebenfalls um die Gunst oder in jedweder anderen Form, um die elter- liche Aufmerksamkeit buhlen.

Zusätzlich muss er dem, sich immer komplexer gestaltenden Zusammenspiel von ver- schiedensten, das familiäre Mikrosystem formenden Einflussfaktoren, standhalten. Dies gilt ebenfalls für alle anderen Geschwister und gerade durch das Bestehen ihres Geschwister- ranges werden bestimmte Verhaltenstendenzen bei jedem Individuum der Familie begünstigt, eventuell sogar verstärkt.

[...]


1 Darwin, 1915, zit. nach Sulloway, 1997.

2 Brandtstädter, 2007.

3 Greve (2007) betont hierzu, dass nicht alle Menschen moralisch sind bzw. dies nicht auf gleiche Art und Weise. Sie unterscheiden sich in ihrem Ausmaß und ebenfalls im inhaltlichen Umriss ihrer Ansichten voneinander. Dieses Faktum gilt sowohl bezüglich des Vergleiches zwischen Personen „gleicher kultureller Herkunft aus derselben sozialen Gemeinschaft, mit der gleichen subkulturellen Zugehörigkeit, oft genug auch für Mitglieder derselben Familie“ (Greve, 2007). Das heißt, dass Moral nicht unbedingt die Werte und Ansichten der sozialen Umgebung widerspiegeln muss, sondern einen individuellen Entwicklungskomplex darstellt. Es gibt, was die Moralität anbelangt starke und folgenreiche Unterschiede zwischen Individuen, ganzen Gruppen oder auch Kulturen. Die Ansicht, es gäbe eine einzige allgemeingültig existierende Moral, findet nach dem Autoren gewiss nur in einer Minderheit, selbst unter den Moralphilosophen Zustimmung (vgl. ebd.).

4 Nach Rubikon gibt es eine Schwelle, die von der Emotion bis hin zur Handlung reicht. Gewisse Schwellen werden überschritten, andere wiederum nicht, was Menschen bezüglich ihrer Wesensart und ihrem Tun und Lassen voneinander unterscheidet (vgl. hierzu ausf ü hrlicher Kap. 2.3) .

5 Die Entwicklung während der Pubertät (Vorpubertät (ab dem ca. 11. Lebensjahr) über Pubertät bis zur Nach- pubertät (bis zum ca. 18. Lebensjahr) ist geprägt von Veränderungen auf drei großen Ebenen: körperlicher, psy- chischer und sozialer. Mit dem biosexuellen und körperlichen Wandel geht eine objektive und subjektive Kon- frontation und Auseinandersetzung des Individuums mit sich und seiner Erscheinung einher. Ferner beginnen die Heranwachsenden mit der Aneignung neuer Denk- und Handlungsweisen. Alte Werte und Normen, die eine Abhängigkeit zu Autoritäten zeigten, werden verworfen. Stattdessen wächst die Einsicht, dass autoritäre Ansich- ten nicht immer Gültigkeit besitzen müssen und die Meinungen sowie Verhaltensweisen der Freunde und Gleichaltrigen wichtiger sind. Das Streben nach persönlicher Autonomie ist eng an die Suche nach der eigenen Persönlichkeit gekoppelt und ebenso der Erwerb eines persönlichen Wertesystems. Dieses System ist handlungs- leitend und auf die Trennung zu kindlichen Denk- und Handlungsweisen bedacht. Das soziale Netzwerk wird zum Lieferanten und gleichzeitigem Produzenten von Krisen. Konflikte verweisen auf Bedürfnisse, Probleme und das Ausprobieren von Lösungen sowie auf die eigenen emotionalen Forderungen. Durch die Bewältigung findet sich der Heranwachsende in einer autonomen und sozialen Persönlichkeit wider (vgl. Oerter/Dreher, 2002).

6 Interessant wäre im Rahmen der inhaltlichen Annäherung an Rebellionsverhalten sicherlich ebenfalls die Betrachtung derjenigen Individuen mit einer besonderen Ausprägung rebellischen Verhaltens, im Zusammenhang mit psychopathologischen Extremen, die sich sicherlich vielen dieser Typen zuordnen ließen. Diese Ausführungen würden jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.

7 Synonym verwendete Bezeichnungen: z.B. Randalierer, Raufbold, Schläger, Lümmel, Stoffel.

Keupp (2005) wiederum verwendet die synonyme Bezeichnung „Rowdy“ für einen Rebellen. Es ist allerdings zu betonen, dass er diese Titulierung im Zusammenhang mit der bloßen Beschreibung von Subtypen des Autoritä- ren Charakters verwendet und der Rebell bzw. Rowdy im hier verstandenen Sinne einzig als Pseudorevolutionär auf der Basis der Identifikation mit einer neuen Autorität gegen bestehende Autoritäten rebelliert. Auf mögliche weitere Facetten eines Rebellen (bzw. nach seinem Verständnis „Rowdys“), geht er nicht ein (vgl. http://www.paed.uni-muenchen.de/~mitschau/source/videoonline/vorlesungen/data/wise05/infos/keupp1201.pdf,

S. 7).

8 Selbstwert und Selbstwirksamkeit können gegenseitigen Einfluss aufeinander ausüben aber ebenso auch in unterschiedlichen Ausprägungen ein Individuum formen, d.h. also unabhängig voneinander betrachtet werden. So ist es möglich, dass der Selbstwert einer Person sehr gering, ihre Selbstwirksamkeit in einem bestimmten Bereich aber hoch anzusiedeln ist, wie es zum Beispiel bei einem Mörder oder Tierquäler der Fall sein kann.

9 Neben der Geschwisterkonstellation (vgl. auch 4.1 - 4.4), obgleich Sulloway diese als den wesentlichen Faktor für rebellisches Verhalten sieht, müssen auch andere Prädiktoren herangezogen werden, um die Formung der Persönlichkeit und folglich unterschiedliches Verhalten und Handeln der Geschwister begründen zu können (z.B. Geschlecht, Alter, Altersabstand) (vgl. Kap. 4.3).

10 Konsistente Ergebnisse hingegen lieferten die Untersuchungen zu Intelligenzunterschieden zwischen Erst- und Spätergeborenen aus den 70er Jahren, die als gesichert gelten: die objektiv messbare Intelligenz sinkt mit Zu- nahme des Geburtsranges (vgl. z.B. Breland, 1973: Belmont et al., 1975, Zajonc, 1979; Zajonc et al., 1979, zit. nach Klasen, 2000).

11 Die sogenannten Darwinfinken stellen das bekannteste Beispiel für die Entdeckung dar, dass Arten nicht allesamt gleichartig sind. Zu diesem Schluss gelangte Darwin, als er bei seiner Expedition auf die Galapagos Inseln Finken entdeckte, die je nach Inselgruppe ihre Schnabelgröße und -form auf die dort zu findende Nahrung angepasst hatten (vgl. Sulloway, 1997).

12 Schachter, die sich mit Geschwisterdifferenzen beschäftigte, führte diesen Begriff in den 1970er Jahren ein. Nach ihr ist die Familienkonstellation hauptsächlich verantwortlich für die Entwicklung der Nachkommen. Der Begriff bezeichnet die Abgrenzung eines Geschwisters von dem anderen im Rahmen einer offenen Rivalität. Insbesondere das erste sowie gleichgeschlechtliche Geschwister-paar (Erst- und Zweitgeborener) sucht sich jeweils den anderen Elternteil als Vorbild aus. Das heißt, dass die notwendige Geschwisterdesidentifikation zu einer Identifikation und dem Nacheifern desjenigen Elternteils führt, das noch „unbesetzt“ ist („split-parent- identification“) (Schachter, 1983, S. 123). Familiäre Nischen können somit konkurrenzfrei besetzt werden und die Gunst der Eltern wird sicherer. Drittgeborene hingegen folgen der Identifikation mit demselben Geschlecht („same-sex-parent rule“), da die Wahl der elterlichen Nische bereits durch die anderen Geschwister stattgefun- den hat.

13 Mit dem Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit findet eine umfassende Beschreibung des Charakters und des Temperaments statt. Es handelt sich hierbei um fünf stabile Persönlichkeitsfaktoren höherer Ordnung nach Allport, die sich auf Basis von Fremd- oder Selbstratings zu Persönlichkeitsmerkmalen mittels Faktorenanalysen immer wieder herausdifferenzierten. Faktoren: Extraversion (I), Soziale Vertr ä glichkeit (II), Gewissenhaftigkeit (III), Emotionale Stabilit ä t (IV), Offenheit f ü r Erfahrungen (V). Das Big Five-Modell gilt als das bedeutendste Persönlichkeitsforschungskonzept (vgl. Amelang/Bartussek et al., 2006).

14 Sulloway, 1997, vgl. auch Klasen, 2000.

15 Darstellungen und Ergebnisse aus Replikations- und Modifikationsstudien zu Geburtsrangeffekten und den Big Five sind übersichtsartig in Klasen (2000) zu finden.

Excerpt out of 126 pages

Details

Title
Das Phänomen Rebellion - Antikonformes Handeln zwisches Rigidität und moralischem Anspruch
College
University of Hildesheim
Grade
2,3
Author
Year
2011
Pages
126
Catalog Number
V164819
ISBN (eBook)
9783640801756
ISBN (Book)
9783640801305
File size
1442 KB
Language
German
Keywords
Phänomen, Rebellion, Antikonformes, Handeln, Rigidität, Anspruch
Quote paper
Undine Thiemeier (Author), 2011, Das Phänomen Rebellion - Antikonformes Handeln zwisches Rigidität und moralischem Anspruch, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/164819

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