Der Fokus dieser Thesis lag auf der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienpflege, da die
meisten Pflegeleistungen durch das Soziale Netzwerk von Familienmitgliedern erbracht wird
und sich eine zunehmende Erwerbstätigkeit der Hauptpflegepersonen abzeichnet. Sechs Interview-
partner einer ländlichen Region (Märkischer Kreis, Sauerland, NRW) und sechs Interview-
partner einer Großstadt (Essen, NRW) waren rekrutiert und anhand von qualitativen Interviews
einer leitfadengestützten empirischen Untersuchung unterzogen worden. Dabei konzentrierten
sich die zentralen Fragestellungen vor dem Hintergrund eines Stadt-Land-Vergleichs auf die
Motive und Strategien im Alltagsmanagement erwerbstätiger Pflegender. Motive wurden auf
Grundlage der umfangreichen theoretischen Basis zum prosozialen Verhalten untersucht. Es wurden drei Rahmenmotive (häusliches Versorgungsideal, Beziehung des Pflegenden zum Pfle-
gebedürftigen, prosoziale vs. materielle Austauschbeziehung) und fünf Kernmotive (Schuld-
gefühle, Verpflichtung vs. persönlicher Anspruch, Anerkennung durch den Pflegebedürftigen,
Anerkennung durch Nachbarn oder soziales Umfeld und Religiosität bzw. Spiritualität) identi-
fiziert. Es wird postuliert, dass die meisten der Motive polar strukturiert sind (als Beispiel sei das
Antipodenpaar „Eigenideal vs. Fremdideal“ für das häusliche Versorgungsideal gennannt). Auf
dieser polaren Motiv-Matrix unterschieden sich erwerbstätige Pflegende aus Stadt und Land am
eindeutigsten in den Motiven „prosoziale vs. materielle Austauschbeziehung“ und „Verpflichtung
vs. persönlicher Anspruch“; damit wurde die eingangs formulierte Hypothese verifiziert, nach
der unterschiedlich restriktive soziale Milieus in Stadt und Land sich als unterschiedlichen Moti-
vationen der Pflegenden für ihr Engagement in häuslichen Pflegearrangements abbilden sollten.
Inhaltsverzeichnis
TabellenverzeichnisIII
1. Einleitung und Übersicht
1.1 Ausgangsaspekt I: Zunahme der Pflegebedürftigkeit
1.2 Ausgangsaspekt II: Zunahme der Erwerbstätigkeit
1.3 Einleitende Begriffserläuterungen für den Gesamtkontext dieser Arbeit
2. Zentrale Fragestellungen
2.1 Methodik (Forschungsprozess)
2.1.1 Zugang zum Feld und Dokumentation
2.1.1.1 Persönliche Kontaktaufnahme mit Vertretern der Gesundheitsberufe
2.1.1.2 Persönliche Kontaktaufnahme mit zielgruppenorientierten Beratungsstellen
2.1.1.3 Ein Aufruf über die regionale Presse
2.1.2 Einschlusskriterien der Stichprobe
2.1.3 Datenerhebung
2.1.4 Datenanalyse
2.2 Kurzportraits der Interview-Partner
2.2.1 Interview-Partner der ländlichen Region (Märkischer Kreis)
2.2.2 Interview-Partner der städtischen Region (Stadt Essen)
2.3 Übersicht der Stichprobe
2.4 Kritik am Studiendesign
3. Motive
3.1 Ein theoretischer Überbau
3.1.1 Was sind Motiv und Motivation?
3.1.2 Vorbetrachtung
3.1.3 Prosoziales Verhalten
3.1.3.1 Prosoziales Verhalten ist biologisch angelegt
3.1.3.2 Prosoziales Verhalten ist kulturelle Norm
3.1.3.3 Philosophische Schulen - oder: Was ist moralisches Verhalten?
3.1.3.4 Spiritualität: Prosoziales Verhalten als moralischer Imperativ
3.1.3.5 Prosoziales Verhalten in den Sozialwissenschaften
3.1.3.5.1 Auslöser der wissenschaftlichen Untersuchung prosozialer Aktivität
3.2 Motivationen im Alltagsmanagement erwerbstätiger Pflegender
3.2.1 Das Hineinwachsen in die Situation der Pflegeübernahme
3.2.2 Rahmenmotiv 1 : Realisierung des häuslichen Versorgungsideals
3.2.2.1 Das prosoziale Konzept
3.2.3 Rahmenmotiv 2: Die Beziehung zwischen Pflegendem und Pflegebedürftigem
3.2.4 Rahmenmotiv 3A: Die prosoziale Austauschbeziehung
3.2.4.1 Das Gerechtigkeitskonzept
3.2.5 Rahmenmotiv 3B: Die materielle Austauschbeziehung
3.2.5.1 Finanzieller Austausch
3.2.5.2 Das sekundäre materielle Motiv
3.2.5.2.1 Pragmatische ländliche Sicherungsorientierung
3.2.6 Kernmotiv 1: Schuldgefühle als Antrieb
3.2.7 Kernmotiv 2A: Das Pflicht-Motiv
3.2.8 Kernmotiv 2B: Persönlicher Anspruch
3.2.9 Kernmotiv 3: Anerkennung durch den Pflegebedürftigen
3.2.9.1 Die Macht der positiven Verstärkung
3.2.10 Kernmotiv 4 : Anerkennung durch Nachbarn und soziales Umfeld
3.2.10.1 Der Drang zur sozialen Anpassung
3.2.11 Kernmotiv 5: Das religiös-spirituelle Motiv
3.2.11.1 Ein prosozialer Typus
3.3 Zur Polarität der Motive
3.3.1 Übersicht
3.3.2 Polarität der Motive im Stadt-Land-Vergleich
3.4 Prosoziales Verhalten: Ein kurzer Gechlechtervergleich
3.5 Kritische Reflektion: Zur Generalisierbarkeit der Ergebnisse
3.6 Ein Wort zum Schluss
4. Strategien
4.1 Ein theoretischer Überbau
4.1.1 Was ist eine Strategie?
4.1.2 Vorbetrachtung
4.1.3 Strategien im Alltagsmanagement
4.2 Strategietypen im Alltagsmanagement erwerbstätiger Pflegender
4.3 Strategie I: Nutzung professioneller Pflege- und Beratungsangebote
4.3.1 Ambulante Pflege als Unterstützung im Alltag
4.3.2 Informationszugänge erwerbstätige Pflegender
4.3.1.1 Zwischenfazit: Strategie I
4.4 Strategie II: Einbeziehung des familiären Netzes
4.4.1.1 Zwischenfazit: Strategie II
4.5 Strategie III: Einbeziehung von Freunden, Bekannten und Nachbarn
4.5.1.1 Zwischenfazit: Strategie III
4.6 Strategie IV : Zugang zu pflegefreundlichen beruflichen Konditionen
4.6.1.1 Zwischenfazit Strategie IV
4.7 Strategien: Schlussfolgerungen
5. Beeinflussen Motive die Wahl der Handlungsstrategie?
6. Schlussfolgerungen dieser Arbeit
7. Zusammenfassung
8. Literaturverzeichnis
9. Danksagung
10. Anhang
Tabellenverzeichnis
Tab. 1: Einschlusskriterien der Pflegenden zur Aufnahme in die Stichprobe
Tab. 2: Übersicht der Stichprobe
Tab. 3: Stadt Essen/Märkischer Kreis: Basiszahlen zu Pflegebedürftigen
Tab. 4: Charakterisierung des Pflegebedürftigen
Tab. 5: Charakterisierung des Pflegenden
Tab. 6: Erwerbstätigkeit des Pflegenden und Zeitaufwand für Pflege und Betreuung
Tab. 7: Motivationen der Interview-Partner
Tab. 8: Strategie I des Pflegenden (Formeller Sektor 1)
Tab. 9: Strategie II des Pflegenden (Informeller Sektor 1)
Tab. 10: Strategie III des Pflegenden (Unterstützung aus dem Umfeld)
Tab. 11: Strategie IV des Pflegenden (Förderliche Bedingungen der Erwerbstätigkeit)
Tab. 12: Strategien der Interview-Partner
Tab. 13: Weitere Einflussfaktoren der Interview-Partner
I. Einleitung und Übersieht
Mein zentrales Augenmerk liegt auf der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienpflege für Pflegebedürftige, die ambulant versorgt werden. Wie weiter unten näher beschrieben, ist diese Problematik offensichtlich, da (a) der Hauptteil der Pflegeleistungen durch das soziale Netzwerk von Familienmitgliedern erbracht wird und sich (b) eine Zunahme der Erwerbstätigkeit der Hauptpflegepersonen im Kontext der familiären Pflege abzeichnet.
Bislang haben diese Tendenzen zwar Beachtung in der wissenschaftlichen Diskussion innerhalb der scientific community gefunden - doch wirklich offensiv bewegt hat sich bislang nicht sehr viel, obwohl Naegele und Reichert schon 1998 die Brisanz dieses Themas bereits thematisiert hatten.1 So stellten sie in der Einführung ihres Beitrages „Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege“ fest: Waren in der Vergangenheit die vielfältigen und zahlreichen Schwierigkeiten, Berufstätigkeit und Kindererziehung miteinander zu verbinden, wiederholt Gegenstand von familien- und sozialpolitischen Diskussionen, Veröffentlichungen oder Forschungsarbeiten, so hat sich im Zuge der demographischen Entwicklung einerseits und von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt andererseits - von den meisten Experten unbeobachtet oder aber nur am Rande zur Kenntnis genommen - eine neue „ Variante “ eingestellt: Heute (sprich 1998)1 werden immer mehr Menschen damit konfrontiert, ihre Erwerbstätigkeit mit gleichzeitigen Hilfe- und Pflegeverpflichtungen gegenüber älteren Familienmitgliedern vereinbaren zu müssen. 2
Im Jahre 1999 veröffentlichten Blinkert und Klie ihre Ergebnisse der Untersuchung über die Situation von häuslich versorgten Pflegebedürftigen nach Einführung der Pflegeversicherung. Aus ihrer Studie geht hervor, dass Familien in Situationen von extremer Belastung ein hohes Maß an Flexibilität aufweisen.3 Im Kontext der Vereinbarungsdebatte sind vor allem diejenigen Beiträge relevant, die sich mit Lebens- und Berufssituationen von erwerbstätigen Hauptpflegepersonen in Kombination mit der häuslichen Pflege von Pflegebedürftigen befassen. Mittlerweile liegen vermehrt Studien vor, die unter anderem Erkenntnisse über den beruflichen und familiären Alltag von Erwerbstätigen mit Pflegeverpflichtungen bereitstellen oder sich z.B. mit Anforderungen an die Arbeitswelt und die Tarifparteien befassen.
Um an dieser Stelle die Tragweite verschiedener gegenwärtiger Forschungsprojekte zu dieser Thematik charakterisieren zu können, beziehe ich mich exemplarisch auf ein internationales Projekt des renommierten „Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung“ (WZB). Dessen Arbeitstitel lautet: „Beschäftigung und Familienarbeit in Europa. Wie gehen erwerbstätige Frauen mit der Pflegebedürftigkeit ihrer Eltern um?“ Darin definieren die Autoren die Stoßrichtung des WZB-Projektes folgendermaßen: (...) Ziel ist es, zu erforschen wie erwerbstätige Frauen im Zusammenspiel mit anderen Familienmitgliedern und sozialen Pflegediensten mit dem Pflegebedarf der (Schwieger-)Eltern in verschiedenen europäischen Ländern umgehen. (...).4 Demnach befassen sich diverse Experten zu dieser Thematik5 mit den unterschiedlichsten Fragstellungen, die in dem beschriebenen Kontext von Interesse sein könnten, um mögliche Lösungsansätze bereitstellen zu können.
Während der Vorbereitung zu meinem Forschungsprojekt im Modul 7 - und in vertiefter Weise im Rahmen meiner Abschlussarbeit des Masterstudienganges „Soziale Arbeit: Beratung und Management“ - studierte ich zahlreiche aktuelle sowie ältere Veröffentlichungen zu dieser Thematik und fokussierte dabei zunehmend auf Motivationen und Strategien (die im Verlauf dieser Arbeit definiert werden) Pflegender innerhalb der Vereinbarungsdebatte von Erwerbstätigkeit und Pflegeverpflichtungen für Pflegebedürftige. Die Fachliteratur erlaubt zwar bereits gewisse Auf- und Rückschlüsse zum Stellenwert paralleler Erwerbstätigkeit bei der Ausübung von Pfhge- leistung im familiären Kontext; jedoch wurden die Motivationen für die Bereitschaft zur Übernahme von Doppelbelastungen, die durch Erwerbstätigkeit und parallel ausgeübte Pflegearrangements bedeutsam sind, noch nicht eingehend untersucht und könnten hilfreiche neue Informationen bereit stellen. Aus diesem Grunde liegt der eindeutige Schwerpunkt der vorliegendenArbeit auf der Untersuchung der Motivationen; zudem werden jedoch auch Handlungsstrategien der erwerbstätigen Pflegenden betrachtet.
1.1 Ausgangsaspekt I: Zunahme der Pflegebedürftigkeit
Die im Dezember 2008 aktuell veröffentlichte „Pflegestatistik 2007“, gibt an, dass im Dezember 2007 in Deutschland 2,25 Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes gemäß SGB XI6 waren.7 Mehr als zwei Drittel (68% bzw. 1,54 Millionen) der Pflegebedürftigen wurden in Privathaushalten versorgt. Davon erhielten 1,03 Millionen Pflege- bedürftige ausschließlich Pflegegeld; dies bedeutet, sie wurden i.d.R. zu Hause von ihren Familienmitgliedern versorgt. Darüber hinaus lebten weitere 504.000 Pflegebedürftige zu Hause, wurden aber z.T. oder vollständig durch ambulante Pflegedienste versorgt bzw. gepflegt. Fragt man nun, ob eher eine Zunahme oder Abnahme an Pflegebedürftigkeit zu erwarten ist, so lässt sich schlussfolgern, dass im Zuge der zunehmenden Alterung der Gesellschaft auch ein Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen zu erwarten ist.8 Gegenüber 2005 [im Vergleich zu 2007 (d. Verf.)] hat die Zahl der Pflegebedürftigen um insgesamt 5,6% bzw. 118.000 Personen zugenommen.8 9 10 11 12 Höhn beschrieb bereits 1995 diese Situation treffend mit den folgenden Worten: die Familie kann nach wie vor als der „größte Pflegedienst der Nation“ betrachtet werden.10 Bezogen auf die Aussagen der „Pflegestatistik 2005“ ergaben Vorausberechnungen einen ansteigenden Trend der Pflegebedürftigkeit; so prognostizierten die Experten des Statistischen Bundesamtes, dass 2020 etwa 2,68 Millionen Pflegebedürftige zu erwarten seien.11
1.2 Ausgangsaspekt II: Zunahme der Erwerbstätigkeit
Wie bereits eingangs erwähnt, tragen i.d.R. die Familien der Pflegebedürftigen die Hauptlast der Pflege. Skuban zitiert in diesem Kontext Rabin & Stockton: die Familie ist the primary basis of security for adults in later life12 Nach diversen Fachbeiträgen ist diese Tatsache unabhängig davon, ob Hauptpflegeperson und Pflegebedürftiger in einem gemeinsamen oder in getrennten Haushalten leben. Hier fährt Skuban fort und führt differenziertere Studien an, nach denen in Ländern wie z.B. Australien, Japan oder den USA die Hauptpflegepersonen Angehörige sind, die meist in demselben Haushalt wie die zu pflegenden Personen leben; in Bezug auf Europa lässt sich hier festhalten, dass vor allem in den skandinavischen Ländern, aber auch in Großbritannien und Deutschland den informellen Hauptpflegepersonen (Familien) auch außerhalb des Haushaltes des Pflegebedürftigen eine zentrale Position zukommt.13 Hieraus kann resümiert werden, dass Familien bei der Alltagsbewältigung von Pflegebedürftigen im Allgemeinen eine zentrale Rolle wahrnehmen.
Die zuvor skizzierten Konstellationen, die einem dynamischen gesellschaftlichen Prozess unterliegen, beinhalten in absehbarer Zukunft jedoch möglicherweise einige Hindernisse bei der Gestaltung von Pflegearrangements. Laut Skuban ist ein Rückgang des informellen Pflegepotenzials zu erwarten. Er beschreibt die Situation wie folgt: So bedeutend das Engagement der Familien ist, so zeigt sich doch, dass genau diese Ressource wegen sich verändernder Familien- und Haushaltsstrukturen zunehmend erodiert. [...] Mehrere Entwicklungen werden dazu führen, dass familiäre Pflege in Zukunft immer weniger möglich sein wird. Zu nennen sind vorallem vier Faktoren: Das zunehmende berufliche Engagement der Frauen, die Vereinsamung alter Menschen, veränderte Einstellungen zu Ehe und Familie, sowie die Alterung der pflegenden Angehörigen14 Diese Einflüsse konnten in meinem Forschungsteilprojekt nicht umfassend reflektiert werden, doch sie stellen den übergeordneten Rahmen dar, innerhalb dessen dieses Projekt angesiedelt ist.
Im weiteren Verlauf meiner Darstellung beziehe ich mich erneut auf den Beitrag von Skuban, der die zunehmende Erwerbstätigkeit, mit Rückgriff auf verschiedenste Sekundärliteratur, pointiert formuliert: Ein weltweit zu konstatierender Befund: Überwiegend sind es Frauen, zumeist Töchter oder Schwiegertöchter, die Pflegeleistungen erbringen.15 [...]Die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter im Bereich der Haushaltsarbeit [scheint] sich im Bereich der informellen Pflege [wiederzufinden]. Man spricht in diesem Zusammenhang gerne vom „weiblichen Pflegepotenzial “ oder auch der „ „weiblichen Pflegereserve “. Allmählich aber entsteht eine neue Arbeitswelt: Verstärkt strömen Frauen auf den Arbeitsbereich undfallen zunehmend für soziale Leistungen aus.16 Sie scheinen immer weniger willens und in der Lage, die „stille Reserve “ des Sozialstaates zu bilden.17 Zwischen 1983 und 1996 stieg die Frauenerwerbsquote in Deutschland um 15,1 Prozent [...].18 Zieht man aktuelle Daten hinzu, so bestätigt der „Gender-Daten- report“ 19 von 2005 diesen Trend: demnach lag die Frauenerwerbsquote20 im Jahre 2004 in Deutschland bei 66,1% und die Frauenerwerbstätigenquote21 bei 58,4%22 - wobei eine differenziertere Analyse der Daten notwendig ist, um ggf. verklärten Annahmen bzgl. der Frauenerwerbstätigkeit vorzubeugen. So liefert der Gender-Datenreport folgenden Hinweis: Zwar [über- trifft Deutschland] mit einer Erwerbstätigenquote von 58,4 Prozent (...) schon 2004 das in der Europäischen Beschäftigungsstrategie gesetzte Ziel für 2005 und erreichte fast das erst für 2010 angestrebte Ziel von 60 Prozent. Allerdings relativiert sich der Eindruck der starken beruflichen Integration von Frauen, wenn man die Arbeitszeit und das Arbeitsvolumen als Kriterium hinzuzieht. Frauen stehen nämlich häufiger als Männer in Teilzeitbeschäftigungen und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, wenn diese das jeweils einzige Beschäftigungsverhältnis sind.23 Damit besteht eine der zukünftigen Herausforderungen darin, dass ein hoher und wachsender Anteil von pflegenden Angehörigen die Betreuungsaufgaben mit der eigenen Erwerbstätigkeit vereinbaren muss. Der DJI-Gender-Datenreport benennt hier eine Anzahl von 40% bis 50% pflegender bzw. betreuender Erwerbstätiger.24 In der Eurofamcare-Studie wird ein Anteil von 68% Hauptpflegepersonen im erwerbsfähigen Alter angegeben. Der Anteil der Pflegepersonen, die gleichzeitig berufstätig sind, ist im Beobachtungszeitraum 1999 - 2002 um mehr als 10% gestiegen.25 Von jenen Personen, die bei Übernahme der Pflege noch erwerbstätig waren (49%), gaben 10% die Berufstätigkeit auf, 11% schränkten sie ein und 26% behielten den vorangegangenen Umfang bei.26 Skuban benennt mögliche Gründe für die steigende Frauenerwerbsquote: dabei wird primär ein erhöhtes Bildungsniveau der Frauen als Auslöser identifiziert27. Darüber hinaus zählen zu diesen möglichen Gründen Veränderungen im generativen Verhalten (weniger häufige und spätere Heirat, zunehmende Scheidungsrate), das „Aufbrechen der (vermeintlichen) Dichotomie von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit“28 sowie der Wunsch nach persönlicher Selbstbestimmung, der die Berufstätigkeit als wesentliches Element einer solchen einschließt.29 Skuban zitiert an dieser Stelle die Europäische Kommission in ihrer ersten „Beschreibung der sozialen Lage in Europa 2000“; darin heißt es unter anderem:die Kombination von steigender Bildung und geänderten Einstellungen hat zur Folge, daß sich der Anteil der arbeitenden Frauen dem der Männer annähert [...].30 Skuban resümiert: wenn genau jene Personengruppe, die bislang - und immer noch - das Gros der häuslichen Pflegeleistungen erbringt, in Zukunft wegen zunehmender Erwerbstätigkeit immer weniger für Pflege- und Hilfsleistungen zur Verfügung steht, wird sich dies freilich in einem steigendem Bedarfprofessioneller Pflege niederschlagen.31
Letztlich muss dennoch bei all den verfügbaren Daten beachtet werden, dass [gegenwärtig] exakte repräsentative Angaben zum Anteil pflegender erwerbstätiger Frauen und Männer an der Gesamtzahl erwerbstätiger Bevölkerung fehlen und die vorliegenden Zahlen stehen oftmals im Zusammenhang mit schwer vergleichbaren, zugrunde liegenden, unterstschiedlicher Definitionen von „Pflegepersonen“32
1.3 Einleitende Begriffserläuterungen für den Gesamtkontext dieser Arbeit
Vorbemerkung: Neben den nachfolgend definierten Begriffen werden weitere im Kontext dieser Arbeit relevante Termini direkt im Kontext erläutert.
Hauptpflegeperson
In der Literatur ist es üblich, jene Person im Unterstützungsnetzwerk, welche die Hauptverantwortung für die Pflege trägt, als „Hauptpflegeperson“ zu bezeichnen.
Pflegebedürftiger
Begriff der Pflegebedürftigkeit gemäß § 14 SGB XI. Pflegebedürftige sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen.
Stufen der Pflegebedürftigkeit gemäß § 15 SGB XI
(1) Für die Gewährung von Leistungen nach SGB XI sind pflegebedürftige Personen (§ 14) einer der folgenden drei Pflegestufen zuzuordnen:
1. Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
2. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen
Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
3. Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.
(...)
(3) Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt:
1. In der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen,
2. In der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen,
3. In der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.
2. Zentrale Fragestellungen
1. Motive:
a) Welche Motive lassen sich in der Land- und Stadtbevökerung identifizieren?
b) Unterscheiden sich die ggf. gefundenen Motive zwischen Land- und Stadtbevölkerung? Arbeitshypothese: Unterschiedlich restriktive, soziale Milieus in Stadt und Land sollten sich in unterschiedlichen Motivationen bzw. Motiv-Konstellationen erwerbstätiger Stadt- und Landbewohner für ihr Engagement in häuslichen Pflegearrangements reflektieren.
2. Strategien:
a) Welche Strategien lassen sich in der Land- und Stadtbevökerung identifizieren?
b) Unterscheiden sich die ggf. gefundenen Strategien zwischen Land- und Stadtbevölkerung? Arbeitshypothese: Unterschiedliche Soziale Netzwerke und Informationsniveaus in Stadt und Land sollten sich in unterschiedlichen Strategie-Konstellationen erwerbstätiger Stadt- und Landbewohner für Ihr Engagement in häuslichen Pflegearrangements zeigen.
3. Motive und Strategien: Sind Korrelationen identifizierbar?
2.1 Methodik (Forschungsprozess)
Nachfolgend wurden aller Phasen des Forschungsprozesses dargestellt, um das Vorgehen und die Ergebnisse transparent und nachvollziehbar zu machen.
2.1.1 Zugang zum Feld und Dokumentation
Anhand einer explorativen, qualitativen Studie sollte eine möglichst große Vielzahl von unterschiedlichen häuslichen Pflegesituationen einbezogen werden. Der erwerbstätige Pflegende ist in dieser Untersuchung die Hauptpflegeperson für den Pflegebedürftigen. Zur Untersuchung von Motivationen und Strategien im Alltagsmanagement erwerbstätiger Pflegender wurde eine heterogene Stichprobe mit möglichst großer individueller Erfahrungsvarianz angestrebt, um die Realität so umfassend wie möglich abbilden zu können.33 Infolge dessen wurden bereits mit Beginn der Studie verschiedene Zugangswege gewählt.
2.1.1.1 Persönliche Kontaktaufnahme mit Vertretern der Gesundheitsberufe
Ein Zugangsweg zu erwerbstätigen Pflegenden erfolgte über ambulante Pflegedienste. Sie wurden im Rahmen dieser Studie als sog. Gatekeeper angesprochen, da anzunehmen war, dass die professionellen Dienste in Kontakt zu erwerbstätigen Pflegenden stehen, sofern der von ihnen häuslich versorgte Pflegebedürftige Pflegesachleistungen aus der Pflegeversicherung gemäß SGB XI bezieht. Es wurden Pflegedienste in der zu betrachtenden Region (Stadt Essen, Märkischer Kreis) kontaktiert (Annex 3, S. 111). Alle kontaktierten Pflegedienste zeigten ein hohes Interesse an dieser Studie in Verbindung mit großer Kooperationsbereitschaft. Sie erhielten ein kurzes Anschreiben mit den angestrebten Zielen und dem Ablauf dieser Studie sowie einen Interview-Aufruf.34 Insgesamt konnten mit Unterstützung der Katholischen Pflegehilfe Essen, der Haus- und Krankenpflege I. Lemke und dem Märkischen Kreis vier Interviewpartner gewonnen werden, welche meine zuvor definierten Einschlusskriterien zur Untersuchung erfüllten (s. 2.1.2, S. 13). daraufhin nahm ich Kontakt zu (Teil-)Stationären Einrichtungen auf; leider reagiert jedoch keine einzige der angeschriebenen Einrichtungen auf die Anfrage, so dass sich die Frage danach aufdrängt, ob hier ein mangelndes Interesse oder eine vermehrte Anfrage zur Teilnahme an Forschungsarbeiten vorliegt.
2.1.1.2 Persönliche Kontaktaufnahme mit zielgruppenorientierten Beratungsstellen
Parallel hierzu erfolgte ein Zugang zu erwerbstätigen Pflegenden in der jeweiligen Region über Seniorenreferate, Sozialämter, Selbsthilfegruppen, Pflegeberatungseinrichtungen und die Sozialpsychiatrischen Dienste des Märkischen Kreises sowie über eine Sozialberatungsstelle eines Großkonzerns in der Stadt Essen. Auch hier waren die Rückmeldungen einiger Einrichtungen ernüchternd (Annex 3, S. 111). Sehr engagierte Unterstützung erfuhr ich demgegenüber durch die Pflegeberatungseinrichtungen und Sozialpsychiatrischen Dienste des Märkischen Kreises; über diesen Zugang konnten ebenfalls vier erwerbstätige Pflegende gewonnen werden. Die Sozia- beratungsstelle des Großkonzerns verschaffte mir in Kooperation mit der Diakonie Essen den Zugang zu einem Gesprächspartner.
2.1.1.3 Ein Aufruf über die regionale Presse
Um eine einseitige Selektion zu vermeiden, nahm ich Kontakt zur regionalen Presse35 auf. Mit den infolge dessen verbreiteten Pressemeldungen wurde versucht, betroffene Pflegende auch direkt anzusprechen, was in beiden Regionen auf große Resonanz stieß. Allerdings meldeten sich auch einige Betroffene welche die Kriterien meiner Studie nicht erfüllten. Zudem erwies sich dieser Zugang aufgrund der nahezu permanent erforderlichen, telefonischen Verfügbarkeit als sehr zeitaufwendig. Ein standardisiertes Telefonprotokoll sollte gewährleisten, dass stets dieselben Informationen erfragt wurden. Über diesen Zugang wurden zwei Interview-Partner gewonnen. Ein weiterer Zugang kam durch einen persönlichen Kontakt zustande.
2.1.2 Einschlusskriterien der Stichprobe
Tab. I: Einschlusskriterien der Pflegenden zur Aufnahme in die Stichprobe.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.1.3 Datenerhebung
Die Feldphase erstreckte sich von Mai bis August 2008. In diesem Zeitraum wurden qualitative Interviews mit erwerbstätigen Pflegenden in der Stadt Essen (städtische Region) und im Märkischen Kreis (ländliche Region) durchgeführt.35 Die Grundlage für die vorliegende empirische Untersuchung bilden 12 halbstrukturierte, leitfadengestützte diskursive Interviews. Die Methode der diskursiven Interviews [wurde] für die Erhebung und Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster entwickelt. [Hiermit können; d. Verfass.] individuelle Derivationen sozialer Deutungsmuster mittels einer spezifischen Form des Leitfadeninterviews erfaßt werden (...) und auf dieser Basis die sozialen Deutungsmuster durch systematische Fallkonstruktionen und Typisierungen rekonstruiert werden36
Die Interviews wurden über einen variablen Zeitraum von 45 bis 100 Minuten geführt, in Ausnahmefallen auch über mehr als zwei Stunden. Das Ziel bestand darin, aus der individuellen Sicht der erwerbstätigen Pflegenden ihre Situation geschildert zu bekommen. Über ggf. nicht direkt auf Tonträgern festgehaltene Informationen wurden Beobachtungsprotokolle erstellt und dokumentiert. Um eine entspannte und störungsfreie Atmosphäre zu gewährleisten, bestimmten die Interviewten den Ort des Gesprächs selbst, wobei es sich in fast allen Fällen um persönliche Wohnräume des Pflegenden und/oder des Pflegebedürftigen handelte. Eine Ausnahme bildete die Durchführung des Pretests, der ebenfalls in den Datenbestand aufgenommen wurde und in den persönlichen Räumlichkeiten des Interviewers stattfand.
Den Beginn eines jeden Interviews markierte ein kurzes informierendes Gespräch, in dem nach der persönlichen Vorstellung des Interviewers die Studie und der Interviewablauf präsentiert wurden. Wie eingangs erwähnt, wurden die Interviews halbstrukturiert und Zuhilfenahme eines Leitfadens geführt. Jedes Interview begann mit einer offenen Frage, um stets auch die Möglichkeit zu schaffen, auf neue Aspekte zu stoßen, die bislang vielleicht noch ungesagt geblieben waren. Zudem schaffte dieses Vorgehen für den Interviewten eine angenehme Situation, denn (a) er konnte so zunächst von seiner Situation berichten, wodurch schnell eine Vertrautheit zwischen Befragten und Fragendem hergestellt werden konnte, und (b) der erwerbstätige Pflegende konnte so selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang er bereit war, über seine Erfahrungen zu sprechen.
Statt eines offenen, narrativen Interviews erlaubte der Leitfaden37 die Durchführung eines themenzentrierten Interviews, das somit offen angelegt war, gleichzeitig durch eine gemeinsame Fragenbasis aber die Vergleichbarkeit aller erwerbstätigen Pflegenden ermöglichte. Der Leitfaden deckte unter anderem die folgenden zentralen Themenblöcke ab: Häusliche Versorgung des Pflegebedürftigen; familiäre Arbeitsteilung; soziales Umfeld und Soziale Netze; Werte und Einstellungen des Pflegenden; ambulante Hilfen; Erwerbstätigkeit sowie Erfahrungen zu den juristischen Rahmenbedingungen.38 Im Anschluss an ein Interview wurden persönliche Angaben des Pflegenden und zum Pflegebedürftigen in Form eines Frage-/Antwortbogens festgehalten.39
Der Entwicklung des Leitfadens ging eine Aufarbeitung der relevanten wissenschaftlichen Literatur voraus. Der Leitfaden war im Rahmen des Forschungsprojektes innerhalb des Moduls 7 im Master-Studiengang „Soziale Arbeit: Beratung und Management“ der Universität DuisburgEssen im WS 2008/09 diskutiert, überarbeitet und ergänzt worden. Die inhaltliche Abdeckung aller relevanten Themenblöcke wie auch die kommunikative Angemessenheit des Erhebungsinstruments wurden anhand eines Pretests erprobt. Anhand der praktischen Erfahrungen und des mittels Tonträger aufgezeichneten Interviews wurde der Leitfaden erneut diskutiert und geringfügig modifiziert. Darüber hinaus diente der Pretest der Einübung in die Handhabung des Leitfadens; zudem konnte das Interviewverhalten und durch Rückmeldungen des Interviewten kontrolliert und ggf. angepasst werden.
2.1.4 Datenanalyse
Alle Interviews wurden anonymisiert, indem die Namen der Gesprächspartner des Märkischen Kreises in Baumnamen und diejenigen der Stadt-Essen in Blumennamen synonymisiert wurden. Die Interviews wurden auf Tonträger aufgezeichnet und vollständig transkribiert. Diese Trans- kripte wurden in die Software MAXQDA/Version 2007 eingespeist, welche eine Analyse qualitativer Daten ermöglicht. Hierdurch konnte der große Matrialumfang (ca. 500 Seiten InterviewVerschriftlichung) bewältigt und systematisiert werden. Die Analyse gestaltetesich hierdurch wesentlich übersichtlicher als bei der klassischen Auswertung mithilfe einer einfachen Tabellenstruktur, und zudem wurde das Auswertungsverfahren transparenter und rekonstruierbar.40
Nach intensiver Lektüre der einzelnen Interviews erfolgte anhand zu den beiden Aspekten „Motive“ und „Strategien“ erstellter Themenblöcke (s.u.) eine Kodierung. Hierbei gilt: Im Kodierprozess werden Kategorien und Subkategorien erkannt oder entwickelt sowie Bezüge zwischen den Kategorien hergestellt.41 Die empirische Auswertung dieser Arbeit erfolgte, indem Typen gebildet wurden:42 Ziel war es, (a) unterschiedliche Alltagspraktiken der erwerbstätigen Pflegenden zu erkennen, (b) sog. Motivationstypen zu identifizieren und (c) die Handlungsstrategien bei der Vereinbarkeit von Familienpflege und Erwerbstätigkeit zu systematisieren.
Somit sollten der Typologisierung in der Auswertung anhand des theoretischen Hintergrundes und des Datenmaterials relevante Kategorien als Vergleichsdimension zugrunde gelegt werden43
Jede Phase des Analyseprozesses wurde durch spezifische Fragen an das Material begleitet. Es hätte jedoch den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, alle Befragten ausführlich zu portraitieren. Daher finden sich nachfolgend zunächst nach Land und Stadt zugeordnete Kurzportraits aller erwerbstätigen Pflegenden, die an dieser Studie teilnahmen, woraufhin eine Übersicht zur Stichprobe gegeben wird.
2.2 Kurzportraits der Interview-Partner
2.2.1 Interview-Partner der ländlichen Region (Märkischer Kreis)
Frau Linde (62 J.) lebt mit ihrem Ehemann in einem 3-Personen-Haushalt im Märkischen Kreis. Sie arbeitet Vollzeit 38,5 h/Woche. Sie versorgt seit 6 Jahren hauptverantwortlich ihre pflegebedürftige Mutter (95 J.; Pflegestufe I seit 2007); sie lebt im selben Haushalt.
Frau Ulme44 (48 J.) lebt mit ihrem Ehemann und dem minderjähr. Sohn in einem 3-Personen- Haushalt im Märkischen Kreis. Sie arbeitet Vollzeit 38,5 h/Woche. Sie versorgt seit 7 Jahren hauptverantwortlich ihre pflegebedürftige Mutter (77 J.; Pflegestufe I seit 2007); sie lebt im selben Haus; getrennter Single-Haushalt.45
Frau Fichte (46 J.) lebt mit ihrem Ehemann und der minderjähr. Tochter in einem 3-Personen- Haushalt im Märkischen Kreis. Sie arbeitet 15 h an 5 Tagen/Woche. Sie versorgt seit 6 Jahren hauptverantwortlich ihre pflegebedürftige Mutter (85 J.; Pflegestufe I seit 2007); sie lebt im selben Haus; getrennter Single-Haushalt.
Frau Kiefer (44 J.) lebt mit ihrem pflegebedürftigen Ehemann und dem minderjähr. Sohn in einem 3-Personen-Haushalt im Märkischen Kreis. Sie ist selbstständig und arbeitet ca. 50 h/Woche. Sie versorgt seit 10 Jahren hauptverantwortlich ihren Mann (54 J.; Pflegestufe II seit 2002).
Herr Buche (60 J.) lebt mit seiner pflegebedürftigen Ehefrau und dem volljähr. Sohn in einem 3-Personen-Haushalt im Märkischen Kreis. Er arbeitet Vollzeit 38,5 h/Woche. Er versorgt seit 12 Jahren hauptverantwortlich seine Frau (56 J.; Pflegestufe III seit 2006).
Frau Erle 1 (46 J.) lebt mit ihrem Ehemann und den zwei volljähr. Kindern in einem 4-Personen- Haushalt im Märkischen Kreis. Sie arbeitet ca. 10 h an 5 Tagen/Woche. Sie versorgt seit 7 Jahren hauptverantwortlich ihre pflegebedürftige Schwiegermutter (81 J.; Pflegestufe III seit 2005); sie lebt im selben Haushalt.
2.2.2 Interview-Partner der städtischen Region (Stadt Essen)
Frau Nelke (49 J.) lebt mit ihrem Ehemann und dem minderjähr. Sohn in einem 3-Personen- Haushalt in Essen. Sie arbeitet 30 h an 5 Tagen/Woche. Sie versorgt hauptverantwortlich (in geteilter Absprache mit ihrem Bruder) seit 3 Jahren ihren pflegebedürftigen Vater (82 J.; Pflegestufe I seit 2007); er lebt in einem Single-Haushalt (!10 min von der Tochter entfernt).
Herr Konrade (43 J.) lebt mit seiner Ehefrau und den zwei minderjähr. Kindern in einem 4-Per- sonen-Haushalt in Essen. Er ist selbständig und arbeitet ca. 40 h/Woche. Er versorgt seit 5 Jahren hauptverantwortlich seine pflegebedürftige Mutter (80 J.; Pflegestufe II seit 2006); sie lebt im selben Haus; getrennter Single-Haushalt.
Frau Arnika (48 J.) lebt mit ihrem Ehemann und der minderjähr. Tochter in einem 3-Personen- Haushalt in Essen. Sie arbeitet 20 h an 4 Tagen/Woche. Sie versorgt seit 10 Jahren hauptverantwortlich ihre pflegebedürftige Mutter (86 J.; Pflegestufe II seit 2007); sie lebt in einem SingleHaushalt (!10 min von der Tochter entfernt).
Frau Calla (55 J.) lebt mit ihrem Ehemann in einem 2-Personen-Haushalt in Essen. Sie arbeitet 32 h an 4 Tagen/Woche. Sie versorgt seit einem Jahr hauptverantwortlich ihren pflegebedürftigen Vater (83 J.; Pflegestufe II seit 2007); er lebt mit seiner chron. kranken Ehefrau in einem 2-Personen-Haushalt ("10 min von der Tochter entfernt).
Fr. Heide ‘ (32 J.) lebt in eheähnlicher Gemeinschaft in einem 2-Personen-Haushalt in Essen. Sie arbeitet ca. 35 h/Woche. Sie versorgt seit 10 Jahren hauptverantwortlich ihre pflegebedürftige Oma (87 J.; Pflegestufe II seit 2005); sie lebt in einem Single-Haushalt (>30 min von der Enkelin entfernt).
Frau Tulpe (53 J.) lebt in einem Single-Haushalt in Essen. Sie arbeitet 12 h an 5 Tagen/Woche. Sie versorgt hauptverantwortlich (in geteilter Absprache mit ihrer Schwester) seit einem Jahr ihre pflegebedürftige Mutter (75 J.; Pflegestufe III seit 2007); sie lebt in einem Single-Haushalt (!30 min von der Tochter entfernt).46 47
2.3 Übersieht der Stichprobe
Tab. 2: Übersicht zur Stichprobe.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Laufe dieser Arbeit werden z.T. detailliertere Angaben zu dieser Stichprobe gemacht. Siehe hierzu auch die ausführlichen tabellarischen Darstellungen im Anhang: (a) Tab. 4, Seite 117: Charakterisierung des Pflegebedürftigen; (b) Tab. 5, Seite 118: Charakterisierung des Pflegenden und (c) Tab. 6, Seite 119: Erwerbstätigkeit des Pflegenden.
2.4 Kritik am Studiendesign
Idealerweise hätte eine heterogene Stichprobe zusammengestellt werden sollen Erreicht werden konnte dies bezüglich der der Vielfalt an den in den Interviews wiedergegebenen Sichtweisen und Perspektiven der Befragten. demgegenüber sind allerdings einige studienbedingte Besonderheiten zu bedenken, welche die allgemeine und spezielle Aussagekraft der Ergebnisse verringern könnten:
1. Bevölkerungsquerschnitt: Dieser ist nicht repräsentativ, da die gewählten Zugänge präferentiell die sog. Mittelschicht erreichen und damit sozial selektiert wurde.
2. Wohnbedingungen 1: Weitere Selektivität ergab sich daraus, dass sich zwischen Land und Stadt eine generell ungleiche Verteilung zwischen Befragten mit Haus-Eigentum und solchen in einem Mietverhältnis ergab.
3. Wohnbedingungen 2: Da sich herausstellte, dass fast alle Hauseigentümer auf dem Land und die zur Miete wohnenden Pflegenden fast ausschließlich in der Stadt lebten, ergab sich darüber hinaus eine spezielle ungleiche Verteilung.
4. Konfession: Es bestand ein großes Übergewicht an Menschen katholischen Glaubens gegenüber Befragten anderer Konfession oder solchen ohne Glaubensbekenntnis.
5. Generelle Repräsentativität: Da nur je ein ländlicher und ein städtischer Bereich untersucht wurden, sind unzulässige Generalisierungen für die ländlichen und urbanen Bereiche Deutschlands wegen der Möglichkeit regionalspezifischer Besonderheiten der vorliegenden Ergebnisse entweder zu vermeiden oder zu hinterfragen.
Zudem hätten die Auswirkungen von Variablen wie etwa der Zusammensetzung des Haushaltseinkommens und der Schichtzugehörigkeit näher bzw. genauer erfragt werden müssen, da derartige Variablen Einfluss auf die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege nehmen.
3. Motive
3.1 Ein theoretischer Überbau
3.1.1 Was sind Motiv und Motivation?
Zu Anfang dieses Abschnitts sollen zwei zentrale Begriffe definiert werden.
Das GROßE Fremdwörterbuch der Büchergilde Gutenberg umschreibt ein psychologisches Motiv als bewusste[n] Beweggrund (des Handelns) bzw. zielgerichtete Triebkraft.48 In leichter Abwandlung wird ein Motiv (bzw. motive) entsprechend Webster’s New Encyclopedic Dictionary als something (as a need or desire) that causes a person to act49 und damit als nicht notwendigerweise bewusster Beweggrund definiert. Wie unten dargelegt, ist diese Unterscheidung nicht unwesentlich.
Ähnlich verhält es sich mit der Definition des Begriffs Motivation. Diesen erklärt Das GROßE Fremdwörterbuch als die Bestimmung des Willens durch Motive50, während Das Fremdwörterbuch (Duden) die Motivation als die Summe der Beweggründe, die jmds. Entscheidung, Handlung beeinflussen beschreibt.51 Beide Definitionen haben ihre Berechtigung, sind aber nicht deckungsgleich. Insbesondere erscheint die definitorische Inklusion des Willensbegriffs problematisch, da dieser zusätzlich eine differenzierte philosophische Betrachtung der verschiedenen Willensdefinitionen bedingt.
Warum diese einleitenden Kurzdefinitionen? Tatsächlich eröffnet die komplexe Psychologie der Motive in Verbindung mit der Motivationspsychologie eine Vielzahl sowohl historischer als auch kontemporärer Möglichkeiten, die Begriffe Motiv und Motivation zu definieren.52 Jedoch wäre ein intensiver Diskurs gemäß Hans Thomae etwa über das Problem der Zahl von Motivarten, über die Problematisierung des Motivbegriffes und über Motivationssysteme50 hier nur wenig hilfreich gewesen, da er das Thema dieser Arbeit verfehlt hätte. Stattdessen wurden „griffige“ Begriffsbestimmungen benötigt, die, falls etwa im Rahmen weiterer Untersuchungen erforderlich, durchaus auch in andere Definitionskategorien transformiert werden können.
Dem hier beginnenden Abschnitt wird damit entsprechend Webster die einfachste und gleichzeitig fundamentalste Definition des Motivbegriffs zugrunde gelegt. Demnach ist ein Motiv hier als nicht notwendigerweise bewusster, psychologischer Antrieb für das Handeln eines53
Interviewpartners zu verstehen; dabei wird davon ausgegangen, dass die Interviewten sich vor den Gesprächen nicht unbedingt jedes ihrer - teils indirekt - erfragten Motive bewusst waren, sondern in ihrem Handeln ggf. „ihrem Gefühl“ oder „ihrer Intuition“ gefolgt sind und damit in diesen Fällen unterbewusst agierten. Entsprechend wird, angelehnt an die weniger interpretationsbedürftige Definition des Duden-Fremdwörterbuchs der Begriff Motivation hier verstanden als Summe der Motive, welche die Entscheidungen und Handlungen eines Interviewten beeinflussen.
3.1.2 Vorbetrachtung
Die Motive von Menschen, anderen Menschen im weitesten Sinn „zu helfen“, sind vielfältig und vielschichtig. Aus wissenschaftlicher Perspektive können diese Beweggründe in ihrer Gesamtheit daher nur fächerübergreifend erfasst werden. So hat sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Disziplinen - zum einen der (Moral-)Philosophie und der unterschiedlichen spirituellen bzw. theologischen Schulen sowie zum anderen der Soziobiologie, Anthropologie, (Sozial-)Psychologie, Soziologie, Sozialpädagogik und der Sozialarbeit - mit den Hintergründen derartiger Aktivität theoretisch, deskriptiv und experimentell-analytisch auseinandergesetzt.
Eine möglichst umfassende Erörterung des Spezialfalles von Motiven erwerbstätiger Pflegender, sich der zusätzlichen Belastung durch die Pflege eines nahe stehenden Menschen zu stellen, kann daher nur auf der Basis einer eingehenden Ausleuchtung der unterschiedlichen spirituellen und wissenschaftlichen Einsichten und Erkenntnisse zu den generellen Motiven hilfreichen Handelns erfolgen. Nur so wird ein tragfähiges Fundament geschaffen, das in gewissen Grenzen auch deduktive Schlüsse auf den daraufhin zu betrachtenden Spezialfall zulässt. Umgekehrt ermöglicht es dieses Vorgehen, induktive Schlüsse aus der eingehenden Analyse des Spezialfalls zu ziehen. Somit wird über diesen Ansatz versucht, weitestgehende Erkenntnisse zu den Motiven erwerbstätiger Pflegender zu erlangen und diese Einsichten wiederum in ihren übergeordneten Referenzrahmen einzugliedern.
In diesem Sinne wird nachfolgend zunächst eine Kette von Indizien erstellt, die aus den verschie denen zugänglichen Blickwinkeln versucht, Sinn und Wesen der menschlichen Hilfsbereitschaft einzugrenzen. Auf dieser Grundlage wird deutlich werden, dass der hier betrachtete Spezialfall im Kontext der seit dem Ende der 1960er Jahre zunehmend manifest werdenden untersuchungsergebnisse zur Motivation prosozialer Aktivität zu erörtern ist. Die zentralen Erkenntnisse zur Motivation prosozialer Aktivität dienen somit als Arbeitsgrundlage und Bezugsrahmen der Analyse der hier vorgelegten Ergebnisse zu den Motiven erwerbstätiger Pflegender.
3.1.3 Prosoziales Verhalten
3.1.3.1 Prosoziales Verhalten ist biologisch angelegt
Freiwilliges Verhalten im Interesse anderer wurzelt nach allen derzeitigen Befunden bereits in unserem biologischen Erbe. So begründete der Biologe Edward O. Wilson in den 1970er Jahren auf der Grundlage seiner Nachweise, dass soziale Verhaltensweisen offenbar über ein breites Artenspektrum hinweg existieren und diese damit offenbar ein biologisches Fundament haben, die Soziobiologie. Seitdem sein weit beachtetes Werk hierzu 1975 erstmals erschienen und immer wieder neu aufgelegt worden war, wurde Wilsons These, dass auch das menschliche Sozialverhalten ein biologisches Fundament habe, von Sozialwissenschaftlern allerdings immer wieder kontrovers diskutiert. In der 25. Jubiläumsausgabe seines Werkes definierte Wilson die Soziobiologie als the systematic study of the biological basis of all social behavior 51 Aber auch andere, wie z.B. Kropotkin gehörten zu den Wegbereitern der Zunft.54 55 Diese und viele weitere Erkenntnisse - so etwa zur Rolle der Familie und Verwandtschaft56 und zur Biologie tugendhaften Verhaltens57 - verdichteten sich damit im Laufe der Zeit zur heute meistenteils auch von Sozialwissenschaftlern und Entwicklungspsychologen akzeptierten Erkenntnis, dass auch das Fundament des menschlichen prosozialen Verhaltens bereits biologisch angelegt ist und uns gewissermaßen in die Wiege gelegt wird.58 59 In den Worten von Bierhoff: Der biologische Ansatz zum Altruismus erklärt prosoziales Verhalten im Sinne angeborener oder genetischer Tendenzen.56 Spielen Erziehung und Lernprozesse also keine Rolle in der Entwicklung prosozialen Verhaltens? Doch, selbstverständlich, wie z.B. durch anthropologische Untersuchungen belegt wird. Allerdings konnten solche Studien auch noch einen weiteren, bedeutsamen Aspekt aufdecken: an unterschiedlichen Ethnien zeigte sich, dass innerfamiliäre und gesellschaftliche Lernprozesse die spezielle Ausprägung des biologisch angelegten, prosozialen Fundaments im Rahmen des jeweiligen Kulturkreises ausformen.60
3.1.3.2 Prosoziales Verhalten ist kulturelle Norm
Prosoziale Verhaltenstraditionen und Einstellungen sind über die historischen Zeiträume hinweg weltweit in allen Kulturen zu finden.61 Demgegenüber untermauern die Ausnahmen von dieser Regel die These von der prosozialen Natur des Menschen, denn sie wirken auf uns äußerst befremdlich. So legte es etwa die Kultur des historischen Sparta gezielt darauf an, ihre jungen männlichen Mitglieder zu unerbittlichen Kämpfern zu erziehen: Die Jungen (...) bekamen kaum Kleidung und nicht genug zu essen.62 Man erwartete, dass sie sich den Rest ihres Essens zusammenstahlen. Wer erwischt wurde, hatte eine harte Strafe zu erwarten - und zwar nicht weil er stahl, sondern weil er sich zu dumm dabei angestellt hatte und erwischt wurde. Permanent wurden sie Prüfungen unterzogen. (..) So wurden (...) am Heiligtum der Artemis Orthia (...) kleine Käse und andere für Zwölfjährige (zumal halb verhungerte) unwiderstehliche Leckereien platziert. Aufgabe war es, so viel Käse wie möglich zu stehlen.63 (...) [A]llerdings bewachte eine ganze Phalanx von Epheben den Altar. Bewaffnet waren sie mit langen Stöcken und schlugen erbarmungslos auf die Kleinen ein. Schwerste Verletzungen, sogar Tod waren das Ergebnis. Tatsächlich kritisierte Aristoteles daher auch, dass die Spartaner (...) ihre Kinder zu wilden Tieren [erzögen]. Dass diese spartanischen Prüfungen uns so absonderlich erscheinen, ist somit weniger darauf zurückzuführen, dass sie ein im Gegensatz zu heute in dieser Zeit allgemein akzeptiertes Verhalten darstellten. Vielmehr signalisiert und unterstreicht nicht nur Aristoteles’ Anmerkung sondern auch unser heutiges Widerstreben, dass hier ganz gezielt versucht wurde, den Jugendlichen ihr eigentliches, prosozial angelegtes menschliches Naturell abzutrainieren. Prosoziales Verhalten ist damit der „kulturelle Normalfall“.
3.1.3.3 Philosophische Schulen - oder: Was ist moralisches Verhalten?
Unter der Prämisse einer kulturellen Normierung prosozialen Verhaltens ließe sich postulieren, dass derjenige, der nicht prosozial handelt, sich unmoralisch verhält. Aber wie lässt sich moralisches Verhalten definieren? Mit dieser und ähnlichen Fragen wird eine weitere Annäherung an das Thema „prosoziale Aktivität“ nur über die Diskussion der Kernthesen einiger wesentlicher philosophischer Denkschulen möglich. In der Folge wird sich zeigen, dass dieser Diskurs eine Reihe wertvoller Rahmenbedingungen für das Verständnis der Beweggründe prosozialen Handelns und damit speziell auch für die Klassifizierung der unterschiedlichen Motive erwerbs tätiger Pflegender bereitstellt.
In den vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden brachten zentrale Wegbereitender der Philosophie unterschiedliche Annahmen zu den Motiven für menschliches Handeln hervor:
Aristippos (435-355 v. Chr., Schüler des Sokrates): Hedonistischer Ansatz des Strebens nach individuellem Genuss - auch als sittlichem Kriterium zur Beurteilung menschlichen Handelns (affektives Subsystem).
Platon (427-347 v. Chr.): Allgemeinerer Zugang zur Ethik durch Postulierung der vier Kardinaltugenden Weisheit (konatives Subsystem), Tapferkeit (affektives Subsystem), Einsicht (kognitives Subsystem) und Gerechtigkeit (als Erscheinungsform der Interaktion der drei vorgenannten Tugenden auf dem Mikrosystem-Niveau).
Epikur (341-271 v. Chr.): Ataraxie (Gemütsruhe) als höchstes Gut des menschlichen Lebens (affektives Subsystem).
Aristoteles (384-322 v. Chr.): Eudämonie (Glückseligkeit) als sittliches Kriterium menschlichen Handelns (affektives Subsystem).
Kant (1724-1804): Kritisierte, dass die obigen, willkürlich inhaltlich (z. B. Weisheit) begründeten sittliche Motive nicht erklären, weshalb sie fundamentale, nicht weiter zurückführbare Prinzipien seien. Begründete seinen Ansatz der Deontologie (Pflichtenlehre) daher auf der Form des Handelns als Endzweck sittlichen Handelns, wie in seinem kategorischen Imperativ formuliert: Handle so, dass die Maxime deines Wollens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. (Maxime: kognitives Subsystem; Handlungsbeschreibung: konatives Subsystem; allgemeine Gesetzgebung: Makrosystem).
Bentham (1748-1832): Wichtiger Vertreter des Utilitarismus (Nützlichkeitsideologie), nach dem Menschen gemäß einer Kosten-Nutzen-Abwägung handeln. Diese Sichtweise bezieht sich nicht explizit auf monetär-materielle Werte. Benthams gesellschaftstheoretischer Ansatz etwa gipfelt in dem erstrebenswerten Prinzip, zum größten Glück der meisten beizutragen. Und so kann auch ethisch-moralisches Handeln utilaristisch definiert werden.
Hobbes (1588-1679 n. Chr.): ging davon aus, dass Umgang der Menschen miteinander allein auf egoistische Motive zurückführbar sei.
Comte (1789-1857 n. Chr.) schließlich erweiterte diese einseitige Vorstellung maßgeblich dahin gehend, dass er dem Egoismus mit Einführung des Begriffs „Altruismus“ einen Gegenpol gegenüberstellte, unter dem er eine auf das Wohl anderer bedachte, moralische Grundhaltung verstand.64
Diese philosophisch-introspektive Entwicklung ebnete der wissenschaftlichen Untersuchung des sog. prosozialen Handelns als theoretischem Hintergrund dieser Arbeit den Weg. Zudem könnten wesentliche der oben skizzierten philosophischen Kriterien eine vertiefende Analyse der unten dargestellten Ergebnisse erlauben, was den Rahmen dieser Arbeit leider aber übersteigen würde.
3.1.3.4 Spiritualität: Prosoziales Verhalten als moralischer Imperativ
Die persönliche Motivation für prosoziales Verhalten und Altruismus ist oft auch religiös oder, allgemeiner formuliert, spirituell bedingt. So ist die Verpflichtung, Kranken, Schwachen und Benachteiligten zu helfen, ein wichtiges Element der Lehren des Judentums, Christentums und Islams - und damit von drei der wesentlichen, historisch aufeinander aufbauenden monotheistischen Traditionen.65 Dementsprechend wird in der Literatur zu altruistischem oder prosozialem Handeln z.B. immer wieder auf das christliche Gleichnis vom barmherzigen Samariter verwiesen.66 Auch in den anderen großen spirituellen Lehren - dem Buddhismus (hier besonders als Pflege bzw. Versorgung der Kranken)67 dem Konfuzianismus (hier als moralische Verpflichtung zur Versorgung von Waisen sowie bedürftigen, kranken und alten Menschen)68, dem Hinduismus69 und dem pan- bzw. polytheistischen Shintoismus70 - stellt die Hilfe bzw. Unterstützung anderer Menschen gleichermaßen einen zentralen Aspekt dar.
Somit kann davon ausgegangen werden, dass diese großen spirituellen Traditionen unsere biologisch angelegte und kulturell modulierte und verfeinerte Neigung, prosozial zu agieren, inter- nalisiert haben. Es ist daher ferner zu vermuten, dass selbst ein Atheist oder ein Agnostiker in seinem jeweiligen kulturellen Kontext auch vor diesem Hintergrund eine prosoziale Einstellung i. d.R. als Verhaltensnorm und moralischen Imperativ betrachteten wird.
3.1.3.5 Prosoziales Verhalten in den Sozialwissenschaften
3.1.3.5.1 Auslöser der wissenschaftlichen Untersuchung prosozialer Aktivität
Nicht etwa die oben beschriebenen Hintergründe, sondern erst zwei Ereignisse der jüngeren Vergangenheit in den Vereinigten Staaten von Amerika - interessanterweise sowohl ein individuelles Schicksal als auch ein kollektiver Vorgang - verknüpften moralphilosophische und gesellschaftstheoretische Vorstellungen mit der empirischen Sozialpsychologie und bildeten damit auch die Wurzel der (sozial-)wissenschaftlichen Untersuchung prosozialen Handelns.
In der Forschung wird oft nur das individuelle Schicksal beschrieben. Dies war die Ermordung der Kitty Genovese im New York des Jahres 1964. Auf offener Straße attackiert, setzte sie sich etwa eine halbe Stunde gegen ihren Mörder zur Wehr. Es ist dokumentiert, dass mindestens 38 Menschen diesem Vorgang tatenlos zusahen. Der Schock über das Ausbleiben jeglicher Hilfe führte dazu, dass unterlassene Hilfeleistungen fortan auch empirisch untersucht wurden.71 Doch das zweite Ereignis, die Civil-Rights-Bewegung in den USA der 1960er Jahre, war nicht minder bedeutsam, denn hier setzten sich auch Menschen, die von der lange praktizierten Rassentrennung nicht persönlich betroffen waren, für diejenigen ein, die sozial stigmatisiert und ausgegrenzt wurden.72 Man mag argumentieren, dass Ähnliches auch schon früher, so etwa während der Französischen Revolution, stattgefunden habe - doch in der Bürgerrechtsbewegung der USA setzte sich neben den Betroffenen vielleicht erstmals in der Geschichte eine breite Front von Menschen unter Gefahr für Leib und Leben für eine gesellschaftliche Gruppe ein, die nicht mit ihr selbst identisch war. So können beide Vorgänge als Wurzelereignisse der theoretischen und empirischen Untersuchung der Ursachen, Hintergründe und Begleitumstände sowohlunter- lassener als auch gewährter Hilfeleistung identifiziert werden.
Diese These wird auch dadurch untermauert, dass die ersten- und zahlreichen - Untersuchungen zu prosozialer Aktivität zunächst ausschließlich von US-amerikanischen Kollegen vorgelegt wurden. Sie gipfelten zu jener Zeit unter anderem in dem 1970 publizierten helping behavior decision-making model von Darley und Latane. Dieses Fünfschritt-Modell strukturiert dispositionelle und situative Faktoren, die Menschen dazu motivieren, sich prosozial zu verhalten oder engagieren.73 In sehr praktischer Weise adaptierte Knickerbocker dieses FünfschrittModell auf die Frage danach, in welcher Weise ein potenziell philanthropisch veranlagter
Mensch darüber entscheidet, ob und inwieweit er zu einer Organisation beitragen möchte.74 Dies wird nachfolgend punktuell skizziert:
1. Ich realisiere einen Bedarf;
2. Ich werde gebraucht;
3. Ich bin bereit, zu helfen;
4. Ich finde heraus, was ich tun kann;
5. Ich entscheide mich, in welcher Weise ich helfen möchte.
Damit kann das Entscheidungsmodell zum Hilfsverhalten von Darley und Latane grundsätzlich auch auf die hier beleuchtete Fragestellung - nämlich die Motivation von Menschen, zusätzlich zu ihrer Erwerbstätigkeit die zentrale pflegende Rolle zu übernehmen - angewendet werden. Allerdings müssen hierbei einige zusätzliche „Modulatoren“ implementiert werden; so ist z.B. die Frage danach zentral, ob es überhaupt die Alternative gegeben hätte, keine pflegende Rolle zu übernehmen, denn sie beeinflusst maßgeblich den Entscheidungsprozess innerhalb dieses Modells.
Während die Studienlage in den USA also bereits im Jahre 1970 zur Ausarbeitung übergeordneter Modelle geführt hatte, wurde prosoziale Aktivität im deutschen Sprachraum überhaupt erstmals in diesem Jahr von Lück wissenschaftlich thematisiert.
Auf das prosoziale Verhalten wird nachfolgend im konkreten Kontext weiter eingegangen.
3.2 Motivationen im Alltagsmanagement erwerbstätiger Pflegender
3.2.1 Das Hineinwachsen in die Situation der Pflegeübernahme
Mit Eintritt einer Pflegebedürftigkeit tritt auch der Pflegende i.d.R. in eine neue Situation mit neuen Herausforderungen ein. Dies ist mit der Notwendigkeit verbunden, in diese ungewohnte Situation hineinzuwachsen. Über die Gesamtheit der Pflegenden hinweg stellt sich dieserProzess des Hineinwachsen als heterogener Umstand mit großer interindividueller Varianz dar, da verschiedene Anteile der „neu berufenen“ Pflegenden mit häuslicher Pflege (a) zuvor überhaupt noch nicht konfrontiert gewesen waren, (b) diese bereits in der eigenen Familienhistorie erfahren hatten, (c) beruflich selbst eine pflegende Tätigkeit wahrnehmen und/oder (d) möglicherweise bereits sogar einmal als Pflegende tätig gewesen sind. Nichtsdestoweniger ist die Pflegesituation aber für alle betroffenen Pflegenden in sofern neu als sie die sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem pflegebedürftigen, nahe stehenden Menschen bedingt - und damit alle hiermit verbundenen positiven wie negativen Faktoren wie z.B. die chronische Belastung durch die Pflege selbst sowie menschliche Faktoren wie etwa die Art der gemeinsamen Beziehung, das Umgehen mit dem Schmerz über den sich meistenteils verschlechternden Zustand des gepflegten Menschen u.ä. umfasst. Im speziellen Fall der hier schlaglichtartig beleuchteten Zielgruppe kommt die Doppelbelastung der Pflegenden durch ihre Erwerbstätigkeit hinzu. Aus dieser Perspektive erschien es lohnenswert, aus den geführten Interviews herauszukristallisieren, welche Motive den Befragten als „Triebfedern“ dienen, eine Pflegeverantwortung zu übernehmen und aufrecht zu erhalten. Ebenfalls stellte sich die Frage danach, ob - und falls ja, in welcher Weise - solche Motive im Verlauf des Pflegearrangements einer gewissermaßen „dynamischen Metamorphose“ unterworfen sind und wie sich in solchen Fällen ihr gegenwärtiger Zustand von demjenigen zu Anfang des Arrangements qualitativ unterscheidet.
Als willkürlich gewähltes Beispiel für das Hineinwachsen in die Pflegesituation sei hier Frau Ulme genannt, die subjektiv überhaupt keine Alternative dazu hatte, die häusliche Pflege ihrer Mutter zu übernehmen. Bereits vor Eintritt der Pflegebedürftigkeit war es von den Eltern als selbstverständlich betrachtet worden, dass sie sich (auch) um deren Angelegenheitenkümmerte:
„Es hat sich so eingeschlichen, dass ich mich zunehmend neben meiner Familie um die Belange meiner Eltern und speziell meiner Mutter mit gekümmert habe.“ (11A; Fr. Ulme 10)
Und so wurde auch die Pflegeübernahme unter Hintanstellung der eigenen Bedürfnisse von Frau Ulme als Rollenzuschreibung akzeptiert und nicht hinterfragt:
„Genau, das ist richtig. Reingewachsen in diese Situation und keine Fragen gestellt - auch nicht mal sich zur Wehr gesetzt oder so.“ (11A; Fr. Ulme 60)
Im speziellen Fall von Frau Ulme wurde der per se dynamische Prozess des Hineinwachsens in die Situation einer häuslichen Pflegeübernahme durch Pflichtbewusstsein als ihr zentrales Motiv angetrieben. Wie nachfolgend dargestellt, waren bei anderen Befragten entweder ebenfalls das Pflicht-Motiv oder aber ganz andere Motive ausschlaggebend dafür, sich mit der Pflegesituation zu arrangieren.
3.2.2 Rahmenmotiv 1: Realisierung des häuslichen Versorgungsideals
Herr Buche, der seine schwer chronisch kranke Ehefrau pflegerisch versorgt, brachte dasMotiv „Versorgungsideal“ auf den Punkt:
„Die ideale Versorgung sehe ich absolut im häuslichen Bereich.“ (5A; Hr. Buche 154)
Seine persönliche Argumentation hierfür hatte er bereits kurz zuvor allgemeingültig formuliert:
„Es geht um diese Erkenntnis (...): Wenn der zu Hause gepflegt wird, ist es bedeutend besser für ihn und für mich, als wenn ich ihn (...) abschiebe in dieses Heim.“ (5A; Hr. Buche 152)
Dabei basiert Herrn Buches Einstellung darauf, dass ihm die Familienpflege aus dem eigenen familiären Kontext bekannt ist:
„Richtig, richtig. Das ist für mich völlig normal. Es war keiner im Heim. Die waren eben, als sie gebrechlich wurden, zu Hause“ (5A; Hr. Buche 148)
Zudem beschrieb er, ebenfalls auf der Grundlage eines gewissen eigenen Erfahrungshorizonts, die stationäre Pflege als nicht wünschenswerte Versorgungsart für den Pflegebedürftigen:
„Heim ist so ein Abschieben, und da ich selber im Krankenhaus bin - ich will da auch nicht Schlechtes sagen usw. - aber, können Sie mir glauben, was ich da schon alles gesehen habe. Ja - und ich bin nicht 100%ig dafür, obwohl ich selbst da arbeite.“ (5A; Hr. Buche 148)
Herrn Buches häusliches Versorgungsideal leitet sich damit aus seinem familiären Hintergrund wie auch aus den als nicht menschenwürdig wahrgenommenen stationären Pflegeumständen her.
Vor dem Hintergrund einer positiven ehelichen Beziehung war die Aufrechterhaltung der häuslichen Versorgung des von ihr gepflegten Ehemanns auch für Frau Kiefer ein starkes Motiv.
Auf die Frage, „Also, über Heim haben Sie mal nachgedacht und mit Ihrem Sohn auch thematisiert?“ (5A; Fr. Kiefer 44) erwiderte sie: „Ja. Aber es ist für uns beide [Ehefrau und Sohn; d. Verfass.] (...) klar, dass das nicht in Frage kommt.“ (5A; Fr. Kiefer 45), und auf die Nachfrage, „Was meinen Sie, ist für Sie der ausschlaggebende Punkt, dass es so klar ist?“ (5A; Fr. Kiefer 46) führte sie weiter aus: „Ganz einfach: gehen Sie mal in ein Pflegeheim. Ich kann hier meinem Mann 24 h rund um die Uhr Betreuung bieten. Er ist zuhause in seinen eigenen vier Wänden. Dann kommt dieser große Altersunterschied dazu: soll ich denn einen 54-jährigen Mann, der zwischendurch doch noch klar im Kopf ist, neben einen 80-jährigen legen, der kurz vor dem Sterben ist? Das sind so Sachen, wo ich einfach sage: nein, solange ich das hier machen kann, wird er nie in ein Heim gehen.“ (5A; Fr. Kiefer 47)
Frau Kiefers Motiv häuslicher Pflege als Versorgungsideal wird damit sowohl aus dem Erhalt der gewohnten häuslichen Lebensumstände hergeleitet als auch daraus, dass sie die stationäre Pflege als eine für den Pflegebedürftigen inakzeptable Versorgungsart wahrnimmt, die ggf.auch mit einem einschneidenden Verlust der Lebensqualität einhergeht.
Neben vielen, mit den Vorgenannten gleichsinnigen Argumenten brachte Frau Calla auf ihren pflegebedürftigen Vater bezogen noch ein weiteres Argument vor, das aus ihrer Sicht gegen eine stationäre Unterbringung des Pflegebedürftigen sprach:
„Ich kenne Altenheime. Durch unsere kirchliche ehrenamtliche Tätigkeit sind wir des Öfteren in Altenheimen gewesen, und die Stufe haben meine Eltern noch nicht erreicht, finde ich, ne? Dafür ist mein Vater zwar sehr pflegeaufwendig, weil er eben das eine oder das andere nicht mehr sieht oder kann - aber ist er geistig noch voll da und macht für mich immer noch den ganz normalen Eindruck, wie ich ihn von je her kenne, und die Herrschaften in den Altenheimen sind ja doch so traurige Gestalten.“ (5A; Fr. Calla 24)
Stationäre Pflege wird von Frau Calla also nur bei höchstem Pflegebedarf in Betracht gezogen. Im Übrigen machte sie in anderen Worten ebenfalls deutlich, dass diese Art der Unterbringung für sie mit einem wahrnehmbaren Verlust der Lebensqualität einhergeht. Und Frau Callaverba- lisierte noch einen weiteren Aspekt:
„Meine Eltern stellen sich selber einen sehr hohen Anspruch, möglichst lange selbständig und autonom zu bleiben. Und von daher kann ich jetzt einfach nicht sagen, „Ich packe sie jetzt ins Altenheim“.“ (5A; Fr. Calla 52)
Im Rahmen des Motivs „Versorgungsideal“ kann der Respekt der Wünsche des Pflegebedürftigen also durchaus eine Rolle spielen, und es kann angenommen werden, dass dieser Faktor um so wesentlicher werden kann, je besser - wie in diesem Fall - die Beziehung zwischen Pflegendem und Pflegebedürftigem ist.
Doch die Realisierung des Versorgungsideals häuslicher Pflege kann auch trotz negativer Ausgangslage ein Motiv darstellen. So überschattete eine stets problematische Beziehung zwischen Frau Erle und ihren Schwiegereltern die Übernahme der häuslichen Verantwortung für denPfle- gebedürftigen:
„(...) schwierig waren meine Schwiegereltern schon immer (...)“ (8A; Fr. Erle 58)
In derartigen Fällen tritt das Versorgungsideal nicht unbedingt als Eigenideal des Pflegenden in Erscheinung, sondern speist sich (wie bei Frau Calla) aus der Respektierung entsprechenderWünsche des Pflegebedürftigen - was nun, wie bei Frau Erle, allerdings in pflichtbewusster Weise geschieht. So hatten Frau Erles Schwiegereltern allen nahen Verwandten vor Eintritt der Pflegebedürftigkeit ihre konkreten Vorstellungen mitgeteilt:
„(...) die Aussage der häuslichen Versorgung (...) im Beisein von allen Geschwistern. Wir saßen alle zusammen - also Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder. Also, die Schwiegereltern haben damals selber den Wunsch geäußert, so lange wie möglich zu Hause bleiben zu können.“ (5A; Fr. Erle 40)
3.2.2.1 Das prosoziale Konzept
Aus der Gesamtheit aller zuvor angerissenen, individuellen Äußerungen ergibt sich somit, dass das Motiv „häusliches Versorgungsideal“ prinzipiell polar angelegt ist. Konkret stellen sich die beiden Extrema damit als ideelle Eigenmotivation des Pflegenden und als pflichtschuldig (vgl. dabei zu den Pflicht- und Schuld-Motiven weiter unten) exerzierten, ggf. durch den Pflegebedürftigen selbst induzierten Fremdmotivation dar. Letztere wäre dabei als eine Versorgungsideal-fremde Triebkraft - wie etwa dem Drang, im Einklang mit sozialen Normen zu handeln - zu verstehen, die dem außenwirksamen Versorgungsideal-Motiv den nötigen Rückenwind vermittelt. Das somit sekundäre Fremdmotiv entlarvt sich damit letztendlich als Scheinmotiv. Vermutlich würde eine umfassendere Studie zahlreiche individuelle Ausprägungen des Versorgung» ideal-Motivs zwischen diesen Extrema aufzeigen, die sich innerhalb dieses Kontinuums auf unterschiedlichen Punkten einer virtuellen Skala manifestieren. In Anlehnung an ein Sprichwort lässt sich kurz und treffend formulieren: das gleiche Motiv, bei zwei unterschiedlichen Menschen angetroffen, wird selten dasselbe Motiv sein. Die grundsätzliche Feststellung einer offensichtlich „polaren Natur“ ist nicht nur für dieses Motiv relevant, sondern wird sich nachfolgend auch anhand anderer Motive verdeutlichen lassen.
Die mittlerweile umfangreiche Literatur zu prosozialem Verhalten kann hier aus Platzgründen nur holzschnittartig angerissen werden. Dennoch sollen die Kernaussagen dieser Arbeiten vermittelt werden. So definieren Eisenberg und Mussen prosoziales Verhüten als voluntary actions that are intended to help or benefit another individual or groups of individuals. In Abgrenzung von Hilfeverhalten und Altruismus definiert Bierhoff prosoziales Verhalten folgendermaßen: Mit einer prosozialen Handlung ist beabsichtigt, die Situation des Hilfeempfängers zu verbessern, der Handelnde zieht seine Motivation nicht aus der Erfüllung beruflicherVerpflichtungen und der Empfänger ist eine Person und keine Organisation. Dabei darf der Helfer nach diesem Konzept - im Gegensatz zum reinen Altruismus - durchaus auch im Bewusstsein direkten oder indirekten persönlichen Gewinns handeln.
Abstrahiert konstituiert sich prosoziales Handeln aus drei Kernelementen:
1. Den Intentionen und Interpretationen des Helfers,
2. Der Beurteilung der Handlung durch den Hilfesuchenden,
3. Der Nachvollziehbarkeit durch einen potenziellen unabhängigen Beobachter.
[...]
1 Anmerkung der Verfasserin
2 Naegele und Reichert 1998, S. 7.
3 Blinkert und Klie 1999.
4 Forschungsabteilung des WZB: Demographische Entwicklung, sozialer Wandel und Sozialkapital. Zwecks besserer Verständlichkeit wird durchgängig die männliche Form verwendet; gemeint sind allerdings immer beide Geschlechter.
5 SGB XI vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) (BGBl III 860-11). Zuletzt geändert durch PflegeWeiterentwicklungsgesetz vom 28.5.2008 (BGBl. I S. 874)
6 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland (Pflegestatistik 2007) 2008, S. 4.
7 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland (Pflegestatistik 2007) 2008, S. 6,
8 Statistisches Bundesamt Deutschland (Pflegestatistik 2007) 2008, S. 4.
9 Vgl. Höhn 1995, S.10.
10 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland (Demografischer Wandel in Deutschland) 2008, S. 26.
11 Rabin, D.L., Stockton Patricia: Long-Term Care for the Elderly. A Factbook. New York: 1986, S. 19; zit. nach Skuban 2004, S. 57.
12 Vgl. näher: Royal Commission on Long-Term Care 1999b, S. 164; zit. nach Skuban 2004, S. 57.
13 Skuban 2004, S. 58.
14 Vgl. näher: National Council for the Elderly: Adult children (mainly daughters) and spouses are the main resources of home care for the severely incapacitated elderly. 1994, S. 19; zit. nach Skuban 2004, S. 58.
15 Vgl. näher: Prischning M.: Der „sorgende“ Staat: Das kontinentale Modell der Sozialstaatsentstehung. 2000, S. 20 f.; zit. nach Skuban 2004, S. 59.
16 Vgl. näher: Kaufmann F.-X.: Herausforderungen des Sozialstaates. 1997, S. 61; zit. nach Skuban 2004, S. 59.
17 Skuban 2004, S. 58 f.
18 Gender-Datenreport: Kommentierter Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland; zit. nach Cornelißen 2005.
19 Erwerbsquote: prozentualer Anteil der Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Erwerbslose) an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren. Kurzfristig für den Arbeitsmarkt nicht verfügbare Erwerbslose werden berücksichtigt.
20 Erwerbstätigenquote: prozentualer Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren.
21 Vgl. Dressel in Gender-Datenreport 2005, S. 99.
22 Dressel in Gender-Datenreport 2005, S. 99.
23 Vgl. DJI 2005, S. 337.
24 Vgl. Meyer 2006, S. 22.
25 Vgl. Schneekloth und Wahl 2005, S.77
26 Vgl. näher: Europäische Kommission 2001, S. 51.
27 Mager H.-C. : Pflegebedürftigkeit im Alter. Dimensionen und Determinanten 1999, S. 65; zit. nach Skuban 2004, S. 59.
28 Skuban 2004, S. 59.
29 Europäische Kommission 2001, S. 26.
30 Skuban 2004, S. 59.
31 Vgl. Reichert 2003, S. 125 ff., zit. nach Rumpf 2007, S. 124.
32 Vgl. Polit und Hunger 1999.
33 Interviewaufruf: S. Annex 2, S. 110 oder CD-ROM unter Methodik und Datenerhebung.
34 Die Angabe der erwerbstätigen Mindestarbeitszeit von 10 h/Woche bezieht sich auf das Ergebnis der Untersuchung von Schneekloth und Wahl 2005, S. 78. Demnach ist die ambulante Versorgung von Pflegebedürftigen nach wie vor ein Full-Time-Job. Um die Pflege zu gewährleisten, muss i.d.R. eine tgl. Verfügbarkeit gegeben sein. Differenziert nach Pflegestufen beträgt der geschätzte wöchentliche Gesamtaufwand bei Pflegebedürftigen der Stufe 1 im Mittel 29,4 h. Insgesamt streut der zeitliche Aufwand, der wöchentlich für Pflege, Betreuung und Versorgung privat aus Familie und Bekanntschaft erbracht wird, erheblich. Summiert man nun den im Durchschnitt geleisteten zeitlichen Aufwand für die Versorgung von Pflegebedürftigen und die Mindestarbeitszeit von Hauptpflegepersonen, ergibt sich eine wöchentliche Vollbeschäftigung.
35 In Ahnlehnung an Ludwig et al. 2002, S. 23.
36 Ulrich 1999, S. 429.
37 S. Interviewleitfaden im Anhang: Annex 1, S. 100-9.
38 S. Interviewleitfaden im Anhang: Annex 1, S. 109.
39 S. hierzu einen exemplarischen Auszug im Anhang: Annex 7, S. 116.
40 Strauss 1994, S. 99, zit. nach Ludwig et al. 2002, S. 24.
41 Vgl. Kluge 2000.
42 Vgl. Ludwig et al. 2002, S. 25.
43 Zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung berichtet der Interviewpartner retrospektiv über den Vereinbarungszeitraum, da das häusliche Pflegearrangement vor dem Interview durch Unterbringung in einem Pflegeheim oder durch Tod des Gepflegten beendet wurde. Alle Angaben des Befragten beziehen sich auf diesen retrospektiven Zeitpunkt.
44 Ebd.
45 Ebd.
46 Kuri 1973, S. 317.
47 NN Webster’s, S. 654.
48 Kuri 1973, S. 317.
49 NN Duden 2005, S. 681.
50 Vgl. Thomae (a) 1996.
51 Vgl. Thomae (b) 1996, S. 1-11.
52 Wilson 2000.
53 Vgl. Kropotkin 1976.
54 Vgl. Wilson 2005, S. 159-66.
55 Vgl. Ridley 1997.
56 Vgl. Knickerbocker.
57 Bierhoff 2007.
58 Vgl. Gurven und Winking 2008, S. 179-90.
59 S. hierzu näher: Knickerbocker; Gurven und Winking 2008, S. 179-90.
60 Büsch.
61 TJUA
62 Vgl. Bach.
63 S. hierzu näher: McChesney 1995; Pearson 1997.
64 Vgl. Bierhoff 2007.
65 Vgl. NN „Success story 2005; NN Buddhists.
66 Vgl. Chung 2003.
67 S. hierzu näher: Mehta 2005; Chanania 2008.
68 McLaughlin und Braun 1998, S. 116-26.
69 Vgl. Rosenthal 1964.
70 Vgl. Knickerbocker.
71 Vgl. Darley und Latane 1970.
72 Vgl. Knickerbocker.
73 Vgl. Darley und Latane 1970.
74 Vgl. Lück 1970.
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