Nur ein "Amokläufer"? - Sozialpsychologische Zeitdiagnose "nach Erfurt"


Redacción Científica, 2002

19 Páginas


Extracto


"Nur ein "Amokläufer" ? - Sozialpsychologische Zeitdiagnose "nach Erfurt"

von Richard Albrecht (Bonn)

I.

“ “Wissen Sie, was Amok ist ?” - “Amok ?...eine Art Trunkenheit bei den Malaien..” - “Es ist mehr als Trunkenheit...es ist Tollheit, eine Art menschlicher Hundswut...ein Anfall mörderischer, sinnloser Monomanie [...] Amok, das ist so: Ein Malaie [...] trinkt sein Gebräu in sich hinein...und plötzlich springt er auf, fasst den Dolch und rennt auf die Strasse...rennt gradeaus...ohne zu wissen wohin...Was ihm in den Weg tritt, Mensch oder Tier, das stößt er nieder, und der Blutrausch macht ihn nur noch hitziger...Schaum tritt dem Laufenden vor die Lippen, er heult wie ein Rasender...aber er rennt, rennt, rennt, sieht nicht mehr nach rechts, sieht nicht nach links, rennt nur mit seinem gellen Schrei [...] Die Leute in den Dörfern wissen, dass keine Macht einen Amokläufer aufhalten kann...so brüllen sie warnend voraus, wenn er kommt: “Amok ! Amok !”, und alles flüchtet...er aber rennt, ohne zu hören, rennt, ohne zu sehen, stößt nieder, was ihm begegnet...bis man ihn totschießt wie einen tollen Hund oder er selbst schäumend zusammenbricht...” “ 1

Literarisch hier von Stefan Zweig verdichtet: Das unerklärliche Element des Blindwütigen beim Amoklauf; der Begriff “Amok” entstammt dem malayischen “meng-amok” und meint, dass ein Mann in rasender Enthemmung, gleichsam in blinder Wut, alle, auf die er zufällig trifft, ohne dass sie sich ihm sichtbar entgegenstellen, wie im Rausch angreift oder/und tötet, solange, bis der Täter selbst aufgibt, zusammenbricht, sich selbst tötet oder von anderen getötet wird. Soweit -weitgehend übereinstimmend- allgemeine Lexika und etymologische Wörterbücher. Und wie ein aktueller kritischer Kommentar liest sich diese vor etwa drei Jahren veröffentlichte psychologische Zeitdiagnose:

“Das Wort “Amok” stammt aus dem Malayischen und bedeutet “blindwütiges Verrichten”:

Amokläufer sind in Malaysia und Java ein uraltes kulturelles Phänomen. Bei den Insulanern gilt der Amoklauf als Zeichen dafür, dass die gesellschaftliche Harmonie nicht mehr vorhanden ist. Amokläufer treten dann nicht auf, wenn eine gute Regierung an der Macht ist und im Lande Wohlstand herrscht. [...] Immer häufiger setzen Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, zu einem Amoklauf an, und es ist damit zu rechnen, dass es mehr werden [...] Amokläufer töten und richten sich nach ihren Taten typischerweise selbst. Von Anfang an begleitet der Suizid ihre Tat. Welche Motivation die Täter antreibt [...] bleibt verborgen. Als ultima ratio [...] wird der Gesetzgeber aufgefordert, Waffengesetze zu verschärfen. Der Ruf nach immer schärferen Gesetzen, nach erhöhten Bußgeldern, nach mehr Richtern und Sozialarbeitern, nach verstärkten Polizei- und Soldatenaufgeboten bleibt auf Dauer völlig wirkungslos, weil die sozialen Bedingungen und die gesellschaftliche Ausgeglichenheit unaufhörlich destabilisiert werden.”2

II.

Unabhängig davon, ob es je einen dauerhaften Zustand sozialer Harmonie gegeben hat oder überhaupt geben kann - Nikolaus Wenzels zitiertem Hinweis auf Amoklauf als soziale Institution ist in einer Hinsicht nachzugehen: Gerade bei dem, was hierzulande so umstandslos als Amok oder Amoklauf oder Amokläufer bezeichnet - auch etikettiert - wird, geht es um gesellschaftliche Umstände. Weshalb ihre (nüchterne) Beschreibung als Voraussetzung für (sozialwissenschaftliche) Erklärung/en notwendig und noch lange keine Rechtfertigung etwa des Erfurter Blutbads vom 26.April 2002 ist...jenseits aller bloß moralisierenden Kritik und der sich in ihr ausdrückenden kritisierenden Moral. Insofern geht es auch nicht vordringlich um die Persönlichkeit des 19-jährigen Täters und “Amokläufers” Robert Steinhäuser, der als relegierter Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasium ebendort maskiert eindrang und mit 71 Schüssen aus seiner Pistole insgesamt 16 Menschen -darunter 13 Lehrer/innen- tötete und sich, nachdem ihn ein Lehrer erkannte, stellte, ansprach, demaskierte und mutig abdrängte, anschließend selbst erschoss...vielmehr geht es um sich auch in dieser Tat destruktiv ausdrückende Wirksamkeiten bekannter gesellschaftlicher Prozesse von Enttraditionalisierung, Bindungslosigkeit und Sinnverlust im Prozess beschleunigter Modernisierung. Diese gesellschaftlichen Vorgänge wurden schon Ende der achtziger Jahre als bedeutsame Umbruchsprozesse mit den Stichworten: Differenzierung - Pluralisierung - Individualisierung beschrieben 3. Sie lassen sich als “Zustände mangelnder sozialer Regelungen” -von Sozialwissenschaftlern seit Emile Durkheims Suicide-Studie

(1897) im Fachjargon als Anomie bezeichnet - auffassen, genauer:

“Mit Norm- und Werteverlust einhergehende Bindungslosigkeit vieler einzelner ist auch Ausdruck zeittypischer Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung und damit als Hintergrund in die moderne Sozialwelt strukturell eingelagert: Als ´jeder für sich´ (“Individualisierung”), als so undurchschaubar wie unveränderbar erscheinendes Sozialgefüge (“Differenzierung”) und als Iss-eh-egal-Gefühl der neuen Wurschtigkeit im alltagsweltlichen Relativismus (“Pluralismus”).”4

III.

Sicherlich hatte der Kolumnist Robert Leicht in einer entscheidenden Hinsicht Recht, wenn er in einem ZEIT-Satz betonte: “Eines gab es in Erfurt nicht: einen Amoklauf” 5 - jedenfalls nicht im hier eingangs skizzierten Sinn. Denn auch wenn die Chiffren Amok - Amoklauf - Amokläufer nicht zuletzt deshalb so eingängig und suggestiv wirken, weil immer ein archaischer Rest an Unerklärbarkeit, Geheimnisvollem und Rätselhaften aufscheint und das Signalwort: Amok vermutlich aus diesen Gründen immer wieder verwandt werden mag - es fehlten zumindest zwei entscheidende und konstitutive Momente von Amoktätern: Einmal das ungeplant-rauschhafte Element der Tat selbst und zum anderen die überwiegende Zufälligkeit der Opfer. Und wenn wir auch nicht alles wissen (können) über den 19jährigen Erfurter und das, was ihn zu seiner Tat am 26.April 2002 antrieb (und vermutlich auch im kriminologischen Sinn weder das Tatgeschehen selbst noch die Beweggründe des Täters jemals vollständig rational werden aufklären können): Ein A m o k l a u f war´s sicherlich nicht.

Das trifft ebenso zu auf eine weitere Chiffre, die immer öfter zur Kennzeichnung dieses und vergleichbarer Ereignisse/s benutzt wird M a s s a k e r. Dieses Konzept ist aus politisch- militärischen Handlungsfeldern vor allem der letztbeiden Jahrhunderte entlehnt und meint meist ideologisch -typischerweise rassisch-ethnisch oder biopolitisch- begründete, politisch begünstigte und militärisch durchgeführte Massentötungen an vorher eindeutig definierten Opfern bzw. Opfergruppen. Deshalb können “kleine” Massaker von Historikern auch als Vorformen späterer “großer” Völkermorde angesehen werden6.

Demgegenüber bietet sich zur angemessenen Kennzeichnung auch des Erfurter Ereignisses vom 26.April 2002 die Verbindung zweier weiterer und durchaus geschichtlich neuer Formen individuellen Vernichtungshandelns einzelner Täter, die zunehmend planvoll ihre Opfer wählen und gezielt töten, an: Einmal der unvorhergesehene - vielleicht sogar unvorhersehbare- plötzliche Mord an zahlreichen Opfern -insofern: “plötzlicher Massenmord”. Und zum anderen die zunehmende jugendliche und Schülergewalt im und um den Handlungsort Schule -insofern: “Schulmord”.

Wobei es (wie gleich an wenigen Beispielen zu veranschaulichen sein wird) nicht um inzwischen zunehmende schul- bzw. schüleralltägliche Gewaltphantasien und latente Drohungen -auch und insbesondere gegen Lehrer/innen-, die meist durch körperliche Gesten und verbalen Schmäh ausgedrückt werden, geht. Vielmehr geht es um sich gleichfalls häufende wirkliche Zerstörungs- und Vernichtungshandlungen. Dies waren nach einer (vermutlich nicht alle Fälle erfassenden, also unvollständigen) Zusammenstellung des “Kölner Stadt-Anzeiger” im Zweijahreszeitraum von Ende April 2000 bis Ende April 2002 in Köln fünf Fälle exzessiver Gewaltanwendung von Schülern mit Waffeneinsatz - geplante, jedoch vor Tatausführung entdeckte, “Schulmorde” eingeschlossen.

Zum Zusammenhang des “plötzlichen Massenmords” hat der Saarbrücker Kriminalpsychologe Christoph Paulus7 1997/78 ausgeführt, dass diese “privaten” Massenmorde an zumeist Unbeteiligten sinnnvoll zu unterscheiden sind von “Amoklauf” und Serienmorden. Paulus führt als ersten Tatfall die Bluttat eines Ex-Marinesoldaten und Studenten in Austin (Texas) an. Dieser ermordete am 31.7.1966 zunächst seine Mutter und seine Frau und setzte dann zu einem Sturmlauf mit Waffe auf dem Campus an, bei dem sechzehn Personen getötet und dreißig weitere, teilweise schwer, verletzt wurden.

Das erste -vom Autor als “Schulmassaker” bezeichnete- Vernichtungsereignis der hier letztinteressierenden Ereignisgruppe berichtet Rudolf H. Weiß 8 aus Levistown (Montana) 1986. Hier war der Mörder 16 Jahre alt. Als der bis um 26.April 2002 in Erfurt opferreichste “Schulmord” gilt die Tat in Littleton (Denver) aus dem Frühjahr 1999 mit fünfzehn Toten.

Und als das grauenhafteste Schulereignis in Deutschland wird die Ermordung von acht Schulkindern und zwei Lehrerinnen -darüber hinaus wurden weitere zwanzig Schüler/innen teilweise schwer verletzt- in Volkhoven (Rheinland) angesehen: Ein 42jähriger Frührentner drang am 11.Juni 1964 in eine Hauptschule ein und mordete mit seinem selbst zusammengebauten Flammenwerfer zuerst die Kinder und dann die beiden Lehrerinnen (mit einer Lanze), bevor er sich durch Pflanzengift selbst richtete.

Im übrigen gilt bei diesen unfassbar erscheinenden Taten wie bei allen Verbrechen: Ist die Tat erst einmal begangen, wird sie damit unwiderrufbar und irreversibel. Und ihr erneutes Vorkommen wird künftig wahrscheinlicher als die Eintrittswahrscheinlichkeit der ersten Tat je war. Nicht zuletzt deshalb müssen “nach Erfurt” gesellschaftliche Bedingungen und soziale Ursachen mehr als bisher interessieren, wenn und weil es darum gehen soll, diese Taten angemessen zu beschreiben, rational zu erklären und wo und wie immer möglich zu verhindern. Es ist dies ein konkreter Versuch, sowohl Unsichtbares sichtbar zu machen als auch Undenkbares zu denken und, mehr noch: typischerweise Unaussprechbares auszusprechen 9.

IV.

Zunächst aber kommen sie alle, die Hinweise, besonders derer, die sei’s die Antworten kennen bevor die Fragen überhaupt gestellt sind, sei´s immer schon alles gewusst haben wollen oder sei´s auch schon immer die ganz einfachen Antworten auf schwierige Fragen kannten. Und wie die hochentwickelte Medienmaschinerie, gleichsam wie geölt, “nach Erfurt” anlief so kursierten denn flugs jene “monokausalen” Deutungen aller “terribles simplificateurs”: Etwa in der Hauptrichtung, dass nicht nur ´die Medien´ Schuld seien an der allgemeinen Verrohung ´unserer Jugend´ - sondern dass im besonderen jene modernen computerisierten Spiele mit ihrem Suchtcharakter, etwa das fiktiv-tödliche “counterstrike- game”, entscheidend zur Erfurter Bluttat beitrugen...eingängig bestätigt vom Vater des Erfurter Lehrermörders, der zugestand: “Es ging [Robert] immer ums Schiessen, es ging ihm immer um Gewalt.”

[...]

Final del extracto de 19 páginas

Detalles

Título
Nur ein "Amokläufer"? - Sozialpsychologische Zeitdiagnose "nach Erfurt"
Autor
Año
2002
Páginas
19
No. de catálogo
V16515
ISBN (Ebook)
9783638213479
ISBN (Libro)
9783638909785
Tamaño de fichero
481 KB
Idioma
Alemán
Notas
Richard Albrecht ist Sozialwissenschaftler (Dr.phil., Dr.rer.pol.habil.) und lebt als Sozialpsychologe, Autor und Ed. von rechtskultur.de in Bad Münstereifel.
Palabras clave
Amokläufer, Sozialpsychologische, Zeitdiagnose, Erfurt
Citar trabajo
Dr. Richard Albrecht (Autor), 2002, Nur ein "Amokläufer"? - Sozialpsychologische Zeitdiagnose "nach Erfurt", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16515

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