Körperbehinderung im kulturellen und institutionellen Kontext - Eine Betrachtung am Beispiel Thailand


Epreuve d'examen, 2001

81 Pages, Note: 1.0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorwort.

1. Thematische Einführung
1.1 Einleitende Übersicht in bezug auf Problemorientierung und Aufbau der vorliegenden Arbeit
1.2 Begründung der Thematik
1.3 Einordnung der Arbeit als Beitrag einer „interkulturell vergleichende Sonderpädagogik“ in die wissenschaftliche Diskussion.
1.4 Methoden

2. Kultur und Behinderung
2.1 Begrifflichkeit und Definitionen
2.2 Soziale Wahrnehmung von Behinderten
2.3 Institutionen
2.4 Die vier Faktoren - ein Sichtungsschema

3. Körperbehinderung in Thailand
3.1 Faktor 1 - Das Land
3.1.1 Land und Geographie
3.1.2 Staatsform und Verwaltung
3.1.3 Sozioökonomische Struktur
3.1.4 Gesetzliche Grundlagen
3.2 Faktor 2 - Gesellschaft
3.2.1 Soziales System
3.2.2 Buddhismus
3.2.3 Geisterglaube
3.2.4Die Entstehung einer Behinderung aus Sicht des Buddhismus
3.2.5 Buddhistische Erziehung und Gesellschaft
3.3 Faktor 3 - Bildung.
3.3.1 Bildungssystem
3.3.2 Situation körperlich beeinträchtigter Kinder
3.3.3 Gesundheitssystem
3.4 Faktor 4 - Die aktuelle Situation körperlich beeinträchtigter Menschen
3.4.1Kulturwandel und Auswirkung auf die Situation körperbehinderter Menschen

4. Zusammenfassendes Schlusswort

Literatur

Anhang

Vorwort

How can we learn anything of Practical Value from the Study of Foreign Systems of Education “ - der Titel eines Vortrags, den Michael Ernest SADLER im Jahr 1900 hielt und in dem er erstmals Fragestellung und Problematik des jungen Fachgebiets „ Vergleichende Erziehungs-wissenschaft “ thematisierte und einer Kritik unterzog (vgl. SCHRIEWER 1982, S.189). Auch ich werde diese Frage aufgreifen, wenn ich mich mit der Thematik „Körperbehinderung in Thailand“ auseinandersetze. Vielmehr sehe ich aber in diesem, vor mehr als hundert Jahren gehaltenen Vortrag, ein hohes Maß an Aktualität. Durch Modernisierung und Technik wird unsere Welt immer „kleiner“. Wir leben und lernen mit Menschen anderer Länder und können uns alltäglich verschiedener kultureller Einflüsse erfreuen.

Unter der Berücksichtigung des hohen Anteils ausländischer Kinder an unseren Schulen, kann ein allgemeines Kulturverständnis sowohl der sonderpädagogischen Arbeit, dem Verständnis des Kindes, als auch der Beurteilung und dem Elterngespräch dienlich sein.

Die Erkenntnis, dass Behinderung selbst, wie auch alle Bemühungen Behinderung pädagogisch zu begegnen, kulturspezifisch mitbedingt sind, ist von anthropologisch weitreichender Bedeutung. Sie kann jedem spontanen Verstehen- und Helfenwollen eine wichtige Dimension vertieften Verständnisses hinzufügen “ (KLAUER/MITTER 1987, S. 3).

Mein Interesse an der Thematik Kultur und Behinderung besteht schon lange und entwickelte sich aus dem Kontakt mit Menschen verschiedener Nationen. Geprägt durch das sonderpädagogische Studium und den Erfahrungen im Ausland entwickelten sich Fragen, die ich, für mich persönlich, in der deutschsprachigen Literatur nicht ausreichend beantwortet sah.

Gerade die Betrachtung einer traditionellen Kultur, wie Thailand, in Bezug auf sonderpädagogische Fragestellungen scheint die aktuelle Forschung nicht sehr zu beschäftigen. Die Auswahl geeigneter Literatur und aufschlussreichen Daten bezüglich körperbehinderten Menschen in Thailand ist, wenn man nach Übersetzungen verschiedener Wissenschaftsbereiche sucht, nicht sehr groß. So werden sonderpädagogische Fragestellungen, von thailändischer Seite, noch nicht sehr lange thematisiert und liegen im Vergleich zum westlichen Forschungsstand noch in den Anfängen der wissenschaftlichen Bearbeitung. Schwierigkeiten der Datenerhebung, bzw. die widersprüchlichen Zahlen thailändischer Ämter und zudem die Problematik Primärliteratur zu finden, weckten in mir ein wachsendes Interesse.

Die Erkenntnis, dass es in Thailand kein sonderpädagogisches Forschungsgebiet, viel weniger auf den ersten Blick so gut wie keine sonderpädagogischen Einrichtungen gibt, scheinen interessante Aspekte in Bezug auf interkulturelle Variabilität zu bieten. Interessieren wird mich also weniger, welchen Lehrplan eine thailändische Sonderschule verfolgt oder welche Frühförderung ein Thailänder empfiehlt, sondern welchen Einfluss kulturelle Werte auf die Institutionalisierung sonderpädagogischer Maßnahmen und auf das Leben eines Menschen mit Körperbehinderung in Thailand hat.

Der Lesbarkeit halber wird in dieser Arbeit stets die männliche Form zentraler Personengruppen verwandt, selbstverständlich sind beide Geschlechter angesprochen.

1. Thematische Einführung

1.1 Einleitende Übersicht in bezug auf Problemorientierung und Aufbau der vorliegenden Arbeit

Die vorliegende Arbeit soll am Beispiel Thailand übergreifende und insofern allgemeine Möglichkeiten aufzeigen, Körperbehinderung im kulturellen Kontext zu begreifen. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, ein Konzept zu entwickeln, das die interkulturelle Variabilität bestimmter Faktoren beschreibt, die das Leben eines körperbehinderten Menschen im wesentlichen beeinflussen.

Zugrunde liegt die Frage nach dem Einfluss kultureller und institutioneller Voraussetzungen auf die Situation körperbehinderter Menschen.

-Welches Verständnis haben Menschen einer anderen Kultur von dem, was wir in unserer „westlichen Welt“ als Behinderung bezeichnen ?
-Welchen politischen Stellenwert hat sonderpädagogisches Verständnis in diesem Land?
-Welche Einfluss haben kulturelle Werte auf das Leben von Menschen mit einer Behinderung ?

Diese Fragen müssen zunächst sehr allgemein beantworten werden, um dann Gegenstand der Untersuchung Thailands zu werden.

Warum beschäftigt sich diese Arbeit nicht mit einem westlichen, der eigenen Kultur nahen Land, sondern mit einer fremden, traditionell orientierten Kultur? Eine Frage, die sich wie zwanghaft zu stellen scheint, sich bei genauerer Überlegung jedoch selbst beantwortet. So hoffe ich ja gerade durch Betrachtung einer fremden Kultur, wichtige Erkenntnisse für das Verständnis der eigenen Kultur zu erhalten.

Neben dem eigenen Interesse, das durch verschiedene Beobachtungen im Land entstanden ist, lässt das „Untersuchungsdesign“ NIEDERMEYERs - das die Auswahl des zu untersuchenden Landes zu bestimmen hilft - bei vorliegender Fragestellung nur einen Schluss zu:

„...[Bei] der Überprüfung grundsätzlicher Hypothesen [...] sollten möglichst unterschiedlicher Kulturen gewählt werden.“ (NIEDERMEYER 1983, 312f; vgl. auch TROMMSDORFF 1978, 363). So sollte bei der Überprüfung einer bestimmten Hypothese wie z.B. „Das Lernverhalten ist abhängig von klimatischen Bedingungen“, möglichst gleiche Kulturen, die sich im besten Fall nur durch unterschiedliches Klima unterscheiden, untersucht werden. Der vorliegenden Arbeit liegen jedoch sehr allgemeine Hypothesen zugrunde, die eine Betrachtung einer fremden Kultur verlangen:

-Die soziale Rolle der Menschen mit Behinderung ist interkulturell variabel.

-Behinderung ist das Ergebnis der Interaktion zwischen einem Menschen mit einer Schädigung oder Beeinträchtigung und der sozialen, kulturellen oder physischen Umgebung, die ihn daran hindern kann, seine Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen.

Diesen Hypothesen übergeordnet, sozusagen auf einer Metaebene zu betrachten, ist die Fragestellung nach den Grenzen und dem Nutzen interkulturell vergleichender Studien, die sich mit einer sonderpädagogische Fragestellung in traditionell orientierten Kulturen befassen. Die Antwort ist zu Beginn der Arbeit noch nicht ersichtlich und soll, dem Ergebnis entsprechend, am Schluss erneut aufgegriffen werden.

Mit diesem Versuch, Körperbehinderung interkulturell und institutionell am Beispiel eines traditionellen Landes zu begreifen, wird jedoch ein relativ neues, bzw. mit dem Untersuchungsfeld Thailand unerforschtes Terrain innerhalb der vergleichenden Sonderpädagogik erschlossen. Aus diesem Blickwinkel besteht die erste Hürde dieser Untersuchung deshalb darin, einen geeigneten Theorierahmen zu laborieren. Da ich zu diesem Zweck auf keine vorhandenen Entwürfe zurückgreifen kann, d.h. meine Recherche nach vergleichbaren Ansätzen ergebnislos verlief, ist sicherlich die Frage offen, ob sich alle Elemente, die zur Darstellung des Themas nötig erscheinen und in beschwerlicher Kleinarbeit rekonstruiert werden müssen, letztendlich sinnvoll zusammenfügen. Dem Anspruch auf Vollständigkeit kann im Rahmen dieser Examensarbeit nicht nachgekommen werden, wohl aber dem Anspruch das Gebiet der vergleichenden Sonderpädagogik durch Wissenschaftsgebiete zu erweitern, um so die Fragestellung individuell zu bearbeiten. Gleichzeitig zeigt sich aber der Vorteil, durch den interdisziplinären Charakter dieser Arbeit, neue Denkweisen zu entwickeln und den Begriff „Behinderung“ in verschiedene Dimensionen zu stellen.

Für die Wahl des zu beschreibenden Landes ist neben der erheblichen kulturellen Differenz die Tatsache, dass Thailand in seiner Geschichte niemals kolonialisiert war, vorteilhaft, da „manche Kulturelemente durch Diffusionsprozesse von anderen Kulturen übernommen werden, so dass es sich nicht um völlig unterschiedliche Kulturen handeln muss.“ (NEUBERT/ CLOERKES 1987, 23)

Als wesentliche Kriterien zur Bestimmung kultureller Unabhängigkeit werden geographische Distanz und die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Sprachgruppen genannt (vgl. SCHWEIZER 1983, 427 ff).

Gerade dieser kulturelle Unterschied wirft jedoch berechtigte Fragen auf, über die Gültigkeit des Vergleichs, den Nutzen, sowie die Möglichkeit einer Übertragung in das eigene Land. Diese Fragen sollen mit der Methodik im Kapitel 1.4, die „ den Weg des wissenschaftlichen Vorgehens “ (SEIFFERT 1992, 12) erklärt, und der Einordnung der Arbeit in die wissenschaftliche Diskussion - im Kapitel 1.3 - angemessen beantwortet werden.

Kap. 1.3 dient außerdem der Vorstellung des Fachgebiets „ Interkulturell Vergleichenden Sonderpädagogik “, zu dem sich diese Arbeit zählt. Ein kurzer Diskurs durch die Aufgabenbereiche und Ziele kann einen Eindruck über den aktuellen Forschungsstand geben. Das Anliegen der Arbeit kann somit - durch Abgrenzung der vorherrschenden Ziele und Aufgabenfelder - verdeutlicht werden.

Hierauf folgt - zu Beginn des zweiten Kapitels und als Grundlage der weiteren Ausführungen - eine Erläuterung der wichtigsten Begriffe und Definitionen. Ziel der Begriffsentwicklung ist es, wesentliche Phänomene innerhalb der verschiedenen Kulturen einem umfassenden Vergleich zugänglich zu machen. BÜRLI weist auf die großen semantischen Schwierigkeiten im internationalen Vergleich hin (BÜRLI 1997, 30).

Gerade Thai (Thailands Schrift und Sprache) unterscheidet sich in vielen Bereichen von der Deutschen Sprache. Um die Gültigkeit der englischen Übersetzungen nicht zu gefährden, werde ich diese im Original zitieren. Wir müssen aber davon ausgehen, dass nun durch die Übersetzung, der Wortlaut, das Vokabular und die Grammatik und somit der Sinngehalt westlich geprägt ist (vgl. Kap. 2.1).

Das zweite Kapitel behandelt die Thematik „Kultur und Behinderung“. So erhält der Leser tiefere Einsicht in die Aspekte der Wahrnehmung von Behinderung und die Interkulturelle Variabilität der sozialen Reaktion auf körperbehinderte Menschen[1] in Kapitel 2.2.

Die Institutionalisierung von Einrichtungen für Behinderte ist ebenfalls interkulturell variabel und kann Aufschluss über den politischen und gesellschaftlichen Stellenwert sonderpädagogischer Fragestellungen geben (vgl. Kap. 2.3). Das zweite Kapitel behandelt somit schon wichtige Faktoren, die die Situation körperbehinderter Menschen, bzw. eine Körperbehinderung im kulturellen Kontext eines fremden Landes, beschreiben.

Der Aufbau des dritten Kapitels und damit auch die Darstellung der Situation körperbehinderter Menschen in Thailand, orientiert sich nun an vier Faktoren, die ich in 2.4 skizzieren möchte. Anhand dieser Faktoren soll versucht werden, aufbauend auf die Ausarbeitung der vorherigen Kapitel, die sonderpädagogische Situation in Thailand zu erklären und damit das kulturelle Verständnis und das Verhalten der Gesellschaft gegenüber Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu analysieren.

Die Faktoren dienen der Strukturierung und bieten somit die Möglichkeit, die Verstrickung einer Person mit Behinderung in ihrer sozialen und physikalischen Umwelt zu ordnen und transparenter zu machen. Des weiteren soll aber auch einem gewissen Anspruch der Übertragbarkeit dieses Konzeptes auf andere Länder Rechnung getragen werden und setzt somit ein hohes Maß an allgemeiner Gültigkeit voraus. Diese zu belegen fehlt es mir, zum jetzigen Zeitpunkt, an Möglichkeiten der empirischen Forschung. Ich beziehe mich deshalb auf die Einflussfaktoren, die NEUBERT und CLOERKES nach Analyse der Erklärungsversuche für die interkulturelle Variabilität der Reaktionen auf Behinderte nennen:

Zu den Einflussfaktoren zählen die Art der Behinderung, ökonomische Bedingungen, magische Vorstellungen, Fremdenfurcht sowie eine Vielzahl von Werten (Gesundheit, Funktionstüchtigkeit, Intelligenz, körperliche Integrität, etc.)“ (NEUBERT/CLOERKES 1987, S.15).

Aber auch die Umweltfaktoren, die nach der ICIDH wesentlichen Einfluss auf die Funktionalität haben (vgl. Kap. 2.4) werden berücksichtigt.

Das vierte Kapitel kann die anfangs erstellten Hypothesen anhand der neu erworbenen Erkenntnisse diskutieren und die Ergebnisse der Arbeit kritisch reflektieren.

1.2 Begründung der Thematik

Diese Arbeit ist kein Erlebnisbericht, sie soll auch keinesfalls die in einem interkulturellen Projekt erlebten persönlichen Erfahrungen widerspiegeln. Die Bestandsaufnahme der sonderpädagogischen Situation in Thailand basiert lediglich auf dem persönlichen Interesse am kulturellen Vergleich, mit der Hoffnung, die Neugier des Lesers zu wecken und auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, durch die Umsetzung der Thematik einen eigenen praktischen Nutzen zu ziehen. Obwohl Thailand ein der westlichen Kultur äußerst fremdes Land ist, gibt es doch einige Punkte, die die Wahl, nach den oben genannten methodischen Argumenten, auch pädagogisch und mit dem Aspekt der Erkenntniserweiterung begründen. Die zum Vergleich notwendige Konfrontation der sich gegenüberstehenden Elemente fordert, neben der Beobachtung im fremden Land, die Kenntnis und sorgfältige Auseinandersetzung des eigenen Landes und dessen aktueller Situation. Das Interesse an der eigenen Situation ist, so denke ich, Vorbedingung für einen konstruktiven und offenen Blick auf die Situation anderer Kulturen.

Ein wesentliches Problem der Industrieländer ist, für mein Ermessen, dass beeinträchtigte Kinder und Erwachsene durch die herrschende Idealvorstellung nicht zuerst zu behinderten Kindern/Erwachsenen werden, wohl aber zu ausgesonderten, diskriminierten und benachteiligten. Es sei zu vermuten, dass diese Folgen schwerer wiegen als die ursprüngliche Behinderung. So bleibt die Frage:

Unterscheidet sich der behinderte Mensch vom Nichtbehinderten durch seine Symptomatik oder durch gesellschaftliche Definition?

Ferner werden behinderte Menschen in Deutschland durch ein relativ umfangreiches System institutionalisierter sonderpädagogischer Einrichtungen versorgt, das auf den Aspekt der „Stigmatisierung durch Rehabilitation“ hinterfragt werden sollte.

Gerade Sonderpädagogen können sich diese Fragen stellen, um behinderten Kindern zu helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Überdies hoffe ich, das mir vertraute sonderpädagogische System, die Institution Schule und Rehabilitation im „ Spiegel des Fremden “ (vgl. REIMANN 1991) zu betrachten, nämlich einem Land das - betrachtet man die geringe Anzahl der sonderpädagogischen Einrichtungen - der Integration oder der Rehabilitation und Förderung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen keinen hohen Stellenwert einzuräumen scheint. Die Betrachtung eines traditionsbewussten Landes, das sich mit Blick auf einen industriellen Aufschwungs westlich orientiert und in dem ein sogenannter „ Kulturwandel“ (BOESCH 1962) zu beobachten ist, könnte die Situation behinderter Menschen in unserem leistungsorientierten Industrieland, von einer anderen Seite beleuchten.

Im Bereich der Pädagogik und als angehende Sonderpädagogin empfinde ich es als überaus wichtig, mich meiner Verhaltensmuster, der Leitlinien und Motivation im Umgang mit behinderten Kindern bewusst zu werden, und mich repetierend kritisch damit auseinander zu setzen.

1.3 Einordnung der Arbeit als Beitrag einer „interkulturell vergleichende Sonderpädagogik“ in die wissenschaftliche Diskussion

Dem Themengebiet „ Sonderpädagogik und Dritte Welt“ sowie „ Interkulturell Vergleichender Sonderpädagogik “ wird ein zunehmendes Interesse innerhalb der sonderpädagogischen Diskussion im deutschsprachigen Raum entgegengebracht. Dieser Trend zeichnet sich - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - durch die Gründung von Seminaren und Arbeitsgruppen an verschiedenen Universitäten (wie z.B. Köln, Heidelberg, Oldenburg, Frankfurt/M.), durch überinstitutionelle Arbeitskreise, wie den „ Arbeitskreis Behinderung und Dritte Welt “, sowie eine Anzahl an diesbezüglichen Themenschwerpunkten in Fachzeitschriften, wie der „Zeitschrift für Heilpädagogik “.

Dies zeigt ein großes Interesse der sich wissenschaftlich verstehenden Sonderpädagogik in Deutschland, am internationalen Vergleich mit den Hauptaufgaben, Beiträge zur Erkenntniserweiterung, zur Politik- und Praxisberatung und zur internationalen Verständigung. (vgl.; KLAUER/ MITTER 1987; ALBRECHT 1993, S. 14) Die Basis aller vergleichenden Arbeit ist selbstverständlich die genaue Kenntnis über das zu beschreibende Land.

Auf unser Fachgebiet übertragen handelt es sich bei einer „Vergleichenden Sonderpädagogik“ darum, sonderpädagogische Länderkunde und die Diskussion einiger ausgewählter Problembereiche zu betreiben“ (ALBRECHT 1993, 14).

Diese „ Sonderpädagogische Länderkunde “ beinhaltet Untersuchungen, die das Auffälligwerden und die Wahrnehmung von Behinderten Menschen beeinflussen, ebenso wie Untersuchungen, aus welchem Grund und unter welchen Bedingungen besondere Maßnahmen der Integration Behinderter stattfindet und geht über die sonderpädagogische Bestandsaufnahme eines Landes hinaus. Sie stellt gewissermaßen „ die Grundlage des zu Vergleichenden “ dar (KLAUER/ MITTER 1987, S. 19).

Das Hauptziel dieser „ Vergleichenden Sonderpädagogik“ ist, die Erkenntnisse und Erfahrungen des Auslandes in die eigene Forschung und Lehre zu integrieren und daraus Rückschlüsse für sonderpädagogische und bildungspolitische Maßnahmen im eigenen Land zu ziehen (vgl. ALBRECHT 1993).

Diese angestrebte Zielrichtung - die eigenen Erkenntniserweiterung - spiegelt sich in Literaturanalysen des Fachgebietes wider. Die überwiegende Zahl der Beiträge beschäftigt sich in irgendeiner Weise mit Reformansätzen der Behindertenpädagogik, die in anderen Ländern entwickelt wurden und Vorbildfunktion für die deutsche Sonderpädagogik erhalten haben. Zu nennen seien die Integrationspädagogik, die Independent-Living Bewegung, das Normalisierungsprinzip, der Supported Employment- Ansatz. Bestimmte Länder wurden und werden mit dem Ziel der Erkenntniserweiterung dementsprechend häufiger als Objekt der Forschung genutzt. Am Beispiel der obengenannten Reformansätze sind das, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die USA, Italien, Schweden, Dänemark aber auch England, Kanada und Neuseeland.

Länder der sogenannten „Dritten Welt “ oder solche, die keine bzw. wenig sonderpädagogische Arbeit betreiben, scheinen - nach eigener Literaturforschung - für den interkulturellen Vergleich nicht interessant zu sein. Vielmehr wird hier die Hauptaufgabe auf die Rehabilitation behinderter Menschen dieser Kultur und der Prävention von Behinderung gelegt. Erkenntnisse werden also nicht von dem fremden Land in eigene übertragen, sondern eigene Erkenntnisse, wie Therapiemöglichkeiten, Lehrpläne, Unterrichtsformen, dem fremden Land angepasst und dort eingeführt. Die Betrachtung des anderen Landes geschieht dann in Form einer „Defizitanalyse“, die allerdings durch die Zahl behinderter Menschen in der sogenannten Dritten Welt[2] ausreichend Begründung findet (vgl. EIRENE 2000).

Die Diskussion über pädagogische Entwicklungshilfe wird von äußerst konträren Stimmen geleitet. P. FREIRE führte den Begriff der kulturellen Invasion ein, die dadurch gekennzeichnet ist, dass „ Eindringlinge in den kulturellen Zusammenhang einer Gruppe (...)“ eintreten, „ohne die Möglichkeit der letzteren zu respektieren. Sie drängen ihre Sicht denen auf, bei denen sie eindringen (...)“ (FREIRE 1991, 129).

Kann Sonderpädagogik in der Dritten Welt so gestaltet werden, dass kein einseitiges Belehren, sondern ein Austausch stattfindet, von dem alle Beteiligten profitieren?

Auch wir müssen dieser Frage nachkommen, wenn wir die unterstützenden - und sicherlich für die Gleichberechtigung aller Menschen auch notwendigen - Projekte internationaler Organisationen in Thailand betrachten.

Die Weltaktionspläne, mit größtenteils westlichen liberalen Konsens von Ansichten und Einstellungen, wie die „ Asien Pacific Deekade of Disabled Person “ oder „ Education for all “ der UNESCO, zeigen einerseits richtungsweisende internationale Zusammenarbeit, sind aber auch Zeugnis für unbeabsichtigten kulturellen Kolonialismus, der wenig die Geschichte und Anthropologie von Behinderung außerhalb der faktisch dominanten westlichen Kultur wahrnimmt. Auf die Ziele und Aufgaben der „ Sonderpädagogik Dritte Welt “ soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Wir werden jedoch noch einmal am Einfluss westlicher Organisationen in Thailand anknüpfen (Kap.3.1).

1.4 Methoden

Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag der „ Interkulturell Vergleichenden Sonderpädagogik“ und ist als Sekundäranalyse konzipiert, die bereits vorhandene Daten bearbeiten und unter einer bislang nicht gestellten Frage neu auswerten will (vgl. SELG/KLAPPROTT/KAMENZ 1992, S.40). Im Bereich der interkulturellen Forschung kann man dem größten Anteil der Arbeiten keine einheitliche theoretische und methodische Grundordnung zuordnen. Bei den Untersuchungen und dem Vergleich fremder Kulturen lassen sich jedoch zwei Grundpositionen feststellen, die sich in Vorgehensweise und der gewählten Perspektive unterscheiden.

1. Der ganzheitliche Ansatz, der die Methode des Vergleich durch die Hermeneutik bestimmt , „d.h. die Methode des „Verstehens“ durch Interpretation von Texten “( MITTER/ KLAUER 1987, S.12).
2. Der empirisch-analytische Ansatz, der nicht auf das Verstehen von Texten, sondern auf das Erkennen von Fakten und Trends, die sich überwiegend durch statistische Daten öffnen (ebd.).

Von diesen Ansätzen leiten sich eine Vielzahl an neuen oder wieder aufgegriffenen Denkanstöße ab. Unter anderem die Kombination verschiedener methodischer Komponenten, für die ROBINSON (1970) plädiert, und auf die sich die Methodik der vorliegenden Arbeit bezieht.

Das methodische Verfahren, welchem in dieser Arbeit einen übergeordneten Stellenwert zugeteilt wird ist der, von FROESE (1983) in die Diskussion eingeführte, implizite Vergleich. Der implizite Vergleich zeichnet sich durch die Darstellung von nur einem Land bzw. einer Kultur aus und verzichtet auf den systematischen Vergleich. Bei der Bestimmung der Vergleichskriterien bezieht sich der implizit vergleichende Verfasser aber auf sein eigenes, kulturell geprägtes Bildungswesen. Der eigentliche Vergleich vollzieht sich beim Leser und kann dementsprechend, in Abhängigkeit von Sozialisation und Vorstellung, variieren (vgl. BÜRLI 1997, S.35). Dieser methodische Ansatz begründet sich letztlich durch die Tatsache, dass die Arbeit den Anspruch verfolgt, „von außen“ Tatsachen, Entwicklungen, Situationen und Probleme einer „fremden“ Kultur zu ergründen, um dadurch wichtige Erkenntnisse für eigene Problemansätze zu erlangen. Auffallend ist, dass die bisher vorgelegten deutschsprachigen Studien zumeist „implizit vergleichend“ sind (vgl. z.B. KLAUER/ MITTER 1987; HEINEMANN 1990; MEISER 1995; ALBRECHT 1995; beispielhaft explizit vergleichend dagegen: NEUBERT/ CLOERKES 1987).

Die vorliegende Fragestellung ergibt sich gewissermaßen aus dem allgemeinen Interesse an Ursachen-Wirkungs-Abfolgen, also den Fragen, warum sich eine Person in bestimmter Weise verhält, warum man in bestimmter Weise reagiert. Die interkulturelle Darstellung kausaler Abhängigkeiten soll dementsprechend dependenzanalytisch orientiert sein. Dependenzanalysen[3], „dienen dazu, gesetzmäßige Beziehungen zwischen unabhängigen Variablen (UV) und abhängige Variablen (AV) zu erfassen“ (SELG, KLAPPROTT, KAMENZ 1992, 53).

UV sind die Größen, die in der Forschung möglichst systematisch und kontrolliert variiert werden können, um ihren Einfluss auf die AV zu untersuchen.

Es sollen nun Erkenntnisse über die Abhängigkeit kultureller und institutioneller Gegebenheiten eines Landes[4], als AV, und der Situation körperbehinderter Menschen, als UV, erlangt werden. Der Ansatz zu Dependenzanalyse soll auch nur als eben solcher betrachtet werden, und kann verdeutlichen, dass diese Arbeit interdisziplinär zu betrachten ist und sich in Anlehnung an Nachbardisziplinen wie Soziologie, Ethnologie, Psychologie, u.a. Erkenntnisse für die eigene sonderpädagogische Arbeit erhofft.

Die Untersuchungen stützen sich weitgehend auf statistische Erhebungen, gesetzlichen Bestimmungen und eigenen Erfahrungen in Thailand.

2. Kultur und Behinderung

2.1 Begrifflichkeit und Definitionen

Um Körperbehinderung in einen kulturellen und institutionellen Kontext zu beschreiben und zu analysieren, ist es erforderlich, vorab zu verdeutlichen, was genau unter diesen Termini zu verstehen ist.

Vergleichbarkeit ist nur dann gewährleistet, wenn sichergestellt ist, dass in allen Kulturen das gleiche Phänomen gemeint wird“ (NEUBERT/ CLEURKES 1987, S. 21).

Zu Körperbehinderungen sollen hier Andersartigkeiten, aufgrund von Veränderungen der Körperform, der Gliedmaßen und des Kopfes, mit oder ohne Bewegungsbeeinträchtigung gezählt werden. Wir betrachten also Menschen, die durch Schädigung von Geh- und Stützapparat beeinträchtigt sind oder deren äußere Erscheinung eine Beeinträchtigung bewirkt.

Wenn wir nun von körperbehinderten Menschen sprechen, sprechen wir über Probleme der Daseinsentfaltung vor dem Hintergrund ihrer sozialen und physikalischen Umgebung. So kann eine Querschnittsgelähmte Person von vielen Faktoren behindert werden. Von dem Problem einen Arbeitsplatz zu finden ebenso wie der Schwierigkeit, mit dem Rollstuhl den Arbeitsplatz zu erreichen. Aber auch die Andersartigkeit anatomischer Strukturen oder Krankheiten (z.B. Aids) können eine Person in ihrer Daseinsentfaltung stören. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden auch diese bei uns als „ Behinderte “ bezeichnet. Das interkulturelle Verständnis setzt aber ein angemessenes Maß an Vergleichbarkeit voraus.

[...]


[1] Die Abhängigkeit der sozialen Reaktion auf Behinderte Menschen von der kulturspezifischen Ausformung der Werte und deren Vermittlung im Sozialisationsprozeß wird von zahlreichen Autoren betont. (Neubert/Cloerkes 1987)

[2] Die Who schätzt, dass die Zahl der Menschen mit mittelschwerer und schwerer Beeinträchtigung auf weltweit etwa 335 Millionen. Davon leben ca. 70% in Entwicklungsländern. Nur etwa 2-4% der Betroffenen stehen Rehabilitations- und Fördermöglichkeiten zur Verfügung.

[3] Ein Begriff, der den Forschungsmethoden der Psychologie zugeordnet werden kann.

[4] Das Sichtungsschema der vier Faktoren, soll die themenzentrierte Beschreibung eines Landes standardisieren.

Fin de l'extrait de 81 pages

Résumé des informations

Titre
Körperbehinderung im kulturellen und institutionellen Kontext - Eine Betrachtung am Beispiel Thailand
Université
University of Cologne  (Heilpädagogische Fakultät, Seminar für Sondererziehung und Rehabilitation der Körperbehinderten)
Cours
Körperbehindertenpädagogik.
Note
1.0
Auteur
Année
2001
Pages
81
N° de catalogue
V1659
ISBN (ebook)
9783638110273
Taille d'un fichier
585 KB
Langue
allemand
Annotations
Die Arbeit ist interdisziplinär zu betrachten und bezieht Nachbardisziplinen wie Soziologie, Psychologie, Ethnologie, u.a. mit ein.
Mots clés
Thailand, Kultur und Behinderung, Soziale Wahrnehmung
Citation du texte
Sabine Viviane Krämer (Auteur), 2001, Körperbehinderung im kulturellen und institutionellen Kontext - Eine Betrachtung am Beispiel Thailand, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1659

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