Der Verfasser, der über 30 Jahre lang an einem nordrheinwestfälischen Gymnasium unterrichtet hat, setzt fachübergreifend zwei Abiturtexte - aus der Zeit vor der Einführung des Zentralabiturs - aus seinen Unterrichtsfächern Französisch und Geschichte in Beziehung, vergleicht und interpretiert sie. Dabei sind die Textsorten höchst unterschiedlicher Natur: hier ein Auszug aus einem französischen Roman, dort eine Notiz aus einem Tagebuch: Fiktion und Wirklichkeit scheinen in einem unversöhnlichen Spannungsverhältnis zu liegen. Gemeinsam jedoch ist beiden Texten der historische Kontext ihres Inhalts (nicht ihrer Entstehung!): zum einen die persönlichen Bemerkungen eines Zeitgenossen über die Radio-Übertragung des so genannten Tages von Potsdam (21.3.1933),zum andern der Abschied Jugendlicher von ihren Eltern, mit denen sie bisher gemeinsam in ihrem Haus in Südfrankreich gelebt haben, das jetzt von deutschen Soldaten besetzt und bezogen wird. Der Verfasser zieht nun beide Texte heran, um an ihnen den Erwartungshorizont einer guten bis sehr guten Prüfungsleistung zu skizzieren, ohne dabei konkret auf die Fragen nach der Prüfungsart (schriftlich-mündlich), der Art der Kurse (GK-LK), den unterrichtlichen Voraussetzungen und den Anforderungsniveaus in den 16 Bundesländern eingehen zu können, deren Leistungsunterschiede bekanntlich im Einzel- und im Extremfall eineinhalb Schuljahre betragen.
Zur Interpretation von Ambivalenzen - Zwei Texte und ihre Affinitäten
Mit der Einführung des Zentralabiturs ab dem Jahre 2007 geht auch für viele Lehrer in NW eine Epoche zu Ende: Sie werden der zuständigen Schulbehörde – der jeweiligen Bezirks-regierung – keine eigenen Vorschläge für die schriftliche Abiturprüfung mehr vorlegen. Die einen werden sagen: Wir brauchen es (Gott sei Dank!) nicht mehr; die anderen werden vielleicht denken: Wir dürfen es (leider) nicht mehr. Für alle wird es eine enorme Arbeitsersparnis sein; für manche (viele?) wird außerdem der aufreibende Ärger mit der Schulaufsicht über Art und Umfang der geforderten Leistungen vorbei sein. Auf der anderen Seite ist die mit Chancengleichheit begründete Normierung der Prüfungsaufgaben nur die eine Seite der Medaille; auf die andere – nämlich auch eine Bewertungsgerechtigkeit durch anonymisierte Fremdkorrekturen zu erreichen – hat man verzichtet. So wird es zwar im Gymnasium X in der Stadt A und im Gymnasium Y in der Stadt B dieselben Themen oder Aufgaben und damit dieselben Anforderungen geben, aber bewertet wird doch wieder durch die Fachlehrer, die zuletzt für den Unterricht der Schüler der 13. Jahrgangsstufe verantwortlich waren.
Bis zu einem gewissen Grad kann man – auch und gerade als Lehrer – den Verlust der individuellen Überlegungen bedauern, die man in der Qualifikationsphase anstellt, um z.B. als Historiker möglichst hervorragend geeignete Quellen aus den behandelten Unterrichts-gegenständen für das Abitur aufzusparen, um dann in der Schlussphase entsprechende Aufgaben und Leistungserwartungen zu formulieren, von denen man immer hofft, sie mögen in der kontrollierenden und letztlich das ganze Vorschlagspaket absegnenden Schulbehörde Begeisterungsrufe provozieren. Denn diese höchst persönlichen und doch von den jeweiligen Richtlinien getragenen Texte und Aufgaben spiegeln ja sachliche und thematische Präferenzen des Individuums „Lehrer“ und gegebenenfalls auch der an einer Schule unterrichtenden Kollegen wider, die sich über Jahre hinweg in Fachkonferenzen – gegebenenfalls auf dem Hintergrund eigener Schulprogramme – auf bestimmte Akzentuierungen zumeist stofflicher Art geeinigt haben.
Wenn man über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren Abiturvorschläge macht, darüber mit Kollegen berät und Abituraufgaben von Dritten liest, stellt man als Philologe und Historiker à la longue gewisse Präferenzen für Themen und Textsorten, für Autoren und literarische Gattungen fest. Wenn wir als Lehrer oft – zumindest implizit – davon ausgehen, Schüler würden sich für dieselben Sachverhalte und Probleme interessieren wie Erwachsene und wenn wir ihnen eine Beurteilungsfähigkeit zubilligen oder zumuten, die man normalerweise erst mit einer gewissen Reife und Erfahrung erwirbt, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie dem einen oder anderen zu bearbeitenden Text mit weniger Enthusiasmus als wir begegnen oder nicht erkennen, worum es in ihm letztlich geht. Viele Kollegen haben aufgrund lang- jähriger Erprobung und Erfahrung mit ihrer Art der Aufgabenstellung erfolgreich gearbeitet. Zur Wahrung der Diskretion kann dies hier nicht konkreter erläutert werden. Dabei geht es mehr um den Schutz der Personen als um die entsprechenden „Sachen“, ist doch deren Geheimhaltung aufgrund der oben angedeuteten bildungspolitischen Veränderung (Zentralabitur ab 2007 in NW) nicht mehr erforderlich.
Zur Erreichung einer Primärmotivation, sich mit dem ihm vorliegenden Text auseinander-zusetzen, und zur Ermöglichung einer Identifikation des Schülers mit dem jeweiligen Prota-gonisten und seiner Problemstellung habe ich gelegentlich im Fach Französisch Auszüge aus Romanen mit einem jugendlichen „Helden“ – nach Möglichkeit in der Form der Ich-Erzählung – bearbeiten lassen. Das zentrale Problem konnte entweder individual- bzw. sozial-psychologisch (z.B. Generationenkonflikt) begründet sein oder außerhalb seines direkten Handlungsfeldes liegen, z.B. wenn der gesellschaftliche oder politische Hintergrund brisant ist und den Protagonisten in Konflikte geraten lässt oder / und vor Entscheidungssituationen stellt. Erhöhte Anforderungen ergeben sich durch die Analyse textspezifischer Merkmale eher formaler Natur, die eine bestimmte Erzählhaltung (-perspektive), die ironische Distanz oder das gespannte Verhältnis zwischen erzählendem und erlebendem Ich sein können. Gerade Stilisierung und Ästhetisierung als Aspekte der Bearbeitung literarischer Texte sind unverzichtbare Anforderungen im Leistungskurs, auf deren Erreichen im Unterricht langfristig und gründlich hingearbeitet werden muss.
In dieser Hinsicht scheint die Textsuche im „trockeneren“ Fach Geschichte schwieriger und weniger erfolgversprechend zu sein. Der unvoreingenommene Leser denkt vielleicht an dokumentarische Quellen, an Akten, Verträge und dergleichen. Aber schon politische Reden oder Briefe – nicht unbedingt leichter zu bewältigen – bringen eine persönlichere Variante ins Spiel, die bestimmten Schülergruppen den historisch-analytischen Zugang erleichtert. Eine gewisse Steigerung hinsichtlich des Grades der „Persönlichkeits“-Komponente der Quelle liegt wohl mit der Gattung Tagebuch[1] vor. Per Zufall bin ich vor einer Reihe von Jahren auf das Opus von Erich Ebermayer[2] gestoßen, aus dem ich folgende – mit „Leipzig, 21. März 1933“ überschriebene - Eintragung ausgewählt habe:
(…) Am Vormittag Übertragung der Feiern in Potsdam über den Rundfunk. Alles geschickt, eindrucksvoll, ja hinreißend, jedenfalls für die Massen. Aber auch wir können und dürfen die Augen nicht verschließen vor dem, was hier geschieht. Heute und hier gelang die Vermählung, wenn nicht für ewig, so doch auf Zeit, zwischen den von Hitler geführten Massen und dem ‚Geist von Potsdam’, dem Preußentum, repräsentiert durch Hindenburg.
Welch großartige Inszenierung durch den Meisterregisseur Goebbels! Die Fahrt Hinden-burgs, der Regierung und der Abgeordneten geht von Berlin bis Potsdam durch ein einziges geschlossenes Spalier jubelnder Millionen. Ganz Berlin scheint auf der Straße zu sein. Regierung und Abgeordnete gehen von der Nikolai- zur Garnisonkirche zu Fuß. Glockenläuten und Kanonenschießen. Hindenburg betritt mit Hitler zusammen die Garnisonkirche. Der Rundfunksprecher weint fast vor Rührung.
Dann verliest Hindenburg seine Botschaft. Einfach, stark, aus schlichtem Herzen kommend und deshalb wohl zu schlichten Herzen sprechend. Allein die Tatsache, dass ein Mann dasteht, der Generationen deutscher Geschichte vereinigt, der 66 mitkämpfte, 71 bei der Kaiserkrönung in Versailles dabei war, 14 bis 18 zum Nationalhelden emporwuchs, dem keine verlorene Schlacht und kein verlorener Weltkrieg bei unserem merkwürdigen Volk etwas an Popularität nehmen konnten, den im Gegenteil erst die Niederlage zu mythischer Verklärung erhob, der dann als Greis noch einmal und schließlich ein zweites Mal die Führung des Reiches übernahm, nicht aus Eitelkeit oder Machtsucht, sondern zweifellos aus preußischem Pflichtgefühl – er vollzieht nun, kurz vor dem Grab, die Vermählung seiner Welt mit der neu aufgestiegenen, die der österreichische Gefreite Hitler repräsentiert.
[...]
[1] Vgl. Peter Hüttenberger, Tagebücher, in: B.A.Rusinek/V.Ackermann/J.Engelbrecht (Hg.), Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit, Paderborn: Schöningh (UTB 1674) 1992, S. 27-43.
[2] In Meyers Enzyklopädischem Lexikon, 9. Aufl. 1973, Bd. 7, S. 378, finden sich folgende Hinweise: „Ebermayer, Erich, geb. in Bamberg 14.9.1900, gest. in Terracina 22.9.1970, dtsch. Schriftsteller. Sohn von Ludwig E.; Rechtsanwalt. Im Mittelpunkt seiner kultivierten Unterhaltungsromane und Novellen stehen Menschen in Gewissensnöten. Er schrieb ferner Dramen und zahlreiche Drehbücher (u.a. „Traumulus“, „Canaris“). Hauptwerke: „Kaspar Hauser“, „Kampf um Odilienberg“, „Befreite Hände“, „Unter anderem Himmel“, „Der Schrei der Hirsche“, „Der letzte Sommer“, „Denn heute gehört uns Deutschland….“, „Verzeih, wenn du kannst“, „…und morgen die ganze Welt“.“ – Zu seinem Vater heißt es an derselben Stelle: „Ebermayer, Ludwig, geb. in Nördlingen 15.4.1858, gest. in Leipzig 30.6.1933, dtsch. Jurist. Senatspräsident am Reichsgericht, Oberreichsanwalt, Professor in Leipzig. Widmete sich v.a. der Strafrechtsreform; Mitbegründer des Kommentars „Reichs-Strafgesetzbuch (Leipziger Kommentar)“. Hauptwerke: „Strafrechtsreform“, „Arzt und Patient in der Rechtsprechung“, „Fünfzig Jahre Dienst am Recht“.“
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