Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Bisherige Entwicklung der EU-Türkei Beziehungen
3. Zum Konzept der Argumentationslinie
4. Vorpolitische Argumentation
4.1 Geographische Kriterien
4.2 Historisch-kulturelle Kriterien
4.3 Religiöse Kriterien
4.4 Die Europäische Identität als Kriterium
5. Politische und geostrategische Argumentation
5.1 Die Innenpolitische Situation in der Türkei als Kriterium
5.2 Ökonomische Kriterien
5.3 Geostrategische Kriterien
5.4 Europapolitische Kriterien
5.5 Demographische und migrationspolitische Kriterien
5.6 Die Folgen einer Absage als Kriterium
6. Fazit
7. Literatur
1. Einleitung
Am 17. Dez. 2004 haben die europäischen Mitgliedsstaaten nach vierzigjährigen Beitrittsbemühungen der Türkei einstimmig den Beginn der Beitrittsverhandlungen beschlossen, wobei ein Beitritt um das Jahr 2015 angestrebt wird. Wenn die Türkei gegen Vorgaben verstößt, können die Gespräche abgebrochen werden. Doch bisher haben solche Verhandlungen stets zur Aufnahme des Kandidaten geführt.[1]
Trotz der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen führt der mögliche Beitritt weiterhin auf EU-Ebene, im zwischenparteilichen sowie im innerparteilichen Diskurs zu heftigen Debatten. Kein anderes Beitrittsland hat bisher eine so große Beachtung wie die Türkei erfahren. Dies könnte daran liegen, dass der angehende Beitritt deutlich macht, dass es keine einheitliche Vorstellung von der EU gibt. Vielmehr hat das EU-Konzept viel Interpretationsspielraum gelassen. Manche Vorstellungen ergänzen sich, andere schließen sich gegenseitig aus. Interessant ist, dass oft Gegner und Befürworter dieselbe Idee von der Natur der EU vertreten, jedoch die einen mit der Türkei im Boot und die anderen ohne. Diese verschiedenartigen Vorstellungen der EU spiegeln sich in den Argumentationen wider und sollen in diesem Werk deutlich gemacht werden.
Dazu wird zunächst die bisherige Entwicklung der EU-Türkei Beziehungen betrachtet. Der Hauptteil beschäftigt sich mit den Argumentationsführungen. Diese werden in vorpolitische, politische und strategische eingeteilt. Bei jeder kurzen Aufnahme der geläufigen Pro- und Kontraargumente wird auf das Bild von der EU, das sich aus den Argumenten herauskristallisiert, eingegangen. Zuletzt werden die Vorstellungen aus den einzelnen Argumentationsschemata in Verbindung zueinander gesetzt, um ein Gesamtbild zu erlangen.
2. Bisherige Entwicklung der EU-Türkei Beziehungen
Die Türkei stellte am 31. Juli 1959 – bereits 2 Jahre nach Gründung der EWG – einen Antrag auf Assoziierung. Vier Jahre später, am 12. September 1963, wurde das Assoziierungsabkommen in Ankara unterzeichnet. In diesem waren die Schritte zur Vollmitgliedschaft festgelegt, welche die Errichtung einer Zollunion nach einer Vorbereitungs-, Übergangs- und Endphase bis zum 1. Januar 1995 sowie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ab dem 1. Dezember 1986 vorsah. Die Türkei sollte zudem für die Angleichung ihrer Wirtschaft an die Strukturen der EWG/EG Kredite sowie begünstigte Zolltarife von der Union erhalten.[2]
In den Siebzigern und Anfang der Achtziger Jahre verschlechterten sich jedoch die Beziehungen aufgrund der Besetzung Zyperns wie auch wegen der schwierigen innenpolitischen Lage der Türkei. Diese war vom Einzug einer islamistischen Partei ins Parlament und Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und den Regierungen geprägt, die in zwei Militärputsche eskalierten. Während sich in der Türkei 1980 ein Militärregime durchsetzte und daraufhin 1982 das Ankara-Abkommen offiziell zurückgestellt wurde, bewilligte die EWG die Anträge Griechenlands, Spaniens und Portugals[3] auf Vollmitgliedschaft aus politischen Überlegungen zur Stabilisierung der jungen Demokratien.[4]
Erst ab Mitte der 80er Jahre, nachdem sich die innenpolitische Lage in der Türkei wieder stabilisiert hatte, wurden die Beziehungen mit der EG wieder aufgenommen und im April 1987 beantragte auch sie die Vollmitgliedschaft. Obwohl ein Jahr später schließlich das Ankara-Abkommen wieder in Kraft trat, wurde das Beitrittgesuch 1989 abgelehnt. Als Grund für die Ablehnung wurde angeführt, dass die EWG aufgrund der bevorstehenden Vollendung des Binnenmarktes nicht in der Lage sei, Beitrittsverhandlungen in die Wege zu leiten. Außerdem wurde auf das wirtschaftliches Gefälle zwischen den EWG-Ländern, auf die fehlende Anerkennung der kurdischen Minderheitenfrage und vor allem auf Defizite in der Umsetzung der Menschenrechte aufmerksam gemacht. Jedoch schien die grundsätzliche Beitrittsfähigkeit nicht in Frage gestellt worden zu sein, sondern nur die Beitrittsreife. Trotz der Ablehnung war die EG an guten Beziehungen zur Türkei sehr interessiert, weshalb man sich zu einer erneuten Intensivierung der Zusammenarbeit im Rahmen des Assoziationsabkommens und einer Zollunion entschloss, die 1996 in Kraft trat.[5]
Allerdings verlor die Türkei mit dem Ende des Kalten Krieges ihre strategisch wichtige Rolle, die sie als Hüterin der südöstlichen Grenze Europas eingenommen hatte. Damit schwanden auch ihre Chancen auf eine volle Mitgliedschaft in der EG/EU. Hinzu kamen in Folge der Entkommunisierung in Osteuropa viele weitere Länder in die Warteschlange und die Prioritäten der EG lagen in Mittel- und Osteuropa. Die kulturelle Komponente, die zuvor keine wichtige Rolle eingenommen hatte, wurde plötzlich zu einer wesentlichen Beitrittsvoraussetung.[6]
Während der neunziger Jahre versuchte die Türkei wieder den Anschluss an die westlichen Staaten zu gewinnen, jedoch standen dem innenpolitische Probleme wie der Kurdenkonflikt, eine schleichende Re-Islamisierung und instabile Regierungen im Weg, was in Europa Vorbehalte hervorrief. Diese wurden während des Gipfeltreffens von Luxemburg deutlich, auf dem man zehn osteuropäische Länder zu Beitrittskandidaten erhob, während die Türkei übergangen wurde, obwohl sie sich im Vorfeld aufgrund der Vertiefung des Ankara-Abkommens und der Zollunion Hoffnung auf den Verleih des Kandidatenstatus machen konnte. Der europäische Rat begründete seine Ablehnung damit, dass die Türkei zwar für einen Beitritt in Frage komme, jedoch nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen nicht gegeben seien. Ankaras Reaktion war das Einfrieren der Beziehungen bis zum EU-Gipfel von Helsinki 1999, wo der Türkei der Kandidatenstatus zugesprochen wurde. Rein rechtlich ist die Vorraussetzung für die türkische Vollmitgliedschaft jetzt „nur“ noch die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien[7]. Dazu führte man 2001 eine große Verfassungsänderung durch und unternahm ein Jahr später weitere Anpassungsgesetze[8]. Auf dem EU-Gipfeltreffen Ende 2004 wurden zwar einige Mängel der Erfüllung der Beitrittskriterien aufgelistet, jedoch kam die Europäische Kommission zu folgendem Schluss:[9]
„In Anbetracht der allgemeinen Fortschritte im Reformprozess und unter der Vorraussetzung, dass die Türkei die oben genannten, noch ausstehenden Gesetze in Kraft setzt, ist die Kommission der Auffassung, dass die Türkei die politischen Kriterien in ausreichendem Maß erfüllt und empfiehlt die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen.“[10]
In Folge dieser ziemlich umstrittenen Empfehlung beschloss der Europäische Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ab Oktober 2005, wobei vor allem auf Österreichs Vorbehalte hin festgehalten wurde, dass die Verhandlungen einen offenen Ausgang haben sollten und keine Garantie für eine Aufnahme seien. Nichtsdestotrotz sind in den Monaten vor Beginn der Verhandlungen von verschiedenen europäischen Staatsmännern Bedenken geäußert worden, ob die EU einen solchen Beitritt verkraften würde und ob nicht eine „privilegierte Partnerschaft“ vorzuziehen sei.[11] Ungeachtet dessen konnten sich im Oktober 2005 alle 25 europäischen Mitglieder in Luxemburg auf den folgenden gemeinsamen Rahmentext einigen: „The shared objective of the negotiations is accession.“[12]
Jedoch räumte man den Kompromiss ein, dass am Ende der Beitrittsverhandlungen nicht nur geprüft wird, ob die Türkei die Beitrittskriterien erfüllt, sondern auch, ob die Europäische Union deren Aufnahme wirtschaftlich und politisch verkraften kann. Dadurch setzte man die Anforderungen und Vorraussetzungen für die Aufnahme so hoch wie noch nie zuvor für einen Kandidaten. Da die Türkei diesen Bedingungen umgehend zustimmte, konnten die Beitrittsverhandlungen wie vorgesehen formell noch am 3. Oktober beginnen.[13]
Seit diesem Zeitpunkt wird mit der Türkei über einen Beitritt zur EU verhandelt. Die Verhandlungen werden voraussichtlich über 10 Jahre dauern und ihr Ausgang ist noch nicht vorhersehbar.
3. Zum Konzept der Argumentationslinien
In den folgenden Kapiteln werden die Argumente näher betrachtet, die für oder gegen einen Beitritt der Türkei in die EU angeführt werden. Die Argumente können in vorpolitische, politische und strategische unterschieden werden, wobei sie sich teilweise auch überschneiden. Die vorpolitischen Argumentationslinien beziehen sich auf Kriterien, die als nicht wandelbar wahrgenommen werden, wie die Geographie, Geschichte, Religion und Identität. Die politischen Argumentationslinien hingegen beziehen sich auf die Frage der Wirtschaft und Demokratie in der Türkei mit besonderem Blick auf die Kopenhagener Kriterien und ihre Umsetzung. Die strategischen Argumente werfen ein Licht auf die Fragen, welchen Nutzen und welche Nachteile beide Seiten aus dem Beitritt ziehen würden und welche Wirkung er auf die Weltpolitik hätte. Darüber hinaus schließen sie auch migrationspolitische Argumente ein.[14]
Auffallend ist, dass alle Argumentationslinien sowohl für als auch gegen einen Beitritt angeführt werden können. So äußerte einmal der ehemalige französische Präsident Chirac, dass man zwar diskutieren könne, ob die Türkei geographisch ein Teil Europas sei, kulturell und historisch gehöre sie aber unbestreitbar zu Europa. Dieses Argument findet man aber oft auch in folgender Variante vor: die Zuordnung der Türkei sei vielleicht historisch und kulturell schwierig, jedoch gehöre sie geographisch eindeutig nicht zu Europa. Wieder andere wenden ein, dass die historische Zuordnung der Türkei ohnehin nichts zu bedeuten habe. So bleibt der Interpretation großer Spielraum und die Verfechter genauso wie die Gegner können sich die Argumente in ihrem Sinne „zurechtlegen“.[15]
Die folgende Betrachtung soll nicht die Pro- und Kontraargumente abwägen, sondern vielmehr darauf eingehen, welche Argumente bei der Debatte fallen und was diese über die Vorstellungen von Europa aussagen.
4. Vorpolitische Argumentation
4.1 Geographi sche Kriterien
Nimmt man die gängigsten geographischen Definitionen von Europa als Kriterium, liegt die südöstliche Grenze Europas am Bosporus. Die Verfechter eines türkischen Beitritts sehen aber an dem Beispiel Zyperns, das nur wenige Kilometer von der syrischen Küste entfernt ist, dass nach geographischen Kriterien die Grenzen Europas zu formalistisch gezogen würden und dass weitere Faktoren wie das Zugehörigkeitsgefühl zu berücksichtigen seien. Dahingehend müssten sich die Grenzen der Europäizität nicht mit denen des europäischen Kontinents decken, sondern könnten darüber hinausgehen.[16] In diesem Sinne scheint die bloße Negation auf die Frage schwierig, ob die türkische Republik ein Teil Europas sei, da sie schon immer im Kontakt mit den europäischen Großmächten stand[17] und 600 Jahre lang auf dem Balkan Fuß gefasst hatte.[18]
Dagegen kritisieren die Gegner einer Aufnahme der Türkei, dass mit der ersten „nicht europäischen“ Nation in der EU die Gesuche weiterer nicht europäischer Beitrittsaspiranten nicht mehr mit der Begründung abgelehnt werden könnten, es handle sich nicht um europäische Länder. Solche potentielle Antragssteller wären: Algerien, Marokko, Tunesien, Ägypten, Russland, Weißrussland, Ukraine, Israel, Libanon und Georgien.[19]
Das Bild, das uns in dieser Argumentationsführung von Europa vermittelt wird, stellt die geographischen Grenzen nicht in Frage. Die europäischen Grenzen, wie wir sie in der Schule beigebracht bekommen, liegen im Osten am Ural und im Südosten am Bosporus. Folgendermaßen befindet sich nur ein sehr kleiner Teil der Türkei in Europa. So verlautete der Altkanzler Helmut Kohl bezüglich des Türkei-Beitritts, dass er im Erdkundeunterricht gelernt habe, dass die Türkei in Asien liegt.[20] Dies offenbart jedoch nur, dass Grenzziehungen oftmals bewusst politischen Zielen dienen und dass geographische Grenzen im großen Maße von Weltsichten geprägt sind und nicht a priori existieren. Die Vorstellungen davon, was zu Europa gehört und was nicht, werden von den Medien, den Schulen usw. verbreitet und gefestigt und sind dementsprechend wandelbar.[21] So ist die Ostgrenze am Uralgebirge ein politisches Kalkül Peters des Großen gewesen, der damit den europäischen Teil Russlands größer erscheinen lassen wollte.[22] Aber auch, dass die Südostgrenze am Bosporus gezogen wird, hat keinen plausiblen Grund. So gehört das vom Bosporus östlich gelegene Zypern zu Europa, wohingegen der europäische Teil der Türkei nur circa 3% des türkischen Territoriums ausmachen soll.[23]
[...]
[1] König / Sicking, S.9.
[2] Österreichisches Institut für Europäische Sicherheitspolitik, S. 17f.
[3] Griechenland wurde 1981, Spanien und Portugal 1986 mit der Süderweiterung in die EWG aufgenommen.
[4] Madeker, S. 25f.
[5] König / Sicking, S. 31.
[6] Österreichisches Institut für Europäische Sicherheitspolitik, S. 25.
[7] Diese sind im Wortlaut folgendermaßen: "...Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können“
[8] Siehe Yilmaz, S. 61f.
[9] Österreichisches Institut für Europäische Sicherheitspolitik, S. 26-34.
[10] Ders., S. 34.
[11] Österreichisches Institut für Europäische Sicherheitspolitik, S. 34-38.
[12] Madeker, S. 28.
[13] Österreichisches Institut für Europäische Sicherheitspolitik, S. 38f.
[14] Diese Einteilung stützt sich auf Carnevale / Ihrig / Weiß, S. 57ff.
[15] Carnevale / Ihrig / Weiß, S. 58.
[16] Dies., S. 73.
[17] Yilmaz, S. 47.
[18] Leggewie, S. 44.
[19] Madeker, S. 121.
[20] Carnevale / Ihrig / Weiß, S. 72.
[21] Madeker, S. 136.
[22] König / Sicking, S. 88f.
[23] Österreichisches Institut für Europäische Sicherheitspolitik, S. 11.